„So liebe Studenten, heute schauen wir uns den Unterschied zwischen Sehen und Wahrnehmen an!“ begann Professor Besch mit seinen Ausführungen.
Und wie immer meldete sich Thomas bereits bei der Einleitung, um seine Meinung zu äußern. „Das ist doch dasselbe! Sehen ist eine Wahrnehmung!“
Professor Besch schmunzelte, geradeso, als hätte er darauf gehofft, dass Thomas dies sagte. „Dann werden wir den jungen Mann hier wohl mal vom Gegenteil überzeugen!“
Alle Mitkommilitonen rollten mit den Augen. Jedes Mal dasselbe. In jeder Vorlesung, bei jedem Prof musste Thomas Widerworte finden. Das war so anstrengend.
„Meine Lieben, ich sehe sie die Augen rollen,“ sagte Professor Besch. „doch ich hatte auf diesen Einwand gehofft. Sie sehen den nervenden Studenten, der die Vorlesung sprengt, ich nahm aber die gewollte Frage wahr!“
„Was für ein lahmes Beispiel!“ warf Thomas ein.
Der Professor lachte laut auf.
„Genau Thomas, deswegen habe ich Ihnen und ihren Studienkollegen diesen Film mitgebracht.“
Professor Besch ließ eine Art Dokumentarfilm abspielen.
Eine Frau lag in den Wehen und gebar gerade ihr Kind. Man sah ihr angestrengtes Gesicht und hörte ihr schmerzhaftes Keuchen. Nach wenigen Sekunden schwenkte die Kamera auf das Neugeborene, welches die Augen geschlossen hielt. Und dann war es als würde man mit dem Baby die Augen öffnen. Für ca. 20 Sekunden sah man schemenhafte Umrisse, wie aus der Sicht des Babys. Danach endete der Film.
„Was haben Sie gesehen?“ fragte der Professor seine Studenten.
Ein Baby, seinen ersten Blick, eine Geburt, eine werdende Mutter kamen unter anderem als Antwort.
„Und was nahmen Sie wahr?“ wollte Professor Besch etwas später wissen.
Ein Baby, seinen ersten Blick, eine Geburt, eine werdende Mutter…
„Und nun wiederholen wir das Ganze, mit einem Unterschied. Ich werde Ihnen etwas vorlesen, während das Baby die Augen öffnet.“
Ein verächtliches Schnauben erinnerte an Thomas.
Die Filmsequenz startete erneut und als das Baby die Augen öffnete, begann Professor Besch vorzulesen. Seine dunkle, sanfte Stimme erfüllte den Raum.
„Die Grauheit der Sekunde, in welcher die Augen sich zum ersten Mal öffnen, weicht einer unendlichen Vielzahl an Farbtönen.
Es ist als überquere man eine lange Brücke, von trüben Nebeln umhüllt, wartend auf deren Ende, dort wo fahles Licht von Leben zeugt und in einem Regenbogen zu explodieren scheint.
Hoffnung wird just in diesem Bruchteil eines Augenblickes geboren, um im Kaleidoskop der Farbnuancen zerstört zu werden. Doch dann verteilen sich diese kleinen, winzigen Zerstörungstropfen über die Ära unseres Lebens, um genau jetzt den dunklen Wassern der Verzweiflung neue Ufer abzugewinnen, wenn ihre Enden am Horizont zu verschwinden scheinen.“
Nachdem der Film endete trat Stille in den Raum.
„Was haben Sie gesehen?“ fragte Professor Besch.
Ein Baby, seinen ersten Blick, eine Geburt, eine werdende Mutter…
„Und was nahmen Sie wahr?“
„Gänsehaut!“ antwortete Thomas fassungslos.
Ein Gedanke zu „Besch“
Wie immer…sehr schön, guter unterhaltsamer Zeitvertreib auf einer Zugfahrt