Ägypten

Vorgaben
Es geht um einen Steuerbeamten im Alten Ägypten.
Dieser soll in irgendeiner Art mit dem Pharao agieren. Es soll sich zudem um eine pompöse Prozession handeln.

Gegenwart

Der Cursor blinkt in einer leeren Vorlage. Ich starre wie gebannt in den Monitor.
Moment, da war gerade ein ganz kurzes Flackern gewesen. Ein Hauch von Abweichung, kaum erkennbar. Jetzt wieder!
Der Cursor blinkte also nicht, er morste!
Was er wohl zu sagen hat?
Leider kenne ich das Morsealphabet nicht.
Seit fast zwei Monaten sitze ich nun an meinem Schreibtisch und habe noch nicht ein Wort, nicht eine Silbe, ja noch nicht einmal einen Buchstaben geschrieben!
Der Cursor morst bestimmt nicht, er lacht!
Ja, ich bin ganz fest davon überzeugt, er lacht mich aus!
Meine Nackenhaare sträuben sich regelrecht. Meine Muskulatur im Schulterbereich versteift sich…

Vor knapp zwei Monaten

Mein Kollege Ulf aus der Redaktion grinste mich spitzbübisch an.
„Kim, diesmal habe ich ein schöööööööönes Thema für dich ausgewählt!“
In meiner Zeitung hatte ich eine Kolumne erfunden, die hieß: „Was wäre wenn?“.
Ich rief regelmäßig meine Leser auf, mir Themen und Vorgaben für eine Kolumne zu schicken und ich sollte daraus dann einen Artikel verfassen. Nun ja, eigentlich eher eine Kurzgeschichte. Für mich galt jedoch so ein klein wenig die Journalistenehre, was Authentizität betraf. Ich recherchierte den Wahrheitsgehalt auch der kleinsten Details, welche ich in meinen Geschichten verwendete. So hatte ich z.B. einmal eine Geschichte geschrieben, welche im Mittelalter spielte, um ganz genau zu sein, im Jahr 1443. Dort hatte ich allein für die Stoffe, aus welchen damals die Bekleidung der Bediensteten geschneidert wurde, fast zwei Tage Recherche investiert.
Das Grinsen und das langgezogene „schön“ von Ulf verhieß, in Punkto Thema zur nächsten Geschichte, nichts Gutes. Eigentlich wählten wir die Themen immer gemeinsam aus, warum es diesmal anders war, wusste ich Augenblicke später.
Auf dem Leserbrief, welchen Ulf mir vor die Nase hielt, stand:
Es geht um einen Steuerbeamten im Alten Ägypten.
Dieser soll in irgendeiner Art mit dem Pharao agieren. Es soll sich zudem um eine pompöse Prozession handeln.
„Das ist doch für dich nun überhaupt keine Herausforderung, oder? Immerhin ist dein Mann Ägyptologe!“ Die Worte meines Kollegen verfolgten mich bis nach Hause.
Mein geliebter Ehemann David war einer der führenden Ägyptologen, wenn es um die Zeit des letzten Herrschers der altägyptischen 0. Dynastie Hor-nar-mer ging, bis hin zu König Menes, dem ersten Herrscher der 1. Dynastie. Entgegen der Meinung seiner von ihm sehr geschätzten Kollegen, handelte es sich nach Davids Auffassung dabei nicht um ein- und dieselbe Person. Mein Göttergatte meinte Hieroglyphen gefunden zu haben, die dieser These eindeutig widersprachen. Für mich waren das alles nur komische Schnitzereien in Steinen, Krügen und anderen Dingen. Und was noch viel schlimmer war, ich mochte Ägypten nicht. Sobald dieses Land in meiner Nähe auch nur erwähnt wurde, zog sich eine dicke Gänsehaut über meinen Körper. David meinte dazu scherzhaft, dass ich wohl in einem meiner Vorleben dort keine schönen Erfahrungen gemacht hatte.
Leider glaubte mein äußerst intelligenter und belesener Ehemann auch an Reinkarnation.
Obwohl, bei meiner Abneigung könnte es ja auch sein….
Als David das Thema für meine neue Kolumne sah, brach er in schallendes Gelächter aus. Und noch lauter lachte er, als er meine gemuffelte Antwort darauf hörte.
Es war etwas wenig ladylikes über das Thema, das Land und meinen Kollegen Ulf.
Letztlich meinte ich beleidigt, dass ich seine Hilfe nicht bräuchte und dass ich diesen Artikel schon allein auf die Reihe bekäme.

