Alphabet der Zeit

Mein Name ist Sue, ich wurde am 03. Juni 1998 geboren. Meine offizielle Geburtszeit lautet 11:01 Uhr und ich stehe jetzt hier als 25jährige Frau vor einer Tür und traue mich nicht, durch sie hindurch zu gehen.
Natürlich kann sich kein normaler Mensch aus diesen spärlichen Daten meine Misere zusammenreimen, aber es fällt mir so schwer darüber zu sprechen, ja eigentlich schon schwer darüber nur zu denken.
Okay. Worum geht es?
Am besten beginne ich erstmal mit dem Ort, an welchem ich mich befinde.
Ich stehe vor einer Arztpraxis. Doc Nathan ist ein Arzt, der sich auf die sogenannten Rückführungen spezialisiert hat. Eigentlich ist der Doc ein ganz normaler Arzt, also richtig mit Studium und so weiter, aber als er seine drei besten Freunde durch Unfälle verloren hatte, suchte er nach Antworten. Und diese schienen ihm bei seiner eigenen Seelenrückführung gegeben worden zu sein.
Und das führt mich nun zu dem Grund, warum ich mich mit diesem esoterischen Kram beschäftige.
Am Tag meiner Geburt, um genau zu sein, 2 Minuten zuvor, kam es zu einem der größten und verheerendsten Zugunglücke in der Geschichte meines Heimatlandes. Nun werden Sie sich sicher fragen, na und?
Ich träume davon, so ausführlich als wäre ich dabei gewesen. Nach der ersten Nacht glaubte ich noch an einen Zufall, aber bis zu diesem Traum hatte ich vorher noch nie etwas von Eschede gehört, gelesen oder gar gesehen. Am Anfang wiederholten sich diese Träume sporadisch, doch irgendwann erschienen sie jede Nacht. Sie erschreckten und faszinierten mich gleichzeitig so stark, dass ich begann sie aufzuschreiben. Und irgendwann kam die Verbindung zu dem ICE-Unglück heraus. Ich recherchierte und traf mich sogar mit ehemaligen Rettungskräften und Ermittlern. Als ich ihnen meine Aufzeichnungen zeigte, brachen sie in Tränen aus. Jeder einzelne von ihnen meinte, dass alle Details zutrafen. Jede Sequenz meines Traumes war wahr! Selbst diese letzte Szene, die ich immer träumte, konnte mir einer der Ersthelfer bestätigen. Ich sah mich als junge Frau, vielleicht Anfang, Mitte Dreißig und meinen Mann, der ungefähr genauso alt war. Wir saßen uns gegenüber und hielten einander an den Händen, die Finger ineinander verschlungen, frisch verheiratet und innig verliebt. In meinem Traum saßen wir so da und sahen einander an, als das Leben in unseren Augen zur selben Sekunde erlosch. Den Mann konnte ich genau beschreiben, vom blond verwuschelten Haar, über seine kräftige Statur bis hin zu seinen strahlend blauen Augen. Der Ersthelfer hatte das Paar gefunden und bestätigte meine Beschreibungen. Er gab damit meinen Träumen eine Realität, die ich nicht erklären konnte.
An der Uni, ich selber studiere Medizin, hielt dann Doc Nathan einen Vortrag über Seelenwanderung und Reinkarnation. Als er seine Vermutung über die fehlende Aufarbeitung von Altlasten aus vorherigen Leben und die dadurch entstehende Zerrissenheit der Seele vortrug, wollte ich ihn als Scharlatan abtun. Doch es klang irgendwie alles so logisch. Immerhin träumte ich von einem Zugunglück dessen Details ich gar nicht kennen konnte.
Nach dem Vortrag bot Doc Nathan eine Art Probestunde an. Und ich fühlte mich irgendwie so von dem Ganzen gefesselt, dass ich hingegangen bin.
In dieser Rückführung stellte sich heraus, dass ich angeblich ein Leben im noch jungen Amerika hatte, als Sklavenjungen und Großgrundbesitzer! Das schien mir der größte Reinfall aller Zeiten! Doch ich schrieb die Geschichte auf und nannte sie bezeichnenderweise Yankee.
Jedenfalls war ich nach der ersten Rückführung enttäuscht, denn nichts, auch nicht der kleinste Hauch von Eschede war darin enthalten. Ich wollte mit diesem Quatsch aufhören, doch dann traf ich Doc Nathan noch mal auf dem Campus. Ein Student war in ihn hineingelaufen und hatte all seine Papiere zerstreut. Natürlich half ich ihm beim Aufsammeln, bis ich ein Bild griff und regelrecht versteinerte.
Es war ein Bild von dem Paar aus dem Zug! Sie waren zwei von Doc Nathans toten Freunden!
Letzten Endes landete ich so hier vor seiner Tür, mit dem nächsten Termin in der Tasche und Angst im Herzen.
Was würde ich heute sehen?

Sechs Monate später

Oh Mann, konnte ich das wirklich jemandem erzählen, und wenn ja, würde mir das jemand glauben?
Ich hatte nun schon einige Rückführungen hinter mir und Teufel ja, ich glaube daran.
Wie hätte es auch nicht sein können?
Doc Nathan hatte mir gezeigt, dass es immer wieder verschiedene andere Seelen in meinem Leben gegeben hatte, die meinen Weg kreuzten. Meine Brüder Dean und Sam, mein Ehemann Duke und selbst Doc Nathan tauchten immer wieder in der einen oder anderen Form auf. Mal waren sie meine Eltern, Kinder, Ehemänner oder -frauen. Mal waren sie in dem entsprechenden Leben lange mit mir verbunden, dann quälten oder töteten sie mich manchmal oder ich sie.
Ganz ehrlich, das Ganze kam mir langsam wie eine Fernsehserie vor, in welcher die beliebten Protagonisten immer wieder auftauchten. Nur das hier niemand fadenscheinige Gründe erfinden musste, warum sie nach ihrem Tod wieder auferstanden.
Mich verwirrten aber die verschiedenen Namen und Geschlechter meiner Wegbegleiter im Laufe der vielen Leben. Daher begann ich für jedes der Leben einen Zeitstrahl anzulegen. Oftmals konnte ich noch die Geburts- und / oder Todesjahre hinzufügen, manchmal auch die Todesursache, aber halt nicht immer.
Jede Rückführung ließ mich eine Weisheit oder eine Erkenntnis erfahren, die meine Seele heilte, ganz so als würden sich die zerrissenen Teile wieder zusammensetzen.
Vielleicht war alles, was Doc Nathan mit mir da anstellte nur Mumpitz oder Scharlatanerie, doch es sich fühlte richtig an.
Mal sehen, vielleicht würde die heutige Rückführung mich endlich Eschede näherbringen und ich könnte endlich frei atmen.

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