Angel war sich eigentlich sicher gewesen, dass sie am Bahnsteig stand und auf die Einfahrt des Zuges wartete, als sie sich in diesem furchtbaren Alptraum wiederfand.
Sie stand im Führerhaus des Zuges, den ihr Freund lenkte. Nun ja, Freund wäre zu hoch gegriffen. Ihre gegenseitige Bezeichnung lautete Mitschlafverhältnis. Wenn Frank in ihrer Stadt Aufenthalt hatte und Angel Zeit, verbrachten sie einige Stunden im Hotel. Das gab dem Ganzen zwar einen eher billigen Anstrich, aber beide wollten im Moment nicht mehr. Was sie verband, hatte mit Gefühlen wenig zu tun. Sie schliefen miteinander, nicht mehr und nicht weniger.
Angel sah Frank mit seinem Kollegen herum albern. Sie hörte ihre Unterhaltung, welche sich um sie selbst und die folgenden 12 Stunden drehte. Deftige Kommentare und anerkennendes Schulterklopfen vom Kollegen folgte.
Frank lachte auf. Er bewegte den tonnenschweren Zug mit schlafwandlerischer Sicherheit. Kurz vor der Bahnhofseinfahrt begann er den Koloss sanft, ja fast liebevoll, abzubremsen. Ein leichtes Zittern und ein langsames Anschwellen des Kreischens der Bremsen kündigte den Passagieren die Zugeinfahrt an. Immer noch lachend schaute Frank kurz über seine Schulter und rief seinem Kollegen zu, er möge sich bereit machen.
Angels Traumgestalt verließ das Führerhaus. Sie schwebte unmittelbar davor. Als hätte sie dieselbe Geschwindigkeit wie der Zug, behielt sie immer denselben Blickwinkel auf Frank, die Lok und die Gleise.
Plötzlich lenkte irgendetwas Frank vom Bremsen ab. Die enorme Geräuschkulisse, welche sich gebildet hatte, endete abrupt. Und für den Bruchteil einer Sekunde schien die Welt still zustehen.
Die Menschenmassen, welche sich über die drei unterirdisch angelegten Einkaufspassagen des Bahnhofgebäudes drängten, verharrten mitten in ihrer Bewegung. Nicht der Hauch einer Bewegung war sichtbar. Kein Ton zerstörte diese perfekte Stille.
In Angels Traum begannen Tausende von Bildern durcheinander zu wirbeln. Sie erkannte dennoch jedes einzelne in grausamer Schärfe.
Ein scheinbarer Urknall hob an in den Wänden zu ertönen und eine gewaltige Feuerbrunst begann sich, von dem fahrenden Zug aus, ihre Bahn zu brechen. Das Überfahren der letzten Weiche löste eine Explosion nie gekannten Ausmaßes aus. Das strahlende Lächeln in Franks Gesicht schien für einen Moment wie eingebrannt, dann verschwand seine Gestalt in der enormen Glut. Ein Meer aus Flammen verschlang den Zug und breitete sich ringförmig aus. Die Insassen schienen für einen kurzen Augenblick die Katastrophe zu spüren, um auch schon, im Moment des Bewusstseins, zu verbrennen.
Die Bahnsteige wurden von einer Feuersbrunst überrollt und die wartenden Menschen zerstört, wie einzelne Blätter vom Wind. Das Entsetzen hatte keine Zeit sich auf ihren Gesichtern auszubreiten, als sie auch schon erfasst wurden und wie welkes Laub ineinander zusammenfielen. Kinder, Frauen, Männer, Greise. Nichts und niemand wurde verschont.
Fensterscheiben hatten nicht genug Zeit um unter der Druckwelle zu zerspringen, als sie auch schon schmolzen. Die Stahlträger, welche die Dachkonstruktion des Bahnhofes trugen, begannen weiß glühend unter ihrer Last zusammenzubrechen.
Innerhalb weniger Sekunden waren die Bahnsteige und die drei Etagen der Einkaufspassagen vom Feuer verschlungen. Die Feuerwalze schoss durch die unterirdischen Verbindungsgänge zur Innenstadt, um mit einer enormen Gewalt in den Häuserzeilen weiter zu wüten.
Aufgesprengte Straßen schleuderten ihre Steine Meter hoch, um wie ein tausendfach verstärkter Hagelregen wieder einzuschlagen.
Autos wirbelten ähnlich Kinderspielzeug durch die Luft, um mit den zu Staub zerfallenen Insassen und als formloses Metallgeflecht auf die Erde zurück zustürzen.
Straßenbahnen wurden durch die rasende Druckwelle aus den Gleisen gesprengt. Doch nicht einer der Fahrgäste erhielt jemals eine reelle Chance zur Flucht.
Schreie, vermeintlich lautlos, hallten durch die Stadt, denn sobald sie ausgestoßen wurden, verstummten sie auch schon wieder.