Gegenwart

Sanfte, liebevolle Hände beginnen meinen steifen Nacken und meine noch steiferen Schultern zu massieren.
David ist und bleibt mein Engel!
Am liebsten würde ich wie eine Katze schnurren!
„Liebes, hast du immer noch keine Idee?“, fragt er mich mit einem Kuss hinter mein linkes Ohr.
„Ich finde einfach nichts!“, jammere ich leise. „Egal in welche Richtung ich suche, entweder gibt es nichts über eine Prozession, die Steuereintreiber oder den entsprechenden Pharao zu finden!“
„Tssss,“, missbilligend zischt mein Mann leise über meine letzten Worte.
„Ja, ich weiß, es gab damals den Begriff Pharao nicht wirklich als Herrschertitel…“, flüstere ich entschuldigend, und Augen rollend.
„Genau, mein Schatz. Erst ab Thutmosis, dem III., König der 18. Dynastie, wurde das ägyptische Wort Per aa vereinzelt als Bezeichnung für den König verwendet. Siamun war der erste König, welcher Per aa als Königstitel trug, und dieser gehörte zur 21. Dynastie. Der Begriff Pharao entstammt der Bibel in hebräischer Sprache und wurde später auch von den meisten Ägyptologen fehlerhaft und regelrecht inflationär verwendet.“
„Hmpf.“, lautet die einzig mögliche Antwort auf die ägyptische Geschichtsstunde meines Ehemannes.
„Sag mal, mein Liebes,“, die wundervollen Hände Davids entspannen meine malträtierte Muskulatur immer weiter, als er mich fragt. „muss es denn zwingend wissenschaftliche Belege für deine Geschichte geben?“
Und meine Entspannung ist dahin, was David auch augenblicklich bemerkt.
„Du kennst meine Einstellung zu dem Thema!“, begehre ich auf. „Sicherlich, ich schreibe keine wissenschaftliche Abhandlung, jedoch sollte es schon Hand und Fuß haben, was ich da verfasse und du weißt, wie sehr mich die Geschichte mit dem schwarzen Loch geärgert hat, wo ich eine Zeitreise erfinden musste!“
Davids warme Hände massieren mich schier unermüdlich weiter. Ich möchte am liebsten schon wieder losschnurren.
„Du bist einen Kompromiss eingegangen.“, flüstert mir mein Mann zärtlich ins Ohr. „Und der Kompromiss war in sich stimmig.“
„Aber ein schwarzes Loch zerstört alles!“
„Nach dem heutigen Wissen…“, flüstert David erneut.
Aufseufzend bestätige ich: „Nach dem heutigen Wissen…“
„Ich habe einen Vorschlag für dich.“, versucht es David Augenblicke später erneut. „Lass mich dir eine uralte ägyptische Geschichte erzählen. Vielleicht kannst du etwas davon verwenden…“
Die zwei Küsse hinter mein Ohr lassen mich weich werden, also stimme ich David zu.
Mein Mann massiert mich noch ca. fünf Minuten weiter und dreht dann meinen Stuhl so, dass er sich mir gegenübersetzen kann.
„Es war einmal ein überaus umsichtiger und weiser Herrscher, welcher bei seinem Volk sehr beliebt war.“, beginnt David. „Der Herrscher, nennen wir ihn Menes, hatte einst die zwei ägyptischen Großreiche, nämlich Unterägypten und Oberägypten, vereint und in den ersten Jahren seiner Regentschaft bedeutete dies Wohlstand für seine Untertanen. Jedoch suchten nach den ersten fünf erfolgreichen Jahren erst lange Dürreperioden und dann drei Jahre Überflutungen seine Ländereien heim. Menes Untertanen mussten zusehen, wie das Korn auf den Feldern erst verdorrte und danach die überlebenden Pflanzen einfach weggespült wurden. Eine Hungersnot überfiel das Land und mit ihr Seuchen und Krankheiten. Alsbald konnten die Menschen in den verschiedenen Gauen, Verwaltungsbezirken, ihren Abgabepflichten an landwirtschaftlichen Gütern nicht mehr nachkommen, was wiederum zu drakonischen Strafen führte.
Menes haderte mit dem Schicksal seiner Untertanen und ließ alle seine Berater zu sich kommen. Doch weder der Wesir noch die Priester oder die Vorsteher oder irgendeiner der hochrangigen Beamten wusste Rat.
Es war letztlich ein junges Bürschlein, was bei seinem König vorsprach, der Rat wusste.
Umtat war ein kleiner schmächtiger Kerl und zählte erst wenige Wochen zu Menes Beamten. Er war am Nil groß geworden und zu schwach für die harte Arbeit auf den Feldern. Dank seines Vaters lernte er die Natur zu beobachten und erkannte frühzeitig, wie wichtig die regelmäßigen Überschwemmungen für das Ackerland waren. Doch auch in Dürrezeiten konnte der Vater noch Erträge auf seinen Feldern erzielen. Mit viel Geschick hatte Umtat nämlich eine Bewässerungsanlage gebaut, welche nur in den schwersten Dürreperioden kein Wasser führte. Er war gerade einmal neun Jahre alt, als er diese Anlage ersann.
Mit genau diesem Wissen trat Umtat nun vor seinen König. So berichtete das Bürschlein von den unterschiedlichen Wasserständen des Nils und den sich daraus ergebenden Ernteerfolgen. Umtat erzählte von der wechselnden Fruchtbarkeit der Ackerböden, je nachdem ob Dürre oder Flut sie heimsuchten. Er berichtete, dass sich am Wasserstand des Nils auch die Menge des Saatgutes berechnen ließ, welche für die nächste Ernte benötigt würde. Weiter zeigte er seine Bewässerungsanlage, welche er für den Vater hatte entworfen.
Und letztlich kam Umtat zu seiner Idee, wollte diese jedoch erst in der Gaue seines Vaters austesten, falls sie nicht funktionierte.
Für die Bauern wollte er eine Verbesserung bei den Abgaben einführen. Er wollte den Boden auf seine Fruchtbarkeit überprüfen lassen und danach erst den Abgabebetrag festlegen. Dabei hing alles vom Stand des Nils ab. Nur wenn der Nil viel Wasser mit sich trug, hinterließen die Überschwemmungen fruchtbaren Boden, die Reservebecken für die Bewässerungsanlagen würden volllaufen und es würde weniger Saatgut für eine äußerst ergiebige Ernte benötigt. So könnten mit höheren Abgaben die Speicher gefüllt, die Sklaven wohl genährt und das Volk wäre zufrieden. Trug der Nil zu wenig Wasser, konnte man auf die Wasserreserven zurückgreifen. Da auch mehr Saatgut benötigt würde, müsste man die Abgaben senken, damit die Bevölkerung nicht hungerte.
Um für den entsprechenden Abgabezeitraum sinnvolle Prognosen erstellen zu können, würde allerdings der Fluss beobachtet werden müssen. So konnte Umtat anhand des Nilstandes bewerten, ob es ein reiches Erntejahr werden würde oder nicht. Die Bauern würden nur noch auf ihre tatsächlichen Einnahmen Abgaben zahlen müssen.
König Menes war sofort begeistert von Umtats Vorschlag, bemerkte jedoch, dass vielen seiner Berater die Vorstellungskraft für dieses Projekt fehlte. War es doch seit jeher festgelegt, wer welche Abgaben zu zahlen hatte und wenn er dies nicht konnte, welche Strafen dann erhoben wurden.
Der König suchte sich einige zusammenhängende Gauen aus, in welchen er Umtat seine Idee testen lassen wollte. Außerdem stellte er Umtat noch weitere Beamte zur Verfügung, welche den Nil zu beobachten hatten.
In der Frist von drei Jahren wollte der König Resultate sehen und versprach Umtat ein großes Ansehen und jede Menge Gold und Silber, wenn er dem Volk helfen konnte.
Umtat machte sich sogleich an die Arbeit.
Nach drei Jahren trat Umtat erneut vor König Menes. Im ersten Jahr hatte es gigantische Ernteerträge und somit viele Einnahmen für den König gegeben. Im zweiten Jahr hatte eine schwere Dürre geherrscht und Umtats Gauen blieben fast alle steuerfrei. Im dritten Jahr gab es normale Ernteerträge.
Umtat brachte seinem Herrscher nicht nur die Abgaben seines Volkes, sondern erzählte auch, dass es bei ihm weniger Kranke und Tote durch die Dürre und die Hungersnot gab, als in anderen Verwaltungsbezirken in Ägypten. Die Abgabebefreiung verschaffte selbst den Sklaven genug zu Essen und so konnten die gut genährten Sklaven im dritten Jahr wieder kräftig zupacken. In den anderen Provinzen mussten die Schulden des zweiten Jahres noch beglichen werden und die kranken und verhungerten Sklaven mussten dort durch Neueinkäufe ersetzt werden.
Der König verglich Umtats Steuereinnahmen mit den von anderen Provinzen und stellte fest, dass diese höher waren als anderen zusammen.
So lobpreisten die Bauern Umtat und König Menes konnte die variable Steuerberechnung anhand des aktuellen Bodenwertes in allen Verwaltungsbezirken einführen.
König Menes kannte die Befindlichkeiten seiner höheren Beamten sehr wohl, wollte Umtat jedoch auch für seine Verdienste ehren. Also wandelte der König die Prozession zum Erntegebet in eine Ehrung für baku um. Entgegen der weitläufigen Meinung heißt baku jedoch nicht Abgaben oder Steuern, sondern Arbeit.
So lief bei der Prozession Umtat direkt vor den höchsten Beamten des Reiches und wilden Gerüchten zufolge wurde er mehr gefeiert als König Menes selbst.“
David zwinkert mir zu und ich beginne aus vollem Herzen zu lachen.
Ja, manchmal waren die geschichtlichen Hintergründe egal, manchmal ging es nur um eine gute Geschichte…

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