„Saundersburgh, auf ein Wort!“, endlich traf Lord Anthony Gadwington seinen zukünftigen Schwager allein an. Aus einer Laune heraus war Lord Gadwington in seinen Club gefahren, in welchem auch Lord Miles Mitglied war. Sonst war Lord Saundersburgh nur mit seiner Schwester, Lady Gretchen oder diesem unsäglichen Plagegeist Lady Holmes anzutreffen.
‚Ja, manchmal sind Herrenclubs doch von Vorteil.‘, schmunzelte Lord Anthony in sich hinein.
„Lord Gadwington, was verschafft mir die Ehre?“, fragte Lord Miles, welcher sich gerade auf dem Heimweg befand und bereits die letzten Stufen der Treppe zur Straße erreicht hatte.
„Was ist das zwischen Euch und dieser Möchtegern-Detektivin?“, platzte Lord Anthony ohne weiter nachzudenken heraus.
„Wie meinen?“, hakte Lord Miles konsterniert nach.
„Ihr gedenkt meine Schwester zu ehelichen, also, was ist das dann mit dieser Unruhestifterin Lady Holmes und Euch?“, verlangte Lord Anthony erneut zu wissen.
Lord Miles Saundersburgh war von der Statur her wesentlich schmaler als Lord Gadwington und gut einen Kopf kleiner, doch er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, bevor er dem Bruder seiner zukünftigen Gemahlin antwortete.
„Meint Ihr nicht, das geht nur Lady Holmes und mich etwas an?“, und mit erhobener Hand, den Einwand von Lord Gadwington unterdrückend, fügte er hinzu. „Und wenn, hätte wohl lediglich Lady Gretchen das Recht, mich auf diese Weise zu befragen! Guten Tag!“
Danach lupfte Lord Saundersburgh seinen Hut zum Gruß und ließ einen erstaunten Lord Gadwington zurück.
So viel Schneid hatte Lord Anthony Lord Miles gar nicht zugetraut, wenn nur dieser kleine weibliche Plagegeist ihn nicht so derart stören würde…
Eine Horde Straßenkinder rannte über die Stufen und rempelte alle anwesenden Lords an.
Nachdem die Lausbuben verschwunden waren, begann ein Lord nach dem anderen aufzukreischen, er wäre bestohlen worden.
Wütend stellte auch Lord Gadwington fest, dass seine 5 Schilling, welche er vor dem Ausgehen in die Rocktasche gesteckt hatte und seine Taschenuhr gestohlen worden waren. Ausgerechnet ihm, einem hohen Beamten des Scotland Yards, passierte so ein Missgeschick. Nicht Lord Gadwington den Spott fürchtete oder dass die Taschenuhr teuer war, nein, diese Uhr war ein Geschenk gewesen und er verband eine sehr glückliche und unbeschwerte Phase seines Lebens mit ihr.
Mistletoe hasste es, sein jahrhundertealtes Familienwissen an solche unwürdige Kreaturen, wie sie vor ihm saßen, weiterzugeben. Doch eine Laune des Schicksals hatte ihn nach London verschlagen und in dieser kostspieligen Stadt musste man jede Möglichkeit nutzen, um ein paar Pennys zu verdienen.
Oh nein, er lebte nicht in dem schwelgerischen Luxus, welchen er aus frühen Kindertagen in seiner irischen Heimat kannte. Ein Zuber heißes Wasser, am Ende der Woche, und ein ungezieferfreies, halbwegs sauberes Zimmer waren die einzigen Annehmlichkeiten, die er sich in London leistete.
Missmutig schaute Mistletoe in die Runde der Straßenjungen. Sie hatten gerade eine Reihe Lords ausgeraubt, um ihre Fingerfertigkeiten zu üben und ihn bezahlen zu können.
Zu ihm, Mistletoe, kamen sie nun um das geheime Wissen von Kräutern und deren Wirkung zu erfahren. Vor allem an den Pflanzen des Giftgartens, den der alte Druide angelegt hatte, waren diese Spitzbuben interessiert. Sie wollten die Boshaftigkeit von Bilsenkraut, Eisenhut und Belladonna beherrschen lernen und diese dann gezielt für ihre Gaunereien einsetzen.
Obwohl es doch eher Lady M. war, die diese Missgeburten von ihm ausbilden ließ. Nach der fehlgeschlagenen Folterung von Mycroft Holmes durch sie und ihre Handlanger hatte Lady M. Kontakt zu ihm aufgenommen.
Er, Mistletoe, war nicht nur der älteste Druide der Stadt, sondern auch der mit dem größten Wissens- und Erfahrungsschatz. Und Lady M. schlug man keine Bitte ab, nicht wenn man noch länger leben wollte.
So schickte sie ihm jeden Monat aufs Neue schmutzverkrustete Straßenjungen, die man kaum voneinander unterscheiden konnte.
Nur die klügsten dieser Rotzbengel kamen zu Lady M. und wurden ihre Handlanger und Spießgesellen. Aber da wusste Mistletoe nichts Genaueres und wollte es auch gar nicht wissen.
Er und diese sieben Tölpel würden heute einen Sirup aus Belladonna herstellen, der, je nach Stärke, ein Schlafmittel oder ein Gift sein konnte. Morgen würden sie sich dem Bilsenkraut widmen und noch derlei anderen Giftpflanzen.
„Déanann a dáileog an nimh!“, brummelte Mistletoe in der Sprache seiner Vorfahren. Und auch wenn er glaubte, dass diese Dummerjane seine Übersetzung weder würdigen noch verstehen konnten, fügte er hinzu: „Die Dosis macht das Gift!“
Der alte Druide selbst nutzte lieber die Mandragora zur Betäubung, doch leider wuchs die Alraune im kalten England nicht.
Mistletoe erklärte also, was man dem Sirup beimischen musste, um den leicht süßlich-bitteren Geschmack und dieses pelzartige Gefühl im Mund, welche Belladonna hinterließen, zu überdecken.
Ein vorwitziger, sehr klein geratener Kerl wollte wissen, wie viel man verabreichen musste, damit Belladonna als Aphrodisiakum wirkte.
Das hob Mistletoes Laune erheblich, denn so konnte er mit diesen Kanaillen wenigstens einige derbe Sprüche klopfen.
Lord Anthony Gadwington beobachtete missmutig seine Schwester Lady Gretchen Gadwington und deren Freundin Lady Sherly Holmes. Die beiden Damen standen tuschelnd und kichernd in einer Nische. Er konnte nicht erkennen, was der Grund ihres Amüsements war, doch erheiterte es die beiden über alle Maßen.
Noch während Lord Anthony überlegte, was sein nächster Schritt sein würde, gab ihm seine Schwester ein Zeichen, dass seine Anwesenheit erwünscht wurde.
„Du wirst es nicht glauben, lieber Bruder, was Lady Sherly für eine wundervolle Geschichtenerzählerin ist.“, plauderte Lady Gretchen, als ihr Bruder endlich die beiden Damen erreicht hatte, los. „Aber darum habe ich dich nicht hergebeten. Hast du von dem Skandal letzte Woche beim Ball von Lady Werthenbrook gehört?“
Als Lord Anthony die Frage verneinte, begann seine Schwester ihm die neusten pikanten Nachrichten aus dem Londoner Peerage, dem Hochadel, zu berichten.
Im Laufe der letzten Monate waren auf verschiedenen Soireen, Abendgesellschaften und Bällen mehrere hochrangige Damen der Gesellschaft ausgeraubt wurden. Gerüchten zufolge hatten die schon etwas älteren Damen getanzt und waren dabei in Ohnmacht gefallen. Ihre Begleiter brachten sie zwar sofort in einen abgelegenen Raum, doch als die Damen wieder erwachten, war ihr kostbares Geschmeide, mit welchem sie sich an diesem Abend geschmückt hatten, gestohlen.
Bei den Begleitern der Ladies handelte es sich um verschiedene Lords und hochrangige Offiziere, welche in der Londoner Gesellschaft als über jeden Zweifel erhaben galten.
Auch eine jeweilig sofort eingeleitete Suchaktion half nicht beim Wiederauffinden des Schmucks.
Lord Anthony hatte sehr wohl in seiner Tätigkeit bei Scotland Yard von den Vorfällen gehört. So wusste er auch, dass die Ermittler über keine heiße Spur verfügten. Selbstverständlich würde Lord Anthony diese Tatsache nicht vor den beiden Damen ausbreiten.
Wer wusste schon, was sonst dieser Blaustrumpf Lady Holmes mit den Informationen anfing. Am wenigsten könnten das Yard und Lord Anthony gebrauchen, dass Lady Sherly sich in diesen Fall einmischte und versuchte ihn zu lösen. Allein schon der Gedanke an die vor ihm stehende, in zartes blau gekleidete, Lady bereitete ihm Unbehagen, ganz zu schweigen von dem Duft ihres leichten Parfüms oder gar dem herausfordernden offenen Blick, mit welchem sie ihn gerade musterte.
Lord Anthony wartet höflichkeitshalber mit der Verabschiedung von den beiden Damen bis zum Beginn des Tanzes.
Zwei Gentlemen, welche Lord Anthony als Lord Axel und Major Dancers identifizierte, geleiteten die Damen auf die Tanzfläche, um sich formvollendet mit ihnen zu den Klängen der Musik zu bewegen.
‚Vielleicht hätte ich mich doch in Lady Sherlys Tanzkarte eintragen sollen…‘, grübelte Lord Anthony gerade vor sich hin, als er einen entsetzten Aufschrei seiner Schwester vernahm.
„Sherly!“
Böses ahnend bahnte sich Lord Gadwington einen Weg durch die Schaulustigen.
Seine Schwester, Lady Gretchen, lag völlig aufgelöst in den Armen ihres Verlobten Miles, während Major Dancers gänzlich ratlos auf die zu Boden gesunkene Lady Holmes starrte.
Wie auch immer es Saundersburgh so schnell auf die Tanzfläche geschafft hatte, Lord Anthonys erster Gedanke galt Lady Sherlys Wohlergehen. Er hob die leblose Gestalt auf seine Arme und ließ sich in ein Gästezimmer im oberen Stock geleiten.
Der völlig schlaffe Körper und die flache Atmung von Lady Sherly besorgten den erfahrenen Soldaten und Polizisten erheblich. Der weibliche Leib, den er nun vorsichtig auf das große Bett legte, glühte regelrecht und ihr ansonsten bleiches Gesicht begann rote Flecken aufzuzeigen. Der Puls der Lady raste. Ihre Pupillen schienen unnatürlich groß zu sein, für die ansonsten geschlossenen Lider.
„Zweifelsohne Gift!“, erklang die überraschend klare Stimme seiner Schwester hinter ihm. „Genau das hatte sie befürchtet!“
„Was hat sie zu sich genommen?“, Lord Anthony musste sich kurz räuspern, bevor seine Stimme wieder normal erklingen konnte. Natürlich war ihm diese Unruhestifterin ein Dorn im Auge, aber das?!
„Sie nimmt nur noch von ihren eigenen Dienern zubereitete Speisen zu sich. Ihre Zofe Melissa oder ihr Butler Jack überwachen stets deren Zubereitung.“, gab nun Lord Miles von sich, der ebenfalls mit in diesem Gästezimmer zugegen war.
Lord Anthony nickte nur knapp, ob der klugen Entscheidung von Lady Holmes. Immerhin war ihr Bruder Lord Mycroft Holmes vor nicht allzu langer Zeit an einer Vergiftung gestorben. Mit fachkundigen Händen strich er über die Glieder der Bewusstlosen, um weitere Verletzungen auszuschließen. Doch nicht einmal dabei schien Leben in Lady Sherlys Körper zu kommen.
Eine Stunde später, nachdem der herbeigerufene Arzt Lady Holmes untersucht hatte und zu demselben Schluss wie die drei anwesenden Mitglieder des höheren englischen Adels, standen Lord Anthony und Lord Miles leise, aber sehr heftig, diskutierend in einer Ecke des Gästezimmers.
„Nein, Ihr nehmt sie nicht mit in Euer Haus!“, fuhr Lord Miles gerade Lord Anthony an.
„Hier kann sie nicht bleiben, mit dieser sensationslüsternen Bagage da unten!“, antwortete Lord Anthony nicht minder wütend.
„Alleine die Tatsache, dass Ihr wie ein Berserker auf die Tanzfläche gestürmt seid und jetzt hier mit uns über Lady Sherlys Wohlbefinden wacht, hat jede Menge Wasser auf die Mühlen dieser Klatschbasen getragen! Gedenkt doch bitte, was für Gerüchte im Umlauf wären, wenn Ihr sie bei Euch unterbringt!“, versuchte Lord Miles es mit einer vernünftigen Argumentation.
„Als ob dieses Gemunkel jemand glauben würde, der Lady Holmes näher kennt!“, ereiferte sich Lord Anthony betroffen. Er hatte nur das Beste für die Lady gewollt.
„Ich lasse es nicht zu, dass du den Ruf meiner besten Freundin und Brautjungfer beschädigst, Bruder!“, mischte sich nun Lady Gretchen in die Diskussion. „Ich habe bereits Anweisungen gegeben, dass Sherly zu mir gebracht wird und nach Melissa und Jack rufen lassen!“
Die resolute Aussage der sonst so sanften Dame überraschte Lord Miles und Lord Anthony nicht nur, sondern brachte die Herren auch zum Schweigen.
So wurde Lady Holmes eilends in das Heim von Lady Gretchen Gadwington gebracht.
Während der Fahrt wurde die Bewusstlose unruhig und drehte sich rastlos von einer Seite auf die nächste. Auch versuchte sie sich ihrer zartblauen Ballrobe zu entledigen, ganz so, als würde sie darin verglühen.
Im Hause von Lady Gadwington warteten bereits der Butler Jack und die Zofe Melissa auf ihre kranke Herrin. Rasch wurde Lady Sherly in ein komfortables Gästebett getragen. Melissa entkleidete sie bis auf das Unterhemd und Jack organisierte verschiedene Utensilien für die Pflege.
„Hat sie erbrochen?“, wollte Melissa von Lady Gretchen wissen, welche mit Argusaugen über jede der Handbewegungen der Diener wachte.
„Nein, warum?“, antwortete die Dame konsterniert.
„Dann werden wir das jetzt machen!“, erwiderte die Zofe ohne nähere Erläuterungen.
Lady Gretchen wusste um die Loyalität von Lady Sherlys Dienerin, deswegen ließ sie sie gewähren, als diese versuchte, die Bewusstlose zum Erbrechen zu bringen.
„Das der Arzt dies nicht bereits getan hat…“, merkte Lady Gretchen an, den bei genauerem Überlegen erschloss sich ihr das Vorgehen der Zofe.
„Ärzte!“, schimpfte der Butler Jack vor sich hin, während er eine Wanne mit eiskaltem Wasser für seine Lady vorbereitete. „Was anderes als Aderlass und Laudanum kennen diese Stümper nicht!“
Von seinem weiteren Gebrummel konnte Lady Gretchen nur verschiedene Wortfetzen verstehen. Fast hätten ihr diese ein Lächeln auf das Gesicht gezaubert, aber nur fast. Zu groß war die Sorge um die liebste Freundin.
Nachdem die Zofe Melissa Lady Sherly wieder gesäubert hatte, legten sie diese mit Hilfe von Jack und Lady Gretchen in bereitgestellten Badezuber.
Mehr als ein kleines Zucken, ob des eiskaltem Wassers, war der jungen Lady Holmes nicht anzumerken.
„Stinking Nightshade oder Belladonna!“, murmelte der Butler vor sich hin. Zwischen ihm und Melissa entspann sich eine Diskussion über die weitere Vorgehensweise.
Mehr als das Kühlen und Überwachen ihrer Lady blieb ihnen letzten Endes nicht übrig. Und solange diese bewusstlos war, konnte man ihr kein Gegengift verabreichen.
Nun gut, bei Belladonna konnte nur Gott helfen, aber bei Bilsenkraut könnte man es mit Carbo medicinalis versuchen, ein neues Gegengift im modernen Europa, wie Lady Sherly vor nicht allzu langer Zeit berichtet hatte. Auch Jack wusste das Aktivkohle schon seit langer Zeit von Naturheilern und Kräuterkundlern verwendet wurde.
Natürlich kamen auch noch viele weitere Gifte infrage. Bei den meisten von ihnen konnte lediglich ein gesunder Körper dieses Verderben erfolgreich bekämpfen. Oder man begab sich auf diesen einen Weg ohne Wiederkehr.
Die Anwesenden konnten nur zwei Dinge tun, warten und beten.
Die Nacht hatte in den Tag gewechselt und Melissa, Jack und Lady Gretchen waren unterdessen von Lord Miles und Lord Anthony bei der Beobachtung von Lady Sherly abgelöst worden.
Die beiden Herren sprachen kaum miteinander und saßen ruhig da, jeder gefangen in seinen eigenen Gedanken.
Lord Anthony beobachtete Lord Miles liebevollen Umgang mit der Kranken und verstand nicht, wie seine Schwester dies tolerieren konnte. Doch letztlich überwog seine Sorge, denn der Tag neigte sich bald dem Ende und eine Besserung von Lady Holmes‘ Zustand war nicht auszumachen.
Lord Miles Sorgen beschränkten sich nicht nur auf die liebste Freundin, welche immer noch völlig reglos in ihrem Bett lag. Der Anblick seiner Braut, Lady Gretchen, hatte Lord Saundersburgh noch härter getroffen. Das bleiche Gesicht, die vor Tränen schimmernden Augen, die gramgebeugte Gestalt hatten sich in Lord Miles Gedächtnis gebrannt und er schwor sich, dass er seine Lady schützen würde, vor jeglichem Unbill schützen würde und wenn er Gretchen einsperren müsste…
Fast hätte sich ein Lächeln auf Lord Miles‘ Gesicht geschlichen, aber nur fast…
„Ich habe solch einen Durst!“, wisperte Lady Sherly mit geschlossenen Lidern von ihrem Lager aus. Die Lords sprangen sofort an die Seite von Lady Sherly.
Die folgenden Stunden waren von wirren Erzählungen der Lady und ihrem Versuch noch mehr zu Trinken geprägt. Ihr schien es, als würde sie sich durstig trinken.
Als Jack und Melissa die Lords bei ihrer Wache ablösten, flüsterte Lady Sherly Jack zu: „Hyoscyamus niger!“
Der Butler antwortete mit einem „Hab ichs doch gewusst!“.
Danach versuchten sie mit vereinten Kräften Lady Sherly die medizinische Kohle einzuflößen, was zwar aufgrund des bereits vergangenen Tages schon zu spät sein würde, doch Jack wollte nichts unversucht lassen, um seine Herrin zu retten.
Hyoscyamus niger, schwarzes Bilsenkraut oder auch Stinking Nightshade, stinkender Nachtschatten, genannt, galt sowohl als zuverlässige Heilpflanze und als beliebte Mordwaffe.
Nur wirklich Kräuterkundige sollten sich an die Verwendung von Bilsenkraut wagen, denn eine Überdosierung endete fast immer tödlich. Die Aktivkohle konnte, zeitig genug eingesetzt, das Schlimmste verhindern, doch musste sie in sehr großer Menge zu sich genommen, um wirkungsvoll zu sein.
Die Nacht brach herein und Lady Sherlys Fieberschübe wurden von Halluzinationen abgelöst und diese wiederum von einem an Bewusstlosigkeit grenzenden Schlaf. Nicht ein klarer Moment schien der jungen Lady mehr vergönnt zu sein.
So wechselten sich die Herrschaften in den folgenden Tagen mit den Dienern bei der Versorgung von Lady Holmes ab und es blieb ihnen wiederum nur zu warten und zu beten.
Vier Tage waren nun ins Land gegangen. Die Frage nach der Art, wie es zu dieser Vergiftung hatte kommen können, war letztlich von Lady Gretchen aufgeklärt worden.
Völlig untypischerweise hatte Lady Sherly sich auf dem Ball zu einem Glas Champagner hinreißen lassen. Sie beklagte sogar noch den eigenartigen Geschmack des Getränks. Doch Lady Gretchen glaubte, sie wäre den Alkohol nur nicht mehr gewöhnt und die beiden Damen hatten äußert amüsiert gekichert. Danach hatte Lady Sherly noch ein paar Geschichten über betrunkene Lords und Ladys erzählt, welche sie höchstselbst erlebt hatte.
Mit der Information über den Champagner begab sich Lord Anthony tags darauf ins Scotland Yard und ließ die geschädigten Ladys des Londoner Hochadels noch einmal befragen.
Und Tatsache berichteten diese ebenfalls von Symptomen wie Verwirrtheit, Übelkeit, Müdigkeit, Fieber und Erbrechen am Tag nach den Diebstählen.
So formte sich schließlich ein Bild.
Alle Damen hatten vergiftete Getränke zu sich genommen und als diese dann betäubt waren, worden sie, in einem unbeobachteten Moment, beraubt.
Nur Lady Sherly hatte nach ihrer Ohnmacht noch ihr vollständiges Geschmeide bei sich, zu mindestens hatte dies ihre Zofe Melissa bestätigt. Vermutlich hatte Lady Gretchens und Lord Miles schnelles Eingreifen den Diebstahl verhindert.
„Sie wird es überstehen!“, begrüßte Lady Gretchen ihren Bruder dann am Abend des fünften Tages in ihrem Haus.
„Ist sie erwacht?“, mutmaßte Lord Anthony sogleich.
„Nein, sie ist nach wie vor ohne Besinnung. Doch Jack meinte, das Gift könne sie jetzt nicht mehr töten.“, mit einer beschwichtigenden Handbewegung ergänzte Lady Gretchen ihre Aussage. „Er ist in der Kräuterkunde bewandert und ich vertraue ihm, genauso wie es auch Sherly tut.“
Ein wenig später erschien auch Lord Miles und Lord Gadwington bat diesen und seine Schwester ihn zu Lady Sherly zu begleiten.
Lady Sherlys treue Diener wachten über sie und erhoben sich sogleich, als die Herrschaften eintraten.
„Bleiben Sie bitte sitzen.“, bat Lord Anthony ungewohnt höflich. „Es betrifft Sie ebenso wie uns, was sich in den letzten Stunden zugetragen hat.“
Nach dem Lady Gretchen und Lord Miles ebenfalls Platz genommen hatten, berichtete Lord Anthony von den jüngsten Ereignissen. Er erzählte von den Ermittlungsergebnissen, welche immerhin Aufschluss über die Ausführung der Diebstähle ergeben hatten. Außerdem konnte festgestellt werden, dass bei den Bällen und Abendgesellschaften nicht nur das Stammpersonal des jeweiligen Haushaltes anwesend gewesen war, sondern dass die Herrschaften noch zusätzliche Stundenmädchen eingestellt hatten. Jedoch konnte man keine Übereinstimmungen bei den zusätzlich engagierten Dienstmädchen feststellen, da sich schlicht und ergreifend keiner an auch nur eine von ihnen erinnerte.
„Heute Morgen bekamen wir dann eine Lieferung bestehend aus zwei Paketen jeweils mit einer Nachricht versehen von Lady M.“, Lord Anthony wartete, bis die Anwesenden sich nach dieser Information wieder beruhigt hatten.
Lady M., Lady Josephine McMiller, Intimfeindin von Lady Sherly, hatte ihre Finger im Spiel? Das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Wir erhielten die Leiche einer jungen Frau namens Frances Miller. Sie ist dafür bekannt als Stundenmädchen zu arbeiten. Und wir bekamen die Leiche eines alten Mannes namens Benjamin Mistletoe. Er ist ein alter Ire und verdingt sich gern als Kräuterkundler. Die erste Nachricht von Lady M. war an Miss Holmes gerichtet und in ihr stand: Du schuldest mir ein wertvolles Collier! Und in der zweiten Nachricht, die an Scotland Yard gerichtet war, stand: Sie sollten Lady Holmes lediglich den Schmuck stehlen und hätten ihr beinahe ihr Leben gestohlen. Strafe muss sein. Déanann a dáileog an nimh!“
„Die Dosis macht das Gift!“, übersetzte die leise flüsternde Stimme der gerade erwachten Lady Sherly.