Angels Entsetzen schien grenzenlos, angesichts dieser Grausamkeiten. Sie sah den Versuch der Anwohner und Passanten zu flüchten. Doch ein jeder, im Umkreis eines Kilometer vom Bahnhof entfernt, bekam innerhalb weniger Augenblicke die Gewissheit, dass er sich machtlos dieser Heimsuchung ergeben musste. Und jedes einzelne Schicksal brannte sich in Angels Kopf, in ihre Seele ein.
Die Hoffnungslosigkeit der Mutter, die wusste, dass ihrem neugeborenen Baby nur diese wenigen Tage vergönnt waren.
Die Trauer des Vaters, der sein kleines Mädchen nicht vor den gleich folgenden Schmerzen bewahren und sie nur im Arm halten konnte, bis es vorbei war.
Das Entsetzen des alten Mannes, der zusehen musste, dass diese Bilder, die seit 50 Jahren in seinem angst zerfressenem Herzen wohnten, wieder Realität wurden.
Die Verzweiflung der Großmutter, die ihre Enkel niemals kennen lernen durfte.
Die Erleichterung des Ehemanns, dass seine Frau weit fort, zu ihren Eltern, gefahren war und sie sicher schien.
Das Paar, das seiner Liebe mit einem letztem Kuss und einer innigen Umarmung ewiges Leben zu schenken versuchte.
Panische Menschen, die kreischend vor herabfallenden Mauern und den nach Nahrung suchenden Flammen davon laufen wollten.
Die Feuerwalze erreichte, nach einer anscheinenden Ewigkeit, ihr Ende und zurückblieb eine Wüste aus brennenden Gesteinshaufen und verbogenem Stahl.
Ein Aufatmen raunte durch die Überlebenden. Erleichterung machte sich breit, dass das Schicksal dieses Mal Erbarmen hatte, um in der Scham über diesen Gedanken sofort zu verfliegen.
Doch Angel wusste, dass dies nicht das Ende war.
Unmittelbar danach durchlief ein zweites Beben, ähnlich der Wucht der ersten Explosion, die geschundene Stadt.
Angel sah, wie die Mauer des nahe liegenden Staudammes in kleine Gesteinssplitter zerbrach und mit gigantischer Stärke die Wut des gestauten Wassers preisgab. Die ungebändigte Energie zerstörte die restlichen Gebäude der Stadt, welche das erste Inferno überstanden hatten. Jedes Leben in der Heimat von 500.000 Menschen, welches bisher überlebt hatte, wurde einfach hinweg gespült.
Und wieder explodierten die Bilder in Angels Träumen in Kaskaden der Unbarmherzigkeit. Das Sterben einer Stadt, ihrer Stadt, war so real, dass sie nur noch schreien konnte.
„Ich beginne jetzt die Stadt zu überfliegen. Oh meine Gott!“
Außer dem Drehen der Rotorblätter des Helikopters trat Stille ein.
„Nick, was sehen Sie?“ wollte die Moderatorin Marie Holt im Studio der Nachrichten von Kanal 17 wissen. „Nick?“ Verwirrt schaute sie in die Kamera, welche ihr durch die rote Lampe anzeigte, dass sie auf Sendung waren. „Nick, hören Sie mich?“
Ein leises Geräusch war vernehmbar. Entsetzten breitete sich unter allen Anwesenden aus, denn es war Weinen. Nick Bauer, kaltblütiger Reporter in den schlimmsten Kriegsgebieten, weinte als er vom Helikopter aus die Zerstörungen sah.
„Nick, bitte sagen Sie doch etwas.“ hob Marie sanft an, ihren Kollegen zum Sprechen zu bewegen. „Bitte, Nick …“
„Marie,“ erklang eine unsäglich leidende Stimme am anderen Ende der Leitung. „das können Sie sich nicht vorstellen! Es existiert hier nichts mehr. Nur noch Reste von ausgebrannten und überfluteten Gebäuden. Unzählige Leichen schwimmen in den Wassermassen und Stücke von, ich weiß nicht was. Diese Stadt wurde ausgelöscht.“
Danach brach die Verbindung ab.
Angel schaltete den Fernseher auf Channel 3.
„… die Feuerwalze hat die komplette Innenstadt vernichtet …“
Sie schaltete weiter.
“… und die Wassermassen begruben den Rest der Stadt unter sich …“
Der nächste Kanal folgte.
“… ein Inferno, dessen Hintergründe noch genau zu klären sind …“
Und nochmals das Fernsehprogramm gewechselt.
„… das ganze Land entsendet Hilfe. Schreie nach Rache werden laut. Doch an wem sollen wir uns rächen?“
„… es gibt laut offiziellen Meldungen etwa 2.000 Überlebende von … oh mein Gott … von 493.556 Menschen.“
Auf jedem in- und ausländischen Sender wurden diese Nachrichten gebracht.
Angel schaltete ab.
Ihr Auftraggeber wird stolz auf sie sein, denn beide Bomben hatten perfekt funktioniert.
Wenn nur dieser verdammte Alptraum aufhören würde …