Ann – Textpassagen

„Und Sie sind?“ Anatol hielt Charlene seine Hand zum Gruß hin.
„Gelangweilt!“ kam ihre spontane Antwort, die Hand ignorierend.
Leicht spöttisch schoss seine Augenbraue nach oben.
„Oh, Sie lieben Filmzitate.“ seine tiefe, belustigte Stimme durchdrang ihre Abwehr. So nahm sie seine Hand.
„Eine Kindheit vor dem Fernseher, vermute ich?“ ihre Stimme war so rauchig und heiser, wie ihr Antlitz zart.
„Eine Kindheit vor dem Fernseher.“ bestätigte er und strich zart mit dem Daumen über ihren Handrücken.
Charlene rannen heiße Schauer über die Haut, als sie diese Berührung spürte. Für einen Augenblick war sie versucht, die Augen zu schließen und ihrer überbordenden Fantasie freien Lauf zu lassen. Im Bruchteil eines Wimpernschlages sah sie in erschreckend klaren Bildern vor sich, was seine so rauen, schwieligen Hände mit ihrem Körper anstellen würde.
Doch sie gebot sich selbst streng…

„Cut“ brüllte es in Anns Headset. „Da fehlt der ganze Sex – Teil!“ schimpfte der Aufnahmeleiter Mark ungehalten vor sich hin. „Du kannst doch nicht einfach das Buch ändern, du bist nur zum Einlesen hier…“
Ann nahm ihr Headset ab und schaltete die Schimpftirade aus. Wütend stapfte sie aus ihrer Sprecherkabine ins Aufnahmestudio.
„Na klar kann ich das Buch ändern, so ein Zeugs kann man doch nicht laut vorlesen!“ griff sie sofort Mark an. „Beschwere dich bei der Autorin Christiane Mueller! Sie hat den Schwachsinn geschrieben!“ wetterte Mark zurück. „Schwachsinn?“ Ann wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
„Ja, Schwachsinn!“ entgegnete der aufgebrachte schwarzhaarige Hüne der etwas korpulenteren Brünetten vor ihm. „So etwas fühlt und denkt doch kein Mensch beim Händeschütteln!“
Ann sah Mark perplex an.
„Oder willst du mir etwa sagen, dass hast du schon mal so erlebt?“ Mark schnappte sich ihre Hand und begann mit seinem Daumen Anns Handrücken zu streicheln.
Augenblicklich senkt Ann den Kopf, so dass ihre braune Lockenpracht ihr Gesicht verbarg. Mark sollte nicht sehen, wie sie bei seiner Berührung erst rot anlief, um dann zu erblassen. Natürlich hatte sie so etwas schon erlebt, bei ihm, deswegen hatte sie es ja so gut beschreiben können…
Aufgrund ihres gesenkten Kopfes entgingen ihr Marks sich weitende Augen. Er spürt diese zarte Haut unter seinem Daumen und eine Flut an sinnlichen Bildern stürzte auf ihn ein, die er so nicht erwartet hatte. Ann, ausgerechnet Ann, seine Star-Vorleserin. Ann mit der ausdrucksvollen warmen Stimme, die sich wie Samt auf seine Sinne legte. Ann mit der dicken Brille und den gut zwanzig Pfund zu viel auf den Rippen. Ann mit der hinreisendsten braun gesprenkelten Lockenpracht, die er je gesehen hatte.
Abrupt lies er die Hand los. Mark räusperte sich und meinte: „Also liest du diesen Blödsinn jetzt vor?“
Er räusperte sich noch mal. „Ja, das ist wesentlich schlüpfriger als die Texte, die du sonst liest, aber der Verlag wollte unbedingt dich als Vorleserin. Ich verstehe zwar nicht, warum Christiane Mueller das nicht selbst liest, wenn die Ausgabe doch von den Autoren selbst gelesen werden solle, aber was solls. Wahrscheinlich ist sie eine schrullige alte Jungfer, die sich nicht traut ihr schlüpfriges Geschmiere vorzulesen…“
„Sie ist weder alt noch schrullig noch eine Jungfer!“ empörte sich Ann nun. `Sie ist lediglich seit ewigen Zeiten in ihren Kollegen verknallt.‘ fügte sie gedanklich an. „Außerdem ist es das eine, zu wissen, dass so etwas im stillen Kämmerlein gelesen wird und etwas anderes es selbst vorzulesen!“
Mark sah sie ungehalten an. „Sei es drum, Hauptsache wir schaffen das Kapitel heute noch.“ knurrte er vor sich hin.
Ann ging zurück in ihre Aufnahmekabine. Seit 10 Jahren schrieb sie Liebesromane, vor allem, weil sie selbst einige nicht so tolle Beziehungen hinter sich hatte und sich so in eine Art Traumwelt flüchten konnte. Doch in den 8 Jahren, in welchen sie mit Mark zusammenarbeitete, waren ihre Liebesszenen zu immer heißeren Sexszenen geworden, so auch in diesem Buch. Erschreckenderweise sah sie immer ihren Aufnahmeleiter vor sich, wenn sie so etwas schrieb. Niemand in ihrem Umfeld wusste, dass sie die erfolgreiche Liebesschnulzenikone war, die die beliebten Romane schier am Fließband fabrizierte. Alle glaubten, sie sei lediglich eine mittelmäßig bezahlte Vorleserin für Lesebücher. Ann wollte auch, dass es so blieb, denn sie passte so gar nicht in die schicke und vor allem schlanke Welt der Promis.
„Geht’s los?“ brummte Mark und unterbrach Anns Selbstbetrachtung.
‚Eine großartige Szene für Carlotta und Ben…‘ schoss es Ann durch den Kopf, über den Roman, den sie gerade verfasste. Sie nahm das Skript und begann von vorn zu lesen.
‚Fehlerfrei, an den richtigen Stellen atemlos und genau hier… Heimatland…‘ Mark durchfuhr es heiß am ganzen Körper. Ann war nun so gar nicht sein Typ, bis auf vielleicht die intelligente Zunge, die sich so gern mit ihm verbal duellierte. Oder die lustigen Funken, die in ihren grün-blau-braunen Augen sprangen, wenn sie lachte. Vielleicht auch die zu volle Unterlippe, die…
Entsetzt über seine Gedanken schoss Mark aus seinem Stuhl. Gut, dass er allein im Studio war. Seinen jetzigen körperlichen Zustand zu erklären, wäre sonst sehr peinlich geworden.
‚Und das alles nur wegen dieser Händedruck-Sache!‘ wütete in Mark seine Rechtfertigung.
„Mit einem kurzen Ruck zerfetzten seine gierigen Hände ihr Kleid und fuhren dann heiß über ihren willigen Körper.“
Mark kam nicht umhin, sich zu fragen, ob das taubenblaue Kleid von Ann auch mit einem Ruck zerrissen werden konnte, die Kraft dazu hätte er sicherlich.
„Er presste ihren nackten Leib an die Wand. Der kalte Marmor hätte sie abkühlen müssen, doch ihr ganzes Denken und Fühlen war auf seinen Mund und seine Hände ausgerichtet.“
Hier im Aufnahmeraum gab es eine Marmorwand, die gerade dazu einlud diese heiße Szene nachzuspielen.
„Doch sie wollte mehr, sie wollte Haut an Haut spüren und danach sollte er sich tief in sie vergraben. Charlene…“
‚Charlene? Wieso Charlene und nicht Ann?‘ Mark hielt diese Lesung kaum noch aus. Noch nie in seinem Leben hatte ihn eine Stimme solchen Fantasien ausgesetzt. Na gut, etwas mehr als nur eine Stimme. Doch es war fast so, als würde Ann seine heißesten Wünsche vorlesen, als wüsste sie ganz genau, wie er mit ihr Sex haben wollte.
