‚Ein gediegenes Ambiente.‘ dachte Michael begeistert, als er das Restaurant betrat. Alles war in Pastelltönen gehalten. Leise schwelgende Musik und das Gemurmel der Gäste bewirkten keinen unangenehmen Empfang. Einladend gedeckte Tische mit sichtbar bequemen Stühlen waren scheinbar wahllos im Raum verteilt, immer im diskreten Abstand zum nächsten. Sanftes, indirektes Licht und frischer, schlichter Blumenschmuck rundeten die Atmosphäre ab.
Der Gaston brachte Michael an einen der hinteren Tische, an welchen es durch die abgeschirmte Position beinahe vollständig dunkel war.
Michael leckte sich prüfend über die Zähne und zog verstohlen sein locker sitzendes Jackett zurecht.
Er war freilich keine überwältigende Schönheit, eher der hagere, schlaksige Typ, doch blitzten seine Augen voller Humor und die leichte Falte, welche sich auf der Stirn bildete, zeugte von langer, intensiver Grübelei. Feingliedrige, lange, gepflegte Hände verrieten, dass er keinen handwerklichen Beruf ausübte. Kecke Locken zerstörten jeglichen Versuch, aus seinem braunen Haarwirrwarr eine Frisur zu machen.
Michael nahm vorsichtig seine zart gelbe Rose und hielt sie erwartungsvoll der jungen Frau, welche bereits am Tisch saß, entgegen.
„Ähm, Dia, das ist für Sie … ähm, bitte schön.“ murmelte er verlegen.
Ein strahlendes Lächeln schien über das Gesicht der Dame zu blitzen, so weit dies aufgrund der Lichtverhältnisse zu beurteilen war.
„Nehmen Sie bitte Platz, Michael.“ bat Dia verlegen. „Sie ist wunderschön, vielen Dank!“
Wie ein Schatz von größtem Wert legte sie die Rose vor sich auf den Tisch. Für einen Moment glaubte Michael zu erkennen, das ihre Augenfarbe blau war, aber eher mehr ins grau gehend, wie die aufgewühlte See.
„Ich habe nicht geglaubt, das ich Sie noch einmal sehe.“ gestand Dia leise ein. „Ich freue mich sehr, dass Sie wiedergekommen sind.“
Fast jungenhaft grinste Michael sein Gegenüber an. „Sie sind doch die einzige, die über meine Witze lacht!“ stellte er schmunzelnd fest.
„Und Sie über meine!“ ein glockenhelles Lachen erklang. Andächtig lauschte der junge Mann dem verhallenden Ton.
Innerhalb kürzester Zeit hatten beide das abgebrochene Gespräch der letzten Woche wieder aufgenommen.
Je mehr sie miteinander sprachen, je besser sie sich verstanden und je mehr Michael Dia in sein Herz schloss, desto schöner und heller schien sie zu werden.
Er war sicher kein Mensch, der sich gern von Vorurteilen leiten ließ, doch Dia war leider von der Natur sehr benachteiligt wurden. Trotz der Dunkelheit hatte er dies wahrnehmen können. Umso verwunderter war er, als er feststellte, dass er sie amüsant und intelligent fand. Michael genoss die Zeit mit ihr und jede gemeinsam verbrachte Minute schien ihre Zähne, welche von schief nach schräg standen, gerader zu rücken. Die schmalen Lippen begannen sich zu füllen, die strähnigen Haare zu fliegen. Tränende, tonlose Augen erhielten plötzlich Farbe und wunderschön gebogene Wimpern. Eine Gestalt, die wahrscheinlich nicht einmal Rubens gefallen hätte, schrumpfte in annehmbare Formen.
Michael war fast minütlich versucht, sich über die Augen zu reiben oder gleich ganz zum Augenarzt zu rennen.
„Tanzen, ich?“ Dias schwielige Hände vollführten ein Stoppzeichen, um schlank und gepflegt wieder auf dem Tisch zu landen. „Ich glaube, Sie brauchen Ihre Füße noch!“
Gebannt von ihrer ganzen Erscheinung konnte Michel nicht reagieren. Mit offenem Mund starrte er die Frau ihm gegenüber an.
„Michael, ist alles in Ordnung?“ besorgt versuchte Dia sich weiter in den Schatten zurückzuziehen.
„Nein!“ rief der junge Mann erschrocken auf. „Nicht, bitte versteck dich nicht vor mir!“ Er bemerkte nicht, dass er das vertrauensvolle Du verwendete. „Bitte, du warst gerade so wunderschön.“
Michael griff nach ihrer Hand und versuchte sie näher an den Tisch zu ziehen.
„Schön? Ich?“ fragte Dia atemlos.
„Ja, du!“
Etwas später verließen die beiden das Restaurant und jeder starrte dem ungewöhnlichen Paar hinterher. Ein Akademiker, zu mindestens nach seiner Kleidung zu urteilen, schlaksig und mit einem Gesicht, was man vielleicht noch als angenehm bezeichnen konnte. Bei ihm eingehakt und ihn strahlend verliebt anblickend eine Frau, die mit ihrer Schönheit der Sonne Konkurrenz machen konnte.
Spätabends lag die Straße vor dem Restaurant einsam und verlassen. Ein leises Rauschen war zu vernehmen, ein Blätterrauschen.
Der Wind fegte über den Asphalt und schleuderte eine alte Tageszeitung durch die Luft. Aufgeschlagen fiel sie zu Boden und schlitterte noch einige Meter weiter. Als sie zum Stillstand kam, konnte man erkennen, das sie bei der Anzeigenrubrik: „Sie sucht Ihn“ ihr Spiel mit den Naturgewalten beendet hatte. Eine kleine Annonce fiel sofort ins Auge. Man konnte einen geschliffenen Diamanten sehen, in welchem der Text eingetragen war.
„Ungeschliffener Rohdiamant sucht Mann, der sie mit dem richtigen Werkzeug zum Schmuckstück macht. Halte mich ins Licht und erkenne jede meiner Fassetten. Diamant „Dia“ Stein“.
Ein Gedanke zu „Dia“
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