Blaulieschen

Es war einmal, vor langer, langer Zeit, ein König und eine Königin. Die beiden hatten einen kleinen Sohn, Prinz Rio.
Wer immer den Jungen sah, war von seinem Liebreiz gefangen. Weinte Rio, wurde der Himmel grau und Wolkenverhangen, lachte er jedoch, dann schien die Sonne und strahlte mit ihm um die Wette.
Sie lebten alle glücklich im Königreich Blaulieschen.
Das Königreich hatte seinen Namen von den Blumen, die überall wuchsen. Wunderschöne blaue Lieschen sprossen allerorts aus dem Boden, bedeckten Mauern, ja ganze Häuser.
Selbst die königlichen Schlossmauern waren damit bewachsen.
Eines Tages trug es sich zu, dass Prinz Rio den zwei Jahre älteren Küchenjungen Hubert kennen lernte. Von Stund an waren die beiden unzertrennlich. Sie spielten, lachten und sangen gemeinsam. Und an jedem Ort, an dem sie musizierten oder auch nur zusammen lachten, wuchsen die Blaulieschen größer und schöner als an jeder anderen Stelle.
Zwar war das ungleiche Paar sowohl den Hofdamen als auch dem Küchenchef oft ein Dorn im Auge, denn die beiden waren berüchtigt für ihre Streiche, aber scherzte und lachte man auch gern mit den Kindern.
Am meisten liebten Rio und Hubert es, die anderen zu foppen, wenn es für den Prinzen hieß zur Schule zu gehen.
Oh, Rio lernte gern, doch mochte er den alten Griesgram von Lehrer nicht.
Oberstudienrat Leuchte hieß der gute Mann.
Rio und Hubert versteckten sich immer vor ihm.
So zog der Prinz alte Kleider von Hubert an und verbarg sein semmelblondes Haar unter einem alten Hut. Noch zwei Rußflecken auf die Wangen und einen auf die Stirn und der Oberstudienrat hielt ihn für Hubert.
Beim nächsten Mal kehrten die zwei Lausekinder das Spiel um. Hubert schlüpfte in Rios Gewänder und sein schwarzes Strubbelhaar bedeckten sie mit hellem Puder. Dann gab er vor heiser zu sein und piepste die ganze Stunde wie ein Maus. Genauso lang benötigte Lehrer Leuchte auch, um den Schwindel zu bemerken.
Um solcherlei Unfug ein Ende zu bereiten, entschieden der König und seine Königin, dass die beiden Kinder den Unterricht von Oberstudienrat Leuchte gemeinsam besuchen sollten. Und so begab es sich, dass auch ein einfacher Küchenjunge lesen und schreiben lernte.
Rechnen und musizieren schien Hubert im Blut zu liegen. Es dauerte nur wenige Wochen, bis er genauso viel wusste, wie Prinz Rio.
„Eure Hoheiten, so ein aufgewecktes Bürschchen hatte ich noch nie in meinem Unterricht! Solch ein Junge gehört nicht in die Küche, er gehört in die kleine Schulstadt! So ein Verständnis für Zahlen und Gleichungen muss gefördert werden!“ schwärmte der Oberstudienrat dem König und seiner Königin etwas später vor. Und Lehrer Leuchte schwärmte und schwärmte, bis das Königspaar entschied, den Küchenjungen in die Ferne für weitere Studien zu schicken.
Als die Zeit des Abschieds kam, weinten die beiden Kinder bittere Tränen.
„Ich habe dir ein Gedicht geschrieben.“ schluchzte der Prinz und reichte Hubert ein Pergament. „Wann immer du traurig bist, lies es und denke auch ab und zu mal an mich.“
„Jeden Tag werde ich an dich denken,“ versprach der Hubert „und jeden Abend dein Gedicht aufsagen!“
Und als die Kutsche mit dem Küchenjungen vom Hof rollte, flüsterten beide die Worte, welche auf dem Dokument standen:

Erinnere dich an mich,
wenn du in der Ferne bist.
Erinnere dich an mich,
wenn dich das Heimweh küsst.
Erinnere dich an mich,
wenn du dich alleine wähnst.
Erinnere dich an mich,
wenn du dich nach Liebe sehnst.
Die ersten Wochen und Monate, nach Huberts Weggang, weinte Prinz Rio fast nur.
Das Königreich Blaulieschen wurde in dieser Zeit von vielen Flutkatastrophen heimgesucht und überschwemmt.
Danach wurde er launisch, wie der Aprilwind, der in diesem Frühjahr über das Land hinwegfegte und Mensch und Vieh Angst und Bange machte.
Zum Schluss ward er völlig ruhig und in sich gekehrt. Kein Lachen wurde mehr von ihm gehört, kein Lächeln mehr gesehen.
Die Sonne verschwand hinter grauen Wolken und die blauen Lieschen begannen im ganzen Königreich zu welken.
Der König und seine Königin wussten sich zu guter Letzt keinen Rat mehr und sandten Boten aus, um Hubert aus der kleinen Schulstadt zurück nach Hause zu holen. Nur kamen just diese Kuriere unverrichteter Dinge zurück.
In der kleinen Schulstadt konnte man sich freilich noch gut an den gewitzten Küchenjungen erinnern. Verschlang er doch förmlich jedes Buch, was ihm in die Finger kam, um sein Wissen zu mehren. Auch löcherte er seine Lehrer mit allerlei Fragen. Doch nach wenigen Monaten vermochte ihm niemand mehr etwas beibringen und so schickten die braven Leute von der kleinen Schulstadt ihn in die große Schulstadt.
In der großen Schulstadt konnte man sich freilich an einen Hubert erinnern. Ein wissbegieriger Knabe, abends immer am Fenster stehend und in den Himmel murmelnd. Ein kluges Köpfchen und der sollte ein Küchenjunge gewesen sein? Daran entsann sich keiner. Dieser Hubert freilich, der ward in allem ausgebildet, was es in der großen Schulstadt zu lehren gab. Doch nach wenigen Monaten vermochte ihm niemand mehr etwas beibringen und so schickten die braven Leute von der großen Schulstadt ihn in die Universitätsstadt.
In der Universitätsstadt jedoch verlor sich seine Spur. Einen Küchenjungen Hubert kannte freilich niemand. Studenten dieses Namens gab es der manchen, aber es dauerte Wochen sie sich alle anzusehen. Nur der besagte Knabe war nicht dabei.
Des Königs Boten wähnten den Jungen nunmehr als verschollen und kehrten heim.
Prinz Rio hatte unterdessen jedwede Lebensfreude verloren und aus dem einst so glücklichen Reich war ein trostloser, öder Landstrich geworden, von dem bald niemand mehr wusste, woher er seinen farbenfrohen Namen hatte.
Als sein Sohn ins heiratsfähige Alter gekommen war, beschloss der König ihn demjenigen zum Mann zu geben, der die Sonne im Reich wieder zum Strahlen, die Blaulieschen wieder zum Blühen und Rio wieder zum Lachen bringen konnte. Es kamen Gaukler und Possenreißern, Prinzen und Könige, Ärzte und Scharlatane.
Doch niemanden gelang es auch nur ein Lächeln auf die Lippen des Prinzen zaubern zu können.
Dann begab es sich einst, dass ein fahrender Musikant an den königlichen Hof kam. Erstaunt besah sich der anwesende Hofstaat den Kopfschmuck des jungen Mannes. Zierten sein keckes Sonnenhütchen doch die schönsten Blaulieschen, die man seit Jahren gesehen hatte.
„Woher hast du diese Blumen da?“ wollte der König von dem Musikanten wissen.
„Vom Wegesrand, Eure Hoheit.“ antwortete der junge Mann. „Ich saß einfach nur da, nahm meine Brotzeit zu mir und trällerte meine Liedchen vor mich hin. Und als ich mich erheben wollte, sah ich die Blaulieschen und pflückte sie mir.“
„So dann, du fahrender Musikant, heb an und singe deine Liedchen!“ befahl der König sogleich.

Es war einst ein fahrender Musikant,
der reiste singend durchs das Land,
dem König zog es bei seinem Gesang die Schuhe aus,
auch der Königin war dies Geheul ein Graus!

Der König begann erst zu schmunzeln, dann breit zu lächeln und zum Schluss lachte er schallend über den jungen Sänger. Mit ihm fiel auch die Königin und der gesamte Hofstaat ein. Ein jeder hielt sich den Bauch vor Lachen, nur Prinz Rio saß weiter mit versteinertem Gesicht da.
Der Musikant sang lustige Weisen und langsame Balladen. Und mit jedem Ton, der über die Lippen des jungen Mannes kam, wagte sich ein neues Blaulieschen, an den Schlossmauern, den Kopf zu heben und wieder zu erblühen.
„Genug, genug!“ rief der König alsbald, da ihm vor Lachen schon die Tränen über die Wangen rannen.
„So, eine Voraussetzung hast du schon erfüllt,“ begann der Herrscher, als der Musikant seinen Vortrag beendet hatte. „die Blaulieschen haben begonnen zu blühen. Kannst du auch unsere Sonne wieder scheinen lassen?“
„Aber gewiss, Eure Hoheit!“ behauptete der junge Mann. „dafür muss ich Euch aber eine Geschichte erzählen.“
Binnen weniger Augenblicke wurde es mucksmäuschenstill im Kronsaal und alles lauschte erwartungsvoll den Worten des Wandersmannes.
„Es begab sich einst, dass ein Küchenjunge auszog, um ein Gelehrter zu werden.“ Alles schaute auf Prinz Rio, doch dieser saß weiter mit verdüstertem Gesicht da und starrte auf seine Hände.
„Wollen wir dem Knaben einen Namen geben?“
Begierig nickte der anwesende Hofstaat.
„Gut, nennen wir ihn vielleicht Hubert?“
Prinz Rios Kopf schoss nach oben, bei der Erwähnung des Namens seines alten Weggefährten.
„Hubert wanderte in die kleine Schulstadt aus und lernte alles, was man ihn lehren konnte. Doch nach kurzer Zeit wussten die braven Leute ihm nichts mehr beizubringen und schickten ihn weiter zur großen Schulstadt. Auch hier paukte Hubert, was die Gelehrten ihm an Wissen vermitteln konnten.“ der junge Mann machte eine kurze Pause und sprach dann weiter. „Ach ja, das hätte ich fast vergessen, Hubert war in beiden Städten für eine Eigenart bekannt. Jeden Abend trat er ans Fenster, ein altes, vergilbtes Pergament in der Hand, und murmelte die Worte, die darauf standen.“
Prinz Rios Gesicht begann sich aufzuhellen und je weniger düster sein Antlitz war, desto heller wurde der Himmel und nach wenigen Sekunden begannen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken zu scheinen.
„Nach wenigen Monaten gab es aber auch in der großen Schulstadt nichts mehr, was Hubert noch hätte erlernen können, also schickte man ihn weiter in die Universitätsstadt. Auf dem Weg dorthin lernte er einen alten, fahrenden Musikanten kennen. Mit diesem begann er durch die Lande zu ziehen und den Menschen mit ihrem Gesang Frohsinn zu bringen. Doch leider lebte der alte Mann nur noch wenige Jahre und Hubert war wieder allein auf der großen, weiten Welt.“
Der junge Musikant schritt langsam zu Prinz Rio und nahm dessen Hände in die seinen.
Die Sonne begann von einem strahlend blauen Himmel zu scheinen, als der junge Fremde eine leise Ballade zu singen begann:

Erinnere dich an mich,
wenn du in der Ferne bist.
Erinnere dich an mich,
wenn dich das Heimweh küsst.
Erinnere dich an mich,
wenn du dich alleine wähnst.
Erinnere dich an mich,
wenn du dich nach Liebe sehnst.

Lachend sprang Prinz Rio auf und warf sich dem jungen Mann in die Arme.
„Hubert, mein Hubert!“ rief er.
Und der ganze Hofstaat begann vor Freude zu lachen und zu weinen. Wenige Tage später wurde Hochzeit gehalten und wenn sie nicht gestorben sind, musizieren Rio und Hubert noch heute gemeinsam und lassen die Blaulieschen erblühen …

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