1. Kapitel
Ein Schrei hallt durch die Nacht.
Schrill, durchdringend, unmenschlich.
Ein Körper wird von der Straße gestoßen, ein zweiter schleudert durch die Luft. Die zweite Gestalt schlägt schwer auf einem der am Bürgersteig parkenden Autos auf. Scheinbar leblos bleibt sie liegen.
Sie?
Erst jetzt bemerken die anderen Passanten, dass es eine Frau ist, die auf dem Wagen liegt. Der zu Boden gestürzte Mann scheint für alle Augenzeugen im Zeitlupentempo aufzuspringen und zu dieser schmächtigen Person zu laufen.
Raunen wird hörbar. Anweisungen nach Polizei und Krankenwagen werden geschrien.
Angstgeruch steigt auf und Unglauben. Die Geschehnisse werden vor dem geistigen Auge wieder und wieder abgespielt. Eine Frau, kaum 1,65 m groß, maximal 50 Kilogramm schwer, stößt einen gut 20 cm größeren und mindestens ebenso viel Kilogramm schwereren Mann von der Straße, um selbst vom Auto erfasst zu werden.
Endlich hat der Mann die Frau erreicht. Waren wirklich erst einige Sekunden vergangen? Waren da nicht schon Sirenen vernehmbar? Konnte man diesen beiden Bedauernswerten vielleicht helfen? Wann würden die Rettungsdienste hier ankom…
Wieder hallte ein Schrei durch die Nacht. Noch furchterregender als der erste.
Menschlich?
Keiner mochte fassen, dass dieser Laut menschlicher Herkunft war. Aber dennoch war es so. Dieser Mann hatte ihn ausgestoßen. Den schlaffen Körper der Frau an seine Brust gepresst, sie und sich wiegend. Jeder der Anwesenden hatte im Laufe seines Leben schon das eine oder andere Leid erfahren. Doch dieses Geräusch erschütterte jeden der sich im vernehmbaren Umkreis befand. Animalischer Hass gepaart mit unheilsamen Schmerz und hoffnungsloser Verzweiflung.
Der Rettungswagen hatte gerade den letzten Einsatz beendet und war eigentlich auf dem Weg in den Feierabend. Doch sowohl der Fahrer als auch die Sanitäter hörten ihn.
Diesen Schrei. Das Blut schien ihnen in den Adern zu gefrieren.
Dann sie sahen die Frau durch die Luft schleudern und aufprallen. Sie sahen den Mann und hörten auch den zweiten Schrei, Laut, was auch immer.
Die Insassen des Krankenwagens wussten, ohne ein Wort des anderen, was zu tun war. Der Fahrer wendete den Wagen. Die Sanitäter legten ihre Ausrüstung zurecht. Die Ambulanz hatte noch nicht ganz gestoppt, als die Türen geöffnet wurden. Die beiden Männer, die heraussprangen, beteten für diese todesmutige Frau, obwohl sie eigentlich jetzt schon wussten, dass sie sehr wenige Chancen hatte. Dafür war der Aufprall des sie anfahrenden Autos zu stark und der Sturz von zu großer Höhe erfolgt.
Aber vielleicht gab es dieses Mal ein Wunder, denn beim letzten Einsatz war der Kampf um ein sterbendes Kind verloren gegangen…
Sarah wusste es.
Eigentlich hatte sie es den ganzen Abend gespürt. Aber sie würde nicht zulassen, dass ihm etwas passierte. Auch als sie die Straße entlangliefen und sich stritten. Unheilschwanger setzte sich das Wissen immer tiefer in ihr fest.
Und Philip hatte sie damals ausgelacht.
Nein, sie wollte nicht kleinlich sein. Die letzten Monate waren die Erfüllung der jahrelangen Träume und jede Entbehrung wert gewesen.
Plötzlich blieb Sarah stehen.
,Diese Straße …‘ schoss ihr durch den Kopf.
„Ich liebe dich, Philip!“ sagte sie zu ihrem Mann.
Verdutzt blieb Philip stehen.
„Ich dich auch, aber …“
,Er steht auf der Straße!‘ Sarah wollte ihn warnen, doch das Auto kam schon. ,Nicht er, niemals!‘
Zu allem entschlossen stürzte sie auf Philip zu und stieß ihn in Richtung Bürgersteig. Sein durch den Streit noch verärgertes Gesicht mit dem zärtlichen Ausdruck seiner Liebeserklärung verwandelte nun von ungläubigem Staunen und plötzlichem Erkennen in schier unsägliche Angst. Doch immer strahlte es voller Liebe zu ihr.
‚So soll es das Letzte sein, was ich sehe …‘
Abrupt wurde ihr Denken und Fühlen durch einen furchtbaren Schlag beendet. Der Wagen hatte Sarah erreicht und erfasst.
Philip war wütend.
Aber nicht auf Sarah, obwohl er sich mit ihr stritt.
Er war wütend auf sich selbst. Eigentlich sollte dieser Abend etwas Besonderes für seine Frau werden und er, er stritt sich mit ihr über Nichtigkeiten. Auch wenn nicht jeder 2,5 Millionen unbedingt als Nichtigkeit bezeichnen würde. Soviel hatte man Sarah geboten, um nicht nur ihr letztes Buch sondern auch ihr Leben verfilmen zu dürfen. Gut, allein von den Verkäufe von Sarahs Büchern und seinem eigenen Einkommen waren sie finanziell abgesichert. Aber 2,5 Millionen Gründe entwickelten eine ziemliche Überzeugungskraft auf Philip. Zumindest bevor er mit seiner Frau gesprochen hatte.
Sie hatte ja recht. Beide waren Personen, die sehr im Rampenlicht standen. Die Presse wusste alles über angebliche Affären und Fehltritte jeglicher Art. Doch die eigentlichen Geheimnisse, die Sarah und Philip verbargen, waren schon vor langer Zeit vertuscht wurden, zu ihrer beider Sicherheit.
Er hatte Sarahs Gefühle nicht bedacht, wie schon so oft. Selbstvorwürfe und Schuldgefühle plagten ihn, zumal sich Sarah heute anders benahm als sonst. Er spürte ihr Unruhe und doch schien sie gleichzeitig diesen Abend, trotz ihrer Reibereien, zu genießen.
„Ich liebe dich, Philip!“ hörte er sie sagen.
Verdutzt blieb er stehen.
Sie waren gerade im tiefsten Konflikt gewesen, so schnell hatte sie noch nie klein beigegeben.
„Ich dich auch, aber …“ mit ,das weißt du doch‘ wollte er den Satz beenden. In derselben Sekunde spürte er ihren Stoß, hörte ihren Schrei.
‚Sie hatte recht gehabt, damals!‘ schoss es ihm durch den Kopf.
,Nein, nicht Sarah, tue es nicht!‘ wollte er schreien, doch seine Lippen blieben stumm.
Er hörte den Laut, der ankündigte, dass der Wagen, mit der Stoßstange zuerst, gegen Sarah fuhr. Das leise Flirren, das Sarahs Körper erzeugte, als sie durch die Luft geschleudert wurde, schallte mit scheinbar tausendfacher Lautstärke durch Philips Kopf. Sarahs Aufprall auf den parkenden BMW spürte Philip fast körperlich, auch wenn er von dem Aufschlag nichts sah. Sein Körper schien für die nächsten Bewegungen eine unendliche Zeit zu benötigen. Sie war so weit und schien erst nach Stunden in seinen Armen zu liegen.
Leise flatternd öffneten sich ihre sonst so klaren und strahlenden Augen. Gebrochen und umwölkt war Sarahs Blick, der auf Philip traf.
„Du lebst …“ Philip fühlte diese Worte mehr, als das er sie hörte. Als Sarah die Augen schloss presste er sie an sich. Er hörte den Laut nicht, den er ausstieß.
„Sarah, Sarah, Sarah …“
Dann kamen die Sanitäter und entzogen ihm seine Frau sanft. „Retten Sie meine Frau, bitte retten Sie meine Frau.“ rief Philip dem Rettungsteam zu.
Dem unterdessen eingetroffenen Notarzt stockte der Atem, als er Philips letzten Satz hörte, bevor dieser zum Krankenwagen gebracht wurde.
„Nehmt doch mein Leben für ihres!“
Regen prasselte auf die Straße hinab. Gleichmäßig, rhythmisch trommelnd.
Die Menschenmenge verließ den Unfallort. Jedem einzelnen brannten die gerade erlebten Geschehnisse im Gedächtnis.
Was würde wohl aus den unglücklichen Seelen werden?
Wie würde der Mann weiterleben können, nachdem die Frau sich geopfert hatte?
Ob am nächsten Tag etwas über den Zustand der Frau in der Zeitung stand?
Kam heute Abend noch etwas Spannendes im Fernsehen?
Platsch, platsch …
Monoton fielen die Tropfen weiter auf die immer leerer werdende Straße.
2. Kapitel
„Na, Zarte!“ wenn Alice sie nicht an der Stimme erkannt hätte, wäre diese Begrüßung Erkennungsmerkmal genug gewesen. Denn niemand anderer als Dani, Leidensgenossin und Kumpan längst vergangener Schulzeiten, würde es wagen, die reichlich 30 Pfund schwerere Alice mit ihrem verhasstesten Spitznamen anzusprechen.
„Na, Dicke!“ scherzte Alice zurück. Sie war gerade wieder einmal dabei im Selbstmitleid zu zerfließen, so dass dieser Anruf die verzweifelt ersehnte Rettung verhieß.
„Ich muss dir unbedingt was Tolles erzählen. Du bist doch zu Hause. In einer halben Stunde bin ich da!“
Alice hatte nicht annähernd eine Chance sich zu wehren, denn Dani hatte bereits wieder aufgelegt.
‚Eine halbe Stunde, na dann kann ich meinen Sauhaufen hier noch etwas entmisten.‘ überlegte sie bei einem kurzen Rundblick über ihre Stube.
Das erzwungene Single – Dasein brachte auch Vorteile. Keinen interessierte es, ob die Teller vom Abend zuvor noch auf dem Tisch standen und die Zeitungen der letzten Woche über das Sofa verstreut lagen. Oder wer sollte sich daran stören, dass sich neben dem überquellenden Aschenbecher schon zwei weitere volle türmten.
‚25 Minuten und zweiunddreißig Sekunden. Neue Bestzeit‘ stellte Alice fest, als etwas später Dani klingelte. ‚Auf zur nächsten Lovestory.‘
Alice liebte die Abende mit Dani, bedeuteten sie doch immer kurzweilige Unterhaltung. Die schlanke Blondine hatte zwar außer einem großen Herz auch noch einen beneidenswerten Körper und ein bezauberndes Gesicht, doch leider auch ein mehr als unglückliches Händchen für Männer. So gab es fast jedes Vierteljahr eine absolut einzigartige Liebe und kurz darauf eine unüberwindliche Trauer.
„Oh, er ist göttlich!“ begann Dani schon auf der Türschwelle anstelle einer Begrüßung zu schwärmen.
Die blonde Löwenmähne stob an Alice vorbei und rauschte in das Wohnzimmer.
Augenblicklich fiel Alice der erste Tag ihrer Freundschaft wieder ein. Die beiden Mädchen kamen neu ins Internat und wurden in einem gemeinsamen Zimmer untergebracht.
Krasser hätten die Gegensätze kaum sein können, welche sich allein schon in der Optik der beiden offenbarte. Die eine mit Lockenpracht in tausend verschiedenen Blondtönen, zierlich, dem Idealbild der griechischen Helena entsprechend, die andere groß, brünett, eher an einen tapsigen Bären erinnernd.
Dani hatte Alice schon am ersten Tag in das Geheimnis ihrer Haare eingeweiht, was ein grenzenloses Vertrauen bedeutete.
„Ich lasse mir beim Friseur Strähnen heller blondieren und den Rest besorgt die Sonne oder die Sonnenbank!“
Von den Klassenkameraden wurden die beiden nur „die Prinzessin“ und „die Zarte“ genannt.
Alice dachte gern an diese Zeit zurück, als das Leben noch so unsagbar viel Zeit zu haben schien und an keinem Tag schwerere Entscheidung zu treffen waren, als die Wahl der Kleidung.
Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere, oder vielleicht auch gerade deswegen, wuchs ihre Freundschaft Tag für Tag. Demütigungen wurden gemeinsam ertragen und gerächt. Nicht zu vergessen Jennifer Greist! Die einstige Klassenprimadonna ertrug keinerlei Konkurrenz. So setzte sie gemeine Gerüchte über Dani in Umlauf, schmierte sie bei den Lehrern an.
‚Und die Rache war unser!‘ schmunzelte Alice in sich hinein.
„Also, er heißt Andreas, ist gut 20 cm größer als ich, hat einen absoluten Traumbody, blaue Augen, pechschwarze Haare und der Hintern, oh was sag ich Hintern? Dieses göttliche Gebilde braucht einen neuen Namen!“ unterbrach Dani Alice Erinnerungen. „Und was der Mann im Bett alles draufhat! Unbeschreiblich! Zum Beispiel gestern, da waren wir …“
Alice erfuhr in den nächsten zwei Stunden alles über Andreas Sexualpraktiken.
Stunden später lag Alice lächelnd im Bett und ihre Gedanken liefen zurück, zur Rache an Jennifer.
Farbshampoo, zerstochene Zahnpastatube, Krümel im Bett und sämtliche sonstige Gemeinheiten, welche man im Kinderferienlager lernt, hatten die beiden begangen.
Jennifer, Kind schwerreicher Eltern, war nie in einem „Kinderlager“, wie sie es nannte, „stationiert“ gewesen. Zusammengenähte Pyjamas erschreckten sie genauso, wie Kakerlaken im Waschbecken. Eine Blindschleiche in den Turnschuhen hatte sie fast Hyperventilieren lassen. Auch vermeintliche Nacktaufnahmen, welche Diana und Alice aus speziellen Zeitungen ausgeschnitten und mit Fotos von Jennifers Kopf zusammengeklebt hatten, sorgten am schwarzen Brett der Schule für Aufsehen.
Die zwei Mädchen liebten die Schreckensschreie, die mit schon fast monotoner Regelmäßigkeit aus dem Nachbarzimmer drangen. Nicht, dass sie Jennifer wirklich schaden wollten, aber die Rache war einfach zu berauschend. Und Jennifer hatte immerhin angefangen…
Zu guter Letzt hatte das alles sogar ein Happyend. Die drei Mädchen rauften sich zusammen und wurden so etwas wie die Rächer der Unterdrückten. Jennifer lernte es zwar auf eine unwahrscheinlich harte Methode, aber sie begann andere zu respektieren.
‚Klingt wie in einer Schnulze!‘ schmunzelte Alice in sich hinein. ‚Aber Jenn kämpft heute auch noch! Sozialarbeiterin, millionenschwer und kriegerisch, wie nach ihrer „Transformation“! Jenn hatte nicht nur den Job bekommen, sondern auch noch ihren Chef zum Ehemann und die nun mehr dritte Schwangerschaft.‘
Wohingegen Dani sich von Beziehung zu Beziehung hangelte, um jedes Mal fest zu stellen, es war wieder der Falsche. Nun ja, so pauschal konnte man es auch nicht abtun, aber es traf fast den Kern. Sie war eben unheimlich wählerisch, meinte Dani von sich selbst. Obwohl die Schwärmerei für diesen Andreas …
Alice spürte das etwas anderes war als die Dutzend Male zuvor, sie konnte es nur nicht benennen. Es war irgendwie greifbar, aber nicht erklärbar.
‚Zwei Monate, dann ist Kinozeit!‘ schmunzelte Alice in sich hinein. ‚Maximal drei…‘
„Andreas?“ keuchte sie mitten im Halbschlaf auf. Alice wusste nicht, ob sie in schallendes Gelächter ausbrechen sollte oder gleich zum Telefonhörer und Dani bitten sollte, nie wieder über ihre intimen Details in dieser Beziehung zu sprechen.
Sie hätte einem ihrer besten Freunde natürlich nicht solche ausgefallenen Sexualtechniken zugetraut und auch diese Art, nun ja, der Bestückung. Nicht dass es sie je interessiert hätte, aber trotzdem Hut ab.
‚Oh Gott, wo treiben mich meine Gedanken nur hin?‘ Alice schüttelte über sich selbst den Kopf. ‚Er ist mein Sandkastenkumpan!‘
„Wo zum Geier hast du ihn kennen gelernt?“ blaffte Alice ohne Begrüßung ins Telefon, als sich die verschlafene Daniela meldete.
„Was? Wen?“
„Na Andreas!“
„In der Bluebar, wieso?“ Dani begriff ihre Freundin nicht, der Ton, die Zeit …
„Jetzt sage bitte nicht letzten Donnerstag!“
„Doch, woher weißt du …“
„So ein Schlamassel aber auch, Andreas ist mein Andreas. Mein Sandkasten – Andreas.“
„Ups.“ mehr fiel Dani nicht ein.
„Genau, ups. Ich wollte ihn Donnerstag in der Bluebar treffen und habe ihm aber abgesagt, wegen … wegen … na du weißt schon!“
„Wegen dem J – Wort, was keiner aussprechen darf.“ stellte Dani trocken fest.
„Na ja, nur für die nächsten zwei Jahre.“ versuchte Alice sich zu rechtfertigen.
„Minus eine Woche. Aber egal, was machen wir nun mit Andreas?“
„Wir?“ Alice legte einen extra anzüglichen Unterton in die Stimme.
„He, he, Finger weg, der ist meine!“
„Ich weiß, Kleines. Es ist nur …“ Alice wusste selbst nicht so genau was. Sie wünschte beiden Glück. Hatten die zwei doch nun schon mehr oder weniger nur erfolglose Feldversuche mit dem gegnerischen Geschlecht hinter sich gebracht. „ihr sollt doch beide glücklich werden, und ich …“
„Du sitzt zwischen den Stühlen. Das ist echt schei…“
„Einen Versuch ist er aber wert. Oder?“
„Alice, der Typ ist einfach göttlich. Hab ich dir überhaupt erzählt, was er alles mit meinen …“
„Bitte was macht er, ist das dein Ernst?“
Die Details der folgenden Unterhaltung vergaß Alice offiziell lieber, als sie Andreas das nächste Mal traf.
Manchmal verstand Alice die Welt nicht mehr.
Wie kam es das Frauen immer dieselben Fehler bei Männer bemängelten und Männer bei Frauen?
Genau dieselben Schwierigkeiten wie Dani, ihre beste Freundin, ihr gerade erzählte, hatte auch sie gehabt.
Der Mann geht aus, wann immer und wie lange er will. Meistens trinkt er zu viel, wenn er sich mit seinen Freunden trifft oder sagt nicht, wann er nach Hause kommt.
Er vergisst Verabredungen oder geht lieber Fußball oder einen anderen Sport schauen. Allerdings nicht am heimischen Fernsehgerät, sondern beim Freund oder in der Stammkneipe.
Bittet eine Frau den Mann etwas im Haushalt zu erledigen, tut sie das einmal, zweimal, dreimal. Nur um beim vierten Mal, welches meist Stunden später ist, ein genervtes Gesicht oder eine markige Antwort zu erhalten. Männer beschweren sich über das angebliche ewige Genörgel der Frauen, die mehrfach geäußerte Bitte, letztlich meist im gereizten Ton, etwas zu unterlassen oder eine anfänglich liebevoll, aber irgendwann einmal sehr bissige Bemerkung über den Alkoholkonsum, Freunde oder andere „unwichtige“ Sachen.
Vorausschauendes Planen von Terminen oder ständiges Zerreden irgendwelcher Problemchen hassen Männer ganz besonders, wobei Frauen, das ohnehin schwache Geschlecht, alles immer übertreiben müssen.
Und wehe sie wagen es über Autos oder den Lieblingssport der Männer zu sprechen, dann sind sie Anfänger und Dilettanten. Autos können Frauen, wenn überhaupt, nur fortbewegen und Ahnung von Sport, Technik oder anderen Männerthemen haben sie eh nicht.
Frauen haben immer irgendeine Art von Wehwehchen. Kopfschmerzen, Regelbeschwerden oder Müdigkeit, welche sie mit pausenloser heroischer Miene versuchen zu zeigen, dass der Mann ja ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn er nicht zu Hause bleibt. Doch wenn der Mann krank ist, dann wird er gar nicht gepflegt und umsorgt, obwohl er schwerst erkrankt ist. Sonst würde er sich, der Mann, ja nicht ins Bett legen. Er ist ja kein Simulant!
Männer arbeiten schwer körperlich, wobei Frauen mit ihren Bürojobs sich den ganzen Tag ausruhen können.
„Und wehe er ist mit Mark und Konrad zusammen, dann hauen sie sich gegenseitig die Taschen voll, wie toll und gut sie doch sind. Im Job, im Bett …“ Dani redete sich ihren Frust von der Seele, während Alice zum Kino fuhr.
‚Ups, Andreas steht wohl auf der Abschussliste.‘
Alice kannte ihre Freundin gut genug um zu wissen, dass sie sich bei jeder Art von Problemen in einer Beziehung nur in dem Wort Trennung eine dauerhafte Lösung versprach. Wenn sie da an ihren Kampf zurückdachte. Oh, wie oft waren die Fetzen bei ihnen geflogen, wie oft hatten sie sich neu zusammenraufen müssen. Nein, sie wollte sich nicht in Erinnerungen verlieren. Heute war sie für Dani und ihre Probleme da, und um sich den neusten Kinosommerhit anzuschauen.
Im Nachhinein freute Alice sich, dass sie gerade angehalten hatten, denn Dani schockte sie zu sehr mit ihrer Ankündigung, dass sie Andreas nicht kampflos aufzugeben gedenke.
„Was ist an Andreas, was an anderen nicht war?“ hakte Alice deshalb gleich nach.
„Willst du die kurze oder die lange Version hören?“
„Beide.“
„Die kurze, er ist der beste Liebhaber, den ich je hatte.“ Daniela legte bei dieser Bemerkung die rechte Hand auf ihr Herz. Angesichts solcher Theatralik brach Alice in lautes Gelächter aus, in welches Dani erleichtert einstimmte.
Alice henkelte ihren Arm bei Dani unter und zog sie in Richtung Kino. „Da wir bis zum Film noch Zeit haben, jetzt die lange Version.“
„Ich liebe ihn.“
„Die Version ist aber kürzer. Das sind im Gegensatz zu den 9 Worten von vorhin nur 3.“ gab Alice zu bedenken.
Dani winkte ab. „Wen interessiert das schon. Für mich ist die zweite wichtiger und damit länger! Ist doch logisch!“
„Du und Logik! Da treffen Welten aufeinander!“ lachte Alice auf. „Lass uns erstmal sehen, ob wir noch Karten für unseren Film bekommen. Und dann will ich es ganz genau wissen!“
„Was denn?“ fragte Daniela.
„Natürlich“ grinste Alice „interessiert mich die ausführliche Version der kurzen Version.“
„Schau ihn dir an, schau ihn dir an, schau ihn dir an …“
Vollkommen benommen stand Alice an ihrer Wohnungstür und starrte ihrer Freundin Dani auf die Hand. Diese wedelte scheinbar hysterisch unter ihrer Nase hin und her und funkelte am Ringfinger.
„… und ich hab ja gesagt!“
Wie zwei pubertierenden Teenager schrien die zwei Frauen um die Wette.
„Oh es war so romantisch, du glaubst kaum, wie glücklich ich bin …“
Daniela plapperte und plapperte. Im Großen und Ganzen konnte Alice ihren Erzählungen auch folgen, obwohl die chronologische Reihenfolge ständig schwankte.
‚Der Antrag… ihr Kennen lernen, weil ich Andreas ja versetzt hatte, was gut so war… wieder der Antrag… das wusste ich noch gar nicht… das wollte ich nicht wissen… oh, das ist gut… armer Andreas… oh… der Antrag… was?‘
„Du bist was?“
„Na ja, wir haben nur einmal nicht aufgepasst und da muss es wohl …“ scheinbar hilflos und trotz allem vor Glück strahlend zuckte Dani mit den Schultern. „Und wenn alles gut geht, wollte ich gern…, ähm nein, wollten wir gern… ich soll dich fragen, ob du…“
„Dani? Alles in Ordnung?“ besorgt betrachtete Alice ihre völlig aufgelöste Freundin.
„Patentante!“ platzte Dani heraus. „Du wirst die Patentante… ähm… wenn du willst… ich meine…“
„Natürlich werde ich Pate, wenn ihr das wollt, gern, ich kann ja…“ nun war es an Alice vor Freude zu plappern…
3. Kapitel
Regungslos saß Philip im Krankenwagen. Teilnahmslos hatte er die Untersuchung seiner Schürfwunden und leichten Prellungen über sich ergehen lassen.
Immer wieder hörte er Sarahs letzte Worte, hörte den Aufprall ihres Körpers.
‚Warum sie, warum sie?‘ Diese Frage raste durch seinen Kopf, schwieg nicht still.
„Er steht unter schwerem Schock, Sie können ihn jetzt nicht befragen!“ Er hörte diese Worte, sah den jungen Sanitäter, der die beiden Polizisten daran hinderte den Rettungswagen zu betreten, aber er verstand nichts von alledem. Philip reagierte auch nicht, als die offene Hintertür der Ambulanz geschlossen wurde und er mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht wurde. Sarahs Unfallwagