
„Ohhhhhh Gyst, so ein Mist!“ schreiend liefen die Kinder hinter dem weinenden Jungen her. „Brillenschlange Mist!“
Ogyst, der nicht nur seine Eltern wegen seiner Namensgebung verfluchte, sondern auch dieses grausame Schicksal, welches ihn mit einer Brille und einem sehr schmächtigen Körper ausgestattet hatte, rannte wie von Furien gehetzt die Pappelallee entlang.
Jeden Tag jagten seine Klassenkameraden ihn über diese Straße nach Hause. Und jedes Mal schienen die verbalen Attacken gemeiner und erbarmungsloser zu werden.
Er wusste noch genau, wie er am ersten Tag stehen geblieben war, um sich zu verteidigen. Die Jungen hatten auf ihn eingeschlagen und ihn dabei, wegen seiner schwachen Abwehrversuche, verspottet.
Seine Mutter hatte Ogyst angeschrien, dass die gute Schuluniform zerrissen war und blutbefleckt. Aber über seine aufgeplatzte Lippe und das blaue Auge oder gar die seelischen Wunden verloren weder sie noch ihr Mann, Ogysts Vater, jemals ein Wort.
Seit diesem Tag lief Ogyst weg, so schnell ihn seine schwachen Beine tragen konnten. Und zum ersten Mal seit drei Monaten schien er schneller als seine Mitschüler zu sein. Nur noch an drei Pappeln musste er vorbei und dann konnte er querfeldein zu seinem Haus laufen.
Noch zwei, noch eine…
Doch die letzte Pappel schien höhnisch eine ihrer großen Wurzeln in die Luft zu strecken und Ogyst geriet ins Stolpern. Allerdings anstatt sofort zu fallen taumelte er geradewegs gegen den Stamm des letzten Baumes, welcher eine Art Abschluss der Allee bildete. Nur war dieser keine Pappel sondern eine Eiche.
‚Keine Angst, mein Freund!‘ wisperte eine leise Stimme. ‚Hier bei mir bist du sicher.‘
„Wo ist die kleine Ratte!“ hörte Ogyst seinen untersetzten Mitschüler John rufen.
John schien neben ihm zu stehen, nur zu sehen war er durch das dichte Laub der Eiche nicht. Ogyst versuchte seinen Atem zu beruhigen und auch sonst jedes verräterische Geräusch zu vermeiden.
„Georg, Emil, habt ihr gesehen wo er hin ist?“ Johns Stimme schien noch näher.
„Nein, Boss!“ antworteten die beiden Jungen im Chor.
„Verdammt, hat er es also doch geschafft.“
Ogyst konnte außer Wut auch noch die Anerkennung in den gezischten Worten erkennen.
„Aber morgen werden wir cleverer sein und einer von uns wird ihn hier, hinter der Eiche, in Empfang nehmen und …“
Da die drei Jungen sich entfernten, konnte Ogyst den Plan für den nächsten Tag nicht vernehmen. Er blieb noch einige Sekunden am Baumstamm gelehnt und begann sich dann vorsichtig durch das dichte Blattwerk zu arbeiten.
‚Nein, Ogyst. Das ist eine Falle. Sie stehen hinter der Pappel, die dir eine Wurzel gestellt hat!‘ ertönte wieder diese sanfte, dunkle Stimme.
Erschrocken sah der Junge auf.
‚Keine Menschenseele zu entdecken!‘ schoss ihm durch den Kopf.
Einem leisen Kichern folgte wieder der Klang der scheinbar geschlechtslosen Stimme. Denn sie war zu tief um weiblich und zu hoch um männlich zu sein.
‚Ich bin auch kein Mensch!‘
„A…“ weiter kam Ogyst nicht. Ein schlanker Ast voller herrlichster Blätter schnellte hervor und verschloss seinen Mund.
‚Nicht sprechen, denken!‘
„Habt dir das gehört?“ überschlug sich Emils Stimme fast. „Da hat jemand …“
„Jetzt wo du so laut geschrien hast, hören wir nichts mehr!“ bluffte John seinen Kumpan an. Äußerst geräuschvoll verließen die drei Verschwörer nun die Pappelallee und begaben sich auf den Heimweg.
Emil, welcher zwischen John und Georg lief, erhielt aller paar Meter eine Backpfeife für seine Dummheit.
Als die drei gänzlich aus Ogysts Sichtfeld verschwunden waren, rutschte der Ast von seinem Mund und kehrte in seine alte Stellung zurück.
„Aber … aber …“ begann der Junge stotternd. „Wieso … Rede doch mit mir … Danke … Wer bist du und … aber …“
Ogyst begann scheinbar Hunderte von Sätzen, welche genauso unvollendet blieben, wie die Eiche stumm.
Nachdem der Junge die Eiche und deren dichte Krone erkundet hatte und niemanden fand, ging er rätselnd nach Hause. Noch am selben Abend entschied er, dies alles nur geträumt zu haben.
„Ohhhhhh Gyst, so ein Mist!“ schreiend liefen John, Georg und Emil hinter Ogyst her. „Brillenschlange Mist!“
‚Komm zu mir, mein Freund, ich beschütze dich.‘ hörte Ogyst die Stimme wispern.
Es war also doch kein Traum gewesen. Ogyst schienen Flügel zu wachsen, als er in Richtung der Eiche lief. Wenige Sekunden später war er aus dem Blickfeld seiner Verfolger verschwunden.
‚Danke, meine liebste Freundin.‘ dachte der erschöpfte Junge und schmiegte sich vertrauensvoll in die dicht belaubten Äste.
‚Wenn du mir versprichst, es niemandem zu erzählen, weder heute noch in Zukunft, verrate ich dir meinen Namen.‘
‚Niemals würde ich dich verraten!‘ antwortete Ogyst fast erbost.
‚Überlege es dir gut, denn solltest du jemals einem anderen Menschen von mir erzählen oder auch nur meinen Namen sagen, hätte das für uns beide schlimme Folgen!‘ gab der Baum zu bedenken.
Ogyst hörte wie Georg, John und Emil in den niedrigen Zweigen der Eiche begannen nach ihm zu suchen.
„Der Mistkerl hat sich schon wieder in Luft aufgelöst …“
„Als hätte ihn der Baum verschluckt …“
„Er wird zu schnell …“ brummelten die drei vor sich hin.
‚Keine Sorge, du bist sicher. Verhalte dich nur ruhig.‘ sanft streifte ein kleiner Ast über Ogysts Wange.
‚Ich weiß, meine Freundin. Du beschützt mich. Und genauso werde ich dein Geheimnis schützen. Vertraue mir bitte.‘
Lange Zeit hörte Ogyst nur die schimpfenden Jungen, welche nach der ergebnislosen Suche nach Hause zogen.
‚Ich heiße Belilea.‘ antwortete der Baum plötzlich.
„Was für ein wunderschöner Name!“ flüsterte Ogyst.
‚Nicht reden, du weißt nie wer zuhört, darum denke nur!‘ schalt Belilea und legte Ogyst einen dicken Zweig auf den Mund. ‚Denke bitte immer an dein Versprechen, und wir werden auf ewig Freunde sein.‘
Von da an verbrachte Ogyst immer mehr Zeit mit Belilea. Sie erzählte ihm Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Über Männer, welche in ihrem Schatten lagen, über Kinder, die ihre Zweige erklommen hatten und über Frauen, die Belilea, im Gedenken an ein stummes Lebewesen, ihr Herz ausgeschüttet hatten.
Ogyst berichtete von seinem Alltag in der Schule und zu Hause, während er in Belileas Zweigen mit Klimmzügen und allerlei anderen Übungen seine physische Kondition trainierte.
Aus Tagen wurden Wochen, Monate, Jahre.
Niemand jagte mehr Ogyst, welcher zu einem muskulösen, selbstbewussten jungen Mann heran wuchs.
Belilea war seine Stärke, sein Rückgrat, sein Geheimnis.
Niemand konnte den Grund für die komplexe Wandlung Ogysts finden oder gar begreifen. Der scheue, ängstliche Knabe hatte einfach irgendwann nicht mehr existiert.
Legendär war, noch Jahre später, der Kampf Ogysts gegen John, Emil und Georg.
Die ganze Schule hatte mitbekommen, dass Ogyst jeden Tag auf der Pappelallee scheinbar spurlos verschwand. Aus vormals drei Jungen wurden von Tag zu Tag mehr. Bis eines Tages fast die ganze Schule mit nach Ogyst suchte. Belilea bat Ogyst sich zu stellen, denn es wäre Zeit. Er wäre stark genug, er könne John, Emil und Georg gleichzeitig schlagen. Später gestand Ogyst seiner Freundin, wie ihm die Knie geschlackert hatten.
Ogysts Mitschüler hatten fast die ganze Pappelallee nach ihm durchsucht, bis er auf einmal wieder auftauchte.
„Kann ich euch beim Suchen helfen?“ fragte er scheinheilig. „Ich kenne mich hier nämlich gut aus.“
John, Emil und Georg rannten wie wütende Stiere auf ihn zu.
„Jetzt bist du fällig!“ schrie John.
„Sprich dein letztes Gebet!“ brüllte Georg.
„Dummkopf, warum bist du nicht verschwunden geblieben.“ murmelte Emil.
‚Du schaffst es, ich stehe hinter dir.‘ flüsterte Belilea.
Dann ging alles sehr schnell. John erreichte Ogyst als erster und fiel nach zwei Backpfeifen in den Staub. Bei Georg benötigte Ogyst nur eine, um den plumpen Jungen zu Fall zu bringen. Und bei Emil drückte Ogyst ein Auge zu. Mit einem Augenzwinkern deutete Ogyst ihm an, wann er „getroffen“ wurde und fallen sollte.
Belilea hatte Ogyst verraten, dass Emil jeden Tag mit Absicht schrie um ihn zu warnen. Emil mochte Ogyst, hatte aber Angst vor John. So wollte er lieber selbst die Kopfnüsse einstecken, als den schwächlichen Ogyst leiden zu lassen.
Der heutige Tag änderte die Rangfolge. Niemand wagte mehr Ogyst oder einen seiner Freunde anzugreifen.
‚Belilea, bist du da?‘ fragte Ogyst traurig.
‚Witzige Frage, als könnte ich weglaufen!‘
‚Ich muss fort.‘ begann Ogyst, ohne auf den Schabernack der Freundin einzugehen.
‚Wie, fort?‘ wollte Belilea wissen, als Ogyst nicht weiter sprach.
‚Meine Lehrstelle. Es sind über zweihundert Kilometer von hier!‘ begann der junge Mann bedrückt. ‚Ich kann dich dann nicht mehr sehen. Wem soll ich mein Herz ausschütten, wer soll mir raten …‘ Ogyst begann zu weinen.
‚Ruhig, mein Freund.‘ Belilea streichelte Ogyst sanft mit einem ihrer neuen Triebe. ‚Mach dir keine Sorgen, du wirst neue Freunde finden und …‘
‚Und was wird mit dir? Du bleibst allein hier. Nur die dummen Pappeln um dich. Du weißt, dass sie dich nicht leiden können.‘
‚Um mich mach dir mal keine Sorgen!‘ hob Belilea an. ‚Ich habe auch so meinen Spaß. Du weißt doch, die Vögel unterhalten mich und die Eichhörnchen …‘
„Oh Belilea!“ schluchzte Ogyst laut auf und umschlang einen ihrer Äste.
„Ogyst, mit wem redest du?“ rief Emil von der Pappelallee aus. „Wir müssen los, die Fahrkarten für Montag holen und einkaufen wolltest du auch noch. Ogyst? Wo bist du?“
‚Geh mein Freund und mach dir keine Sorgen.‘ vorsichtig schob Belilea Ogyst aus ihren Zweigen. ‚Und denk immer daran, verrate niemandem wer ich bin!‘
Von da an schwieg Belilea.
Die Jahre vergingen und Ogyst blieb in der Ferne.
Beide dachten oft voller Wehmut an die gemeinsame Zeit.
Bis Ogyst fünf Jahre später nach Hause kam, doch er war nicht allein. Er hatte eine Frau mitgebracht. Er und Silvia waren seit einem Jahr verheiratet, aber es stand nicht mehr gut um ihre Ehe.
Silvia war auf alles und jeden eifersüchtig. Sie sah in Ogysts weiblichen Kollegen Verhältnisse, die er während seiner Arbeitszeit ausleben würde. Kellnerinnen in Restaurants, die sie beim Bedienen anlächelten, waren für Silvia ein Zeichen, dass er oft mit ihnen verkehrte. Jedes weibliche Wesen war ihrer Meinung nach Konkurrenz. Doch Ogyst liebte diese junge närrische Frau abgöttisch und wer hätte es ihm verdenken können, dass er alles versuchte um die Ehe zu retten. Seine Hoffnung war, dass Silvia hier in der stillen Natur zu sich kommen und endlich an seine Liebe und Treue glauben würde.
Leider währte seine Hoffnung nicht lange. Silvia behauptete, seine langen Fahrten zur Arbeit würde er nutzen, um zu seiner Freundin zu fahren. Sie überschlug sich permanent mit Ogysts Mutter, welche sich erstaunlicherweise auf dessen Seite stellte.
Eines Tages verließ Ogyst wütend das Haus, nach einem äußerst heftigem Streit. Und ohne es zu wollen oder sich dessen bewusst zu sein, lenkten ihn sein Schritte zur Pappelallee, zu Belilea.
„Oh meine Schöne, warum bist du nicht bei mir?“ fragte er laut. „Warum kannst du nicht meine Frau sein?“ Liebevoll strich er über die Blätter, die leise im Wind rauschten.
‚Still!‘ raunte Belilea.
„Bitte?“ fragte Ogyst verwirrt. „Warum soll ich still sein? Ich war doch so blind. Dir gehört meine Liebe, mein ganzes Herz. Nur du verstehst, begreifst mich! Und nur du hast je nach mir gefragt, nach meinen Gefühlen! Ich liebe dich, Belilea!“
„Ich wusste es!“ kreischte hinter ihm die Stimme seiner Frau auf. „Ich wusste es, dass du mich betrügst! Belilea heißt sie also, was für ein alberner Name! Wo ist das Miststück?“
Silvias Schimpftiraden wurden immer schlimmer, ihr einst so schönes Gesicht verzerrte sich zu einer grässlichen Fratze.
Wie im Wahn begann sie zu schreien: „Wo ist sie? Wo?“Ogyst konnte später nicht mehr sagen, wie er Silvia beruhigt hatte. Er wusste nur noch, dass er sein heiligstes Versprechen gebrochen hatte. Um die Situation zu entschärfen hatte er zu Silvia gesagt, Belilea wäre doch nur der Baum …
Es war Ogyst, als würde er von einer Axt getroffen. Erst in die Arme, in die Beine, am Kopf, am ganzen Körper. Es schmerzte ihn nicht wirklich, aber es fühlte sich nur so eigenartig real an. Als würde jemand wie ein Berserker wüten, und doch immer wieder in dieselbe Wunde schlagen. Grad so, als würde ein Baum geschlagen werden.
‚Belilea!‘ in diesem Augenblick wusste er was geschah. Wie von Sinnen raste er zur Pappelallee, welche einst von einer Eiche beendet wurde …
Ein unansehnlicher Stumpf ragte als Überbleibsel in die Landschaft. Daneben lag die einst so prächtige Belilea. Kaum einer der mächtigen Äste war noch intakt, überall lag das Laub verstreut und aus dem ehemals mächtigen Stamm quoll dicker, dunkler Saft, fast blutähnlich.
‚Oh meine liebste Freundin, was habe ich nur getan?!‘ verzweifelt stürzte Ogyst zu Boden. ‚Belilea? Wo bist du, geliebtes Wesen?‘
Unaufhörlich strömten ihm die Tränen über die Wangen.
‚Verzweifeln … nicht … verzweifeln …‘ erklang Belileas ersterbende Stimme. ‚du … genug … Kraft … allein …‘
„Nein!“ schrie der junge Mann auf. „Verlass mich nicht! Ich will auch alles tun! Bitte!“
‚Nein … zu … teuer .. zu … hoher Preis … für … dich!‘
Liebevoll nahm Ogyst einen der geschundenen Äste in die Hand und strich zart darüber.
„Hör mir genau zu, liebste Freundin.“ hob er feierlich an. „KEIN Preis ist für dich hoch genug!“
‚Bitte … nicht … nein …‘
„Tue es, Belilea!“
„Ernestine, dumme Trine!“ schreiend liefen Annika, Mandy und Claudia hinter Ernestine her. „Brillenschlange Trine!“
‚Komm zu mir, meine Freundin, ich beschütze dich.‘ hörte Ernestine die Stimme wispern.
Ernestine schienen Flügel zu wachsen, als sie in Richtung der Eiche lief. Wenige Sekunden später war sie aus dem Blickfeld ihrer Verfolger verschwunden.
‚Danke.‘ dachte das erschöpfte Mädchen und schmiegte sich vertrauensvoll an die dicht belaubten Äste.
‚Wenn du mir versprichst, es niemandem zu erzählen, weder heute noch in Zukunft, verrate ich dir meinen Namen.‘
‚Niemals würde ich dich verraten!‘ antwortete Ernestine fast erbost.
‚Überlege es dir gut, denn solltest du jemals einem anderen Menschen von mir erzählen oder auch nur meinen Namen sagen, hätte das für uns beide schlimme Folgen!‘ gab der Baum zu bedenken.
Ernestine hörte wie Annika, Mandy und Claudia in den niedrigen Zweigen der Eiche begannen nach ihr zu suchen.
„Sie hat sich schon wieder in Luft aufgelöst …“
„Als hätte sie der Baum verschluckt …“
„Sie wird zu schnell …“ brummelten die drei vor sich hin
‚Keine Sorge, du bist sicher. Verhalte dich nur ruhig.‘ sanft streifte ein kleiner Ast über Ernestines Wange.
‚Ich weiß, du beschützt mich. Und genauso werde ich dein Geheimnis schützen. Vertraue mir bitte.‘
Lange Zeit hörte Ernestine nur die schimpfenden Mädchen, welche nach der ergebnislosen Suche nach Hause zogen. Plötzlich antwortete der Baum: ‚Ich heiße Ogyst.‘