Manchmal glaubte Lady Sherly, dass sie Lord Miles seit ihrer frühesten Jugend kannte.
Nicht nur wegen seines oftmals sehr lausbubenhaftem Verhalten, sondern auch ob der Vertrautheit, welche sich binnen so kurzer Zeit zwischen den beiden Freunden eingestellt hatte.
Nach der Tragödie um Olivia hatte Lady Sherly sich die Wahl ihrer Freunde sehr wohl überlegt. So misstraute sie zu anfangs einem Jedem, ganz so, wie ihr Bruder Sherlock sie dies gelehrt hatte.
Wie lautete doch einer seiner beliebtesten Aussagen: „Jeder Mensch lügt!“.
Das implizierte dann natürlich, dass auch er log, aber auf diese Diskussion ließ sich Sherly lieber nicht ein. Die rhetorischen Fähigkeiten ihres älteren Bruders suchten sehr wohl seinesgleichen und nicht einmal der Familienschreck Moriarty schaffte es an die Fertigkeiten Sherlocks heran.
Dieser „Napoleons des Verbrechens“ ruhte hoffentlich niemals in Frieden in den Fluten der Reichenbachfälle.
Sherly schüttelte sich leicht, um die Gänsehaut zu vertreiben, welche nur durch den puren Gedanken an den Professor entstand.
Ja, sie hatte Lord Miles sozusagen auf Herz und Nieren geprüft und er hatte einen jeden ihrer Tests bestanden. Letzten Endes vertraute sie ihm, trotz oder vielleicht auch wegen der Geschichte mit Olivia.
Nun wurden Lady Sherlys Gedanken trübe.
Olivias Verrat wog schwer, doch letzten Endes konnte ihr Kind nichts für die Taten der Mutter, welche zum Tode durch den Strang verurteilt worden war.
Lady Sherly söhnte sich mit der Freundin aus, denn ein wenig hatte sie auch Verständnis. Es war sehr Grauenhaftes und Furchterregendes in der Gerichtsverhandlung über die Machenschaften von Lady Forehand und ihren Handlangern zu Tage gekommen.
Wie so oft bedauerte Lady Holmes, dass die Freundin sich ihr niemals anvertraut hatte. Vielleicht, wenn sie selbst aufmerksamer gewesen wäre, um die Empfindungen Olivias. Sie hätten gemeinsam vermutlich eine bessere Lösung gefunden. Doch sei es, wie es sei.
Olivias Kind ward im Gefängnis geboren und so gern Lady Sherly die süße, kleine Marie bei sich aufgenommen hätte, so war das London im ausgehenden 19. Jahrhundert noch nicht bereit, um mit einer ledigen Lady und deren adoptierten Sträflingskind umgehen zu können.
Lady Sherly fand in der Nähe des Landgutes der Familie Holmes ein wundervolles Ehepaar, welches keine Kinder bekommen konnte, das keinerlei Fragen stellen und dieses Baby liebevoll großziehen würde.
Sooft es Lady Sherly möglich war, besuchte sie das Landgut und die kleine Marie.
Ohne ihren Butler Jack und ihre Zofe Melissa hätte Lady Sherly diese heimlichen Zusammenkünfte niemals bewerkstelligen können.
Melissa legte sich für sie ins Bett, wenn sie, Sherly, angeblich wegen ihrer unsäglichen Migräneattacken mehrere Tage ruhen musste. Jack wiederum sorgte für ihre Sicherheit.
‚Ob die Dienstboten in, nun ja sagen wir, 250 Jahren auch so aufmerksam sein werden?‘, schoss es Lady Sherly durch den Kopf.
Jedenfalls gedieh Marie prächtig und Lady Sherly konnte sich mit diesem Ende fast versöhnen.
Der Hinrichtung Olivias und der anderen beiden Ladys hatte Sherly nicht beigewohnt, und darüber war sie unendlich froh. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in Wales, auf dem Holmeschen Landgut, und übergab Marie an ihre neuen Eltern.
Damals kannte sie Lord Miles noch nicht und selbst heute hatte sie ihn noch nicht über den wahren Grund ihrer häufigen Besuche auf dem Holmeschen Landgutes aufgeklärt.
Lord Miles, ihr lieber treuer Freund Miles. Lady Sherlys Gedanken klärten sich wieder.
Hätte es Miss Holmes oblegen, sich ihre leiblichen Brüder auszusuchen, so wäre ihre Wahl zweifelsohne auf Miles und Sherlock gefallen.
Doch selbst mit all der Abneigung wegen Mycrofts herablassendem Wesen und seiner boshaften Art mit Frauen umzugehen, ganz speziell natürlich mit den Intelligenten ihrer Gattung, liebte sie ihren ältesten Bruder, welcher tot zu ihren Füßen lag.
‚Entsetzlich, wenn Mama oder einer der Dienstboten ihn derart würdelos und entblößt aufgefunden hätten!‘, schoss es Lady Sherly durch den Kopf.
Doch nun konnte sie wenigstens die Familienehre wahren und den toten, nackten Leib ihres Bruders vor fremden Augen schützen.
Miles war gerade unterwegs zu Scotland Yard, um einen Beamten für die absolut notwendige Untersuchung herbeizuholen.
Leider befand sich ausgerechnet jetzt ihr zweiter Bruder Sherlock auf einer Geheimmission Ihrer Majestät. Natürlich hatte er wieder einen Kuraufenthalt in Brighton vorgeschoben, doch Lady Sherly wusste nun seit geraumer Zeit, dass dies nichts mit Sherlocks angegriffener Gesundheit, sondern mit einem Fall oder eben einer Regierungsarbeit zu tun hatte.
Nachdem der Name des Ortes Brighton fiel, war es der cleveren jungen Miss Holmes ein Leichtes eins und eins zusammen zu zählen.
Sherlock hatte sich mit Lady A. getroffen, einer engen Vertrauten Ihrer Majestät und eine Dame, deren Name niemals in der Holmes-Familie laut ausgesprochen wurde.
In Übersee gab es bei einer Entführung zweier hochrangiger Lords, welche bekannter Weise dem Geheimdienst des britischen Empires angehörten, wochenlang verschlüsselte Anzeigen in ausländischen Gazetten und der Times. Und genau ab dem Beginn von Sherlocks „Kuraufenthalt“ schwiegen jene Quellen.
Spionagearbeit war doch so simpel im Gegensatz zu einer Mordermittlung.
Was Lady Sherly wieder in die Realität zu Mycrofts Leiche zurückbrachte.
Er sah fast friedlich aus, wenn da nicht…
Erschrocken hielt Lady Sherly inne, genau wie bei Lady Forehands Tod wusste sie augenblicklich, dass es sich hier um einen Mordfall handelte.
Mit bebenden Fingern nahm sie ihr Taschentuch und versuchte nun jene lautlosen Tränen zu stoppen, welche begannen über ihre Wangen zu rinnen.
Beschämend für eine Lady aus hohem Hause und trotzdem so menschlich für eine liebende Schwester, gewährte sich Lady Sherly letztlich einige Minuten der Trauer, bevor sie ihren Verstand wieder die Führung über ihr Herz übernehmen ließ.
Ihr ältester Bruder war einer äußerst heimtückischen Todesart zum Opfer gefallen, nämlich Gift.
Wenn ihre Vermutung stimmte, war es ein langsamer, schmerzlicher Tod gewesen.
Nur blieb es vermutlich wieder an ihr, das Fremdverschulden zu beweisen und letztlich den Täter zu finden, denn die Beamten des Scotland Yards würden, aufgrund der kompromittierenden Auffindung der Leiche, lediglich Selbstmord in Betracht ziehen.
Hierbei handelte es sich um eines der üblichen Procedere der Ermittlungsbehörden. Gab es bei Straftaten, bei welchen das Opfer zur Aristokratie gehörte, bloßstellende Details oder Handlungen, behauptete man, es handele sich um einen Suizid. Dadurch sollte die vermeintliche Ehre des Opfers und das Ansehen dessen hochrangiger Familie geschützt werden.
Und da die Familie Holmes zum Hochadel des Landes gehörte, würde es vermutlich wegen Mycrofts nackter Leiche zu dieser abstrusen Verfahrensweise kommen.
Lady Sherly sah zur Wanduhr und überflog im Kopf das Zeitfenster, welches sie bis zum Eintreffen der Beamten von Scotland Yard noch haben würde.
Ganz so wie Sherlock es sie in seinen, von Dr. Watson veröffentlichten, Geschichten gelehrt hatte, begann Lady Sherly den Tatort zu untersuchen.
So lange wie es ihr möglich war, zögerte sie die Untersuchung ihres toten Bruders hinaus. Doch letztlich musste auch dies geschehen und sie durfte weder Spuren vernichten noch selbst welche hinterlassen.
Es war schier zum Verzweifeln, ließ sie Mycroft genauso liegen, würde es keine Ermittlungen geben, veränderte den Tatort, in dem sie ihren Bruder ankleidete, würde sie vielleicht Spuren vernichten.
Wütend stampfte Lady Sherly mit ihrem linken Fuß auf. Unbedachterweise verschob sie dabei einen Arm Mycrofts, welcher direkt neben ihrem Fuß lag.
Moment, was war denn das?
Ohne ihren kleinen Fauxpas hätte Lady Sherly die Blätter, welche unter Mycrofts Leiche lagen, völlig übersehen!
Vorsichtig zog sie die Bögen hervor und wünschte sich fast, sie hätte sie nicht gesehen und sie wären liegen geblieben. Doch wenn dies geschehen wäre, hätte Scotland Yard wirklich niemals eine Mordermittlung begonnen!
Etwas so Abscheuliches hatte Lady Sherly noch niemals erblickt. Lediglich gehört hatte sie davon und sich bei den Berichten immer redlich gewunden.
Auf schneeweißen dicken Blättern von feinstem Papier waren widerwärtige Zeichnungen, welche Mycroft als Päderasten und Sodomiten gebrandmarkt hätten.
Lady Sherly musste diese Papiere erst einmal „verschwinden“ lassen, um sie später genauer zu studieren.
Nachdem sie wieder zu Mycroft zurückkehrte, setzte erneut die Trauer um den Bruder ein und diesmal konnte sie sich einfach nicht beruhigen. So war es schließlich an Lord Miles, welcher wenig später mit einem Tross an Polizisten auftauchte, sie zu trösten.
Wie von Lady Holmes erwartet, endeten die langwierigen Untersuchungen mit dem Ergebnis der Selbsttötung.
Am Tag von Mycrofts Beerdigung war keine Spur vom berühmt-berüchtigten englischen Regen zu entdecken, im Gegenteil. Die Sonne strahlte von einem leuchtend blauen Himmel, ganz so, als wolle sie den riesigen Tross von Trauergästen wärmen.
Lady Sherly hielt den rechten Arm ihrer Mutter umschlungen und ihr Vater stützte seine Gemahlin auf der linken Seite. Die komplette Anverwandtschaft bis zum fünften Cousin der dritten Cousine gab dem Ermordeten das letzte Geleit.
Nur einer fehlte. Sherlock.
Ihre Majestät persönlich hatte seine Abwesenheit in einem Geheimbillett ihren Eltern gegenüber erklärt. Natürlich waren keine näheren Einzelheiten darin bekannt gegeben, sondern es wurde ihnen lediglich mitgeteilt, dass er in königlichem Auftrag unterwegs sei und unabkömmlich.
Dies tröstete Lord und Lady Holmes nur geringfügig, aber es kam wenigstens nicht zu einem Zerwürfnis mit ihren Zweitältesten.
Ein Strauß weißer Rosen, gänzlich ohne Karte, war heute Morgen geliefert worden. Lady Sherly hatte die zarten, seidigen Blütenblätter sanft liebkost, wohlwissend, dass es sich dabei um Sherlocks letzten Gruß an seinen älteren Bruder handelte.
Nachdem der Tag überstanden war, floh Lady Sherly in ihr zu Hause.
Selbst ihrem Freund Miles verweigerte sie die Bitte, sie zu sehen.
Die junge Dame haderte mit dem Tod des älteren Bruders und damit, dass ihre Ermittlungen stagnierten.
Sie hätte sich so gern auf Sherlocks Fähigkeiten verlassen, den Täter binnen kürzester Zeit zu finden.
Am meisten trug sie an der Last mit niemandem über alles sprechen zu können.
Ihre Eltern glaubten die Mär` der Selbsttötung, Miles tat das alles als Überkompensation ihrer Trauer ab und Sherlock war und blieb verschwunden.
„Oh, Lady Holmes!“, hielt ihr Butler Jack sie auf. „Dieser Brief wurde heute Morgen für Sie abgegeben!“
Sich bedankend empfing sie den Umschlag und zog sich gleich darauf, den Brief unbeachtet lassend, in ihr Schlafgemach zurück.
Am Abend, als sie die Lichter in ihrem Salon entzündete, fiel ihr Blick auf den unangetasteten Briefumschlag.
Eigenartigerweise trug er keinen Absender und die Schrift erschien ihr sehr linkisch, ja fast kindlich.
Neugierig geworden untersuchte sie den Umschlag von außen. Vorsichtshalber band sie sich ein dichtes Tuch über Mund und Nase, setzte ihre Brille mit dem Fensterglas auf und zog Handschuhe über, bevor sie den Brief öffnete. Immerhin war ihr Bruder Mycroft vergiftet worden!
Der Umschlag enthielt ein Blatt Papier, dessen Briefkopf aus dem Kurhotel in Brighton stammte, in welchem Sherlock sich offiziell befinden sollte.
Dieselbe kindliche Handschrift, wie auf dem Umschlag, hatte lediglich zwei Worte auf das Blatt gekritzelt: „Nur Du!“.
Zum ersten Mal, seitdem sie Mycroft gefunden hatte, war es Lady Sherly, als würde sie wieder atmen können. Eine Flut an Gefühlen brach über sie herein, welche sie lachen und gleichzeitig weinen ließen.
Nur Du!
Lady Sherly verstand die verschiedenen Facetten, welche Sherlock mit diesen zwei Worten ausdrücken wollte.
Nur sie war konnte den Fall lösen.
Sie sollte dies allein tun.
Und das war und blieb sie für die nächste Zeit auch, allein.
Als wäre eine Blockade in ihrem Kopf gebrochen worden, begann ihr Verstand die bisher fahlen Gedanken zu erkennen und zu sortieren. Alle Fakten fügten sich wie von Zauberhand zu einem Bild zusammen, in welchem es noch einige schwarze Flecken gab. Doch diese dunklen Stellen würde sie nun genauer betrachten und damit das Bild komplettieren.
Lord Miles kam aus dem Stauen nicht mehr heraus. Seine beste Freundin war langsam, wie eine herausgerissene Blume, dahingesiecht und er hatte dies nicht aufhalten oder verhindern können.
Und nun?
Sie war wie ausgewechselt! Sie sprühte vor Energie und ihre Augen funkelte schier vor Lebensfreude, trotz des traurigen Anlasses.
Genauso liebte er Lady Sherly, selbstredend nur als wäre sie seine kleine Schwester und nicht dieses verwöhnte Balg, welches seine Mutter völlig verhätschelte.
Lady Sherly sprach schnell und ohne Unterlass. Lord Miles versuchte redlich ihr zu folgen, doch einiges konnte sein Verstand nicht erfassen.
Ja, vor diesem tragischen Geschehen hatte Lady Sherly ihn einst „ihren Dr. Watson“ genannt, was dem jungen Lord wie einem Ritterschlag gleichkam. Er hatte die Ehre gehabt, den großen Sherlock Holmes einst mit seinem Wegbegleiter kennen lernen zu dürfen und in Aktion zu sehen. Ein geheiligtes Erbstück seiner Familie war entwendet worden und so waren letztlich auch Lady Sherly und er sich begegnet.
Die junge Lady begleitete ihren berühmten Bruder als Aspirantin für den Detektivberuf und war dabei so auffällig unauffällig, wie es sich sicher einer Dame nicht geziemte.
Bevor seine Gedanken zu sehr in die Erinnerungen abschweiften, versuchte Lord Miles den Worten seiner Freundin wieder zu folgen.
Moment, Mycroft war also an einer Fremdeinwirkung verstorben, nicht durch Selbsttötung.
Was war eine Fremdeinwirkung?
Gift…? Ah, Gift! Er wurde also ermordet!
Blaufärbung der Haut durch WAS?
Acon… nap…?
Hä?
Ah, blauer Eisenhut! Ja, davon hatte er schon gehört.
Oh, bei Gott, das war ein qualvoller Tod!
Mycroft hatte sich erbrochen?
Ja, als erfahrener Ermittler hätte Mycroft die Vergiftung erkannt und etwas dagegen unternommen, es sei denn jemand hätte ihn daran gehindert!
Lord Miles gab Lady Sherly recht, dass Mycroft bei einem Suizid ein wesentlich schmerzloseres Gift gewählt hätte. Sein Todeskampf musste viele grausame Stunden gewährt haben!
„Die Fasern bestätigten mir dann die Fesselung von Mycroft.“, erklärte Lady Sherly gerade.
Wo kamen denn die Fasern nun auf einmal her?
„Warte, warte!“, unterbrach Lord Miles den endlosen Redefluss seiner besten Freundin. „Ich kann dir nicht folgen!“
Mit einem bisschen Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, gestand sich Lady Sherly im Stillen ein, dass sie dies schon vor über einer Viertelstunde bemerkt hatte, aber ihre Gedanken waren gerade so klar gewesen…
Doch sie tat Lord Miles diesen Gefallen und erläuterte ihm erneut, dass sie die Vergiftung mit blauem Fingerhut anhand der Blaufärbung von Mycrofts Haut und dem Erbrochenen, welches sie gefunden hatte, vermutete. Bei der Untersuchung des Zimmers hatte sie dann Fasern an einem Stuhl im Zimmer ihres Bruders entdeckt. Aufgrund der Position dieser Fasern musste dort ein Mensch mit mindestens einer Körpergröße von 1,80 m gefesselt gewesen sein. Mycroft maß zu Lebzeiten 1,82 m. Eine Fesselung würde auch sein fehlendes Eingreifen bei den Vergiftungserscheinungen erklären.
Nun blieb natürlich noch die Frage nach dem Motiv und letztlich nach dem Täter.
Das Motiv lag auf der Hand.
Lady Sherly war mit einem Billett von Mycroft um ihren Besuch gebeten wurden. Demzufolge sollte der Tod des Bruders sie treffen, denn der Brief enthielt eine strikte Zeitangabe für ihr Eintreffen, welche wiederum nicht ungewöhnlich für den älteren Bruder war.
Mit dem nackten Körper und den gefundenen Zeichnungen sollte die Familie Holmes diskreditiert werden. Ein Rufmord hätte letztlich ebenfalls wieder Lady Sherly getroffen, denn von der Londoner Gesellschaft gemieden zu werden, war definitiv nicht sehr erbaulich.
„Doch warum will jemand dein Leben so zerstören?“, fragte Lord Miles entsetzt, nachdem Lady Sherly mit ihrer Zusammenfassung geendet hatte.
„Das ist eine gute Frage. Und um diese beantworten zu können, müssen wir noch etwas recherchieren. Und zwar im General Register Office!“
„Was bitte suchst du im Geburtsregister?“, wollte Lord Miles von seiner plötzlich schweigenden Freundin wissen.
„Nicht Geburts-, sondern Sterberegister.“, mit diesen Worten verstummte Lady Sherly mit einem grüblerischen Gesichtsausdruck.
Einige Zeit später erreichte die Holmsche Kutsche den gewünschten Zielort und die junge Lady blieb weiter stumm, außer zu dem Zeitpunkt, an welchem sie den Beamten vor Ort um das Sterberegister eines ganz speziellen Tages bat.
„Aber an diesem Tag ist nichts Weltbewegendes geschehen!“, versuchte der ratlose Lord Miles seine Freundin zum Reden zu animieren. Doch diese sagte weiterhin nichts, sondern kritzelte lediglich ein paar Zeilen in ein kleines Heft, welches sie in ihrem Retikül verstaut hatte. Danach stürmte sie zurück zur Kutsche und ließ sich zum städtischen Friedhof bringen.
Dem jungen Lord blieb nur ihr weiter zu folgen, wenn er die Auflösung erfahren wollte.
Auf dem städtischen Friedhof angelangt, begab sich Lady Sherly sogleich in den Bereich der Armengräber, welche nach Bestattungsdatum angelegt worden waren.
„Ha!“, rief sie plötzlich aus, zog ihr Schreibheft aus der Tasche und verglich irgendwelche Daten. „Wie ich es mir gedacht habe und doch… eines noch… wenn es so, ist dann…“
Vor sich hinsprechend lief Lady Sherly weiter zu den Gräbern im mittleren Bereich.
Hier wurden die Mitglieder des niederen Adels beerdigt und dem städtischen Friedhof war es gleich, ob es sich dabei auch um hingerichtete Strafgefangene handelte. Die Hauptsache war, jemand bezahlte die Beerdigungskosten.
„Oh mein Gott!“, aschfahl sank Lady Sherly vor drei unscheinbaren, nebeneinanderliegenden Grabsteinen auf die Knie.
Ein Stein sprach von der geliebten Freundin und Mutter Olivia, Lady August. Ein zweiter Stein sprach von der geliebten Schwester und Ehefrau Anastasia, Lady Weserly. Und auf dem dritten Stein stand „Ehre der Josephine M., Napoleon hätte seine wahre Freude an ihr“.
Nachdem sie vom Friedhof zurück gekommen war, gab ihr Butler Jack ihr das eben eingetroffene Billett.
Mit diesen Zeilen hatte Lady Sherly nicht gerechnet.
„Schön bin ich wie der Morgentau und cleverer als Moriarty. Du hast mir eine Schwester genommen, dafür nahm ich dir einen Bruder. Zwischen uns wird es immer ein Auge um Auge geben! Was du mir nimmst, hole ich mir von dir zurück. Deine persönliche Feindin M.“
Lady Sherly begab sich mit Lord Miles in ihren Empfangssalon und klärte dort den völlig entsetzten Freund auf.
„Am Tag vor der Hinrichtung von Lady August, Lady Weserly und Lady McMiller ist es eine unbekannte junge Frau verstorben, welche von ihrer Beschreibung her aussah wie Lady Weserly und Lady McMiller. Deswegen fuhren wir zum städtischen Friedhof, um zu schauen, ob die Dame beerdigt wurde. Für diesen Tag gab es keine Gräber, daher musste mit der Leiche etwas Anderes geschehen sein. Deshalb gingen wir zum Grab der Mörderinnen von Lady Forehand und dort fand ich die Antwort. Moriarty, der größte Erzfeind meines berühmten Bruders Sherlock wurde der „Napoleon des Verbrechens“ genannt und eine der Damen hatte eine Widmung auf ihrem Grabstein an ihn gerichtet. Mycroft ist meinetwegen gestorben.“, Lady Sherly setzte sich auf eine Chaiselongue, um sich zu sammeln. „So wie Moriarty meinen Bruder herausgefordert und gequält hat, so wollte sie mich herausfordern und quälen. Außerdem wollte sie beweisen, dass sie cleverer ist, als die britische Justiz und die Familie Holmes!“
„Und wen meinst du?“, fragte Lord Miles nach.
„Lady Josephine McMiller.“
„Aber sie wurde doch mit den anderen beiden hingerichtet!“, warf der Freund ein.
„Sie hat einen Weg gefunden, die unbekannte tote Frau für sich selbst auszugeben, denn nur so ergibt das Verschwinden der Leiche einen Sinn.“
Lady Sherly sandte sofort einen Eilbrief nach Brighton, mit nur einem Buchstaben. M.
Die Antwort kam einige Wochen später.
„Das wird sie büßen. Gut, dass du eine echte Holmes bist.“