‚Jetzt drehe ich durch! Sex mit Ann?‘ Ann war seine Kollegin, sein Kumpel. Und sie waren so unterschiedlich. Er fand sie ja nicht mal schön. Zugegeben sie hatte die zwanzig Pfund auch an sehr weiblichen Stellen zu viel, obwohl in seine Hände würden ihre großen…
„War das okay so, Mark?“ erklang Anns Stimme über das Headset.
„Ähm ja, klang ganz okay.“ Verlegen wand sich Mark um eine konkrete Antwort. „Ich… ähm… Naja, ich höre es gleich noch mal an… Mach am besten Schluss für heute.“
Ann sah auf die Uhr, es war erst viertel vier. Ungewöhnlich, denn vor sieben ließ er sie sonst nie gehen.
„Okay, dann komme ich morgen wie immer?“ fragte sie noch mal, sich rückversichernd, während sie ihre Sachen zusammenpackte.
„Ähm ja, so ähm wie immer…“ antwortete Mark scheinbar völlig abwesend. „ähm… bis morgen…“
Erfreut nahm Ann ihre Sachen und begann die nächste Szene für Carlotta und Ben in ihrem Kopf zu skizzieren, die sie heute nun in Ruhe schreiben konnte.

Mark hatte eindeutig irgendetwas. Er vermied jede Berührung, er sprach kaum noch mit ihr über persönliche Dinge und er schien immer abwesend. Ann grübelte bereits einige Tage, wie sie ihn darauf ansprechen konnte, aber ihr fiel nichts ein.
Er wusste, dass er sich völlig untypisch benahm, aber er konnte es nicht ändern. Im Stillen verfluchte er Christiane Mueller, die mit ihrem ultraheißen Liebesroman das Ganze ins Rollen gebracht hatte. Wie konnte Ann nur behaupten, es wäre keine schrullige alte Jungfer…
„Sag mal kennst du diese Christiane Mueller persönlich?“ platzte es aus Mark in der nächsten Pause heraus.
Ann hätte sich beinahe an ihrem Bagel verschluckt. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na du sagtest so etwas wie: Sie ist weder alt noch schrullig noch eine Jungfer. Das klingt als würdest du sie persönlich kennen.“ mutmaßte Mark.
„Ähm nun ja … ähm gewissermaßen…“ Ann konnte und wollte nicht zugeben, wer sie war bzw. wer Christiane war.
„Also kennst du sie nicht und sie ist doch eine alte, schrullige Jungfer.“ köderte Mark sie nun.
Ann brauste auf: „Ist sie nicht!“
„Aha!“ war Marks einziger Kommentar.
„Ist sie nicht.“ fügte Ann etwas ruhiger hinzu. „Sie ist, ähm nun ja, eher so wie ich. Also vom Alter her und von der Optik und von der Erfahrung…“
„Wie du?“ entgegnete Mark listig.
„Ja, wie ich. Wir ähneln uns ganz schön.“ lächelte Ann milde in sich hinein. Sie würde es nicht verraten, aber etwas angeben war ja bestimmt erlaubt.
„Ihr seid euch ähnlich?“ jetzt stockte Marks Stimme doch etwas, seine Gedanken begannen zu fliegen. „Du hast also auch solche Vorstellungen von … Du würdest also auch… Du hast also auch…“ Mark konnte seine Gedanken nicht in Worte fassen. Er musste hart schlucken.
„Ähm naja, gemacht… ähm selbst gemacht nein… aber…“ dieses eine Wort, dieses letzte Wort schwebte in der Luft und entfaltete in Ann und Mark schier eine Springflut an Gedanken und Gefühle. Beide sahen zur Marmorwand.
Wer als erster den anderen erreichte, wussten sie später nicht mehr zu sagen. Doch sie wussten, dass die Verwirklichung dieser einen Fantasie, die Ann schon Monate vorher über sich selbst und Mark aufgeschrieben hatte, der Beginn von allem war. Und die Marmorwand war erst der Beginn einer Reihe noch heißerer Sexszenen, die nun allerdings erst Realität worden, bevor sie den Weg in die Bücher von Christiane Mueller fanden…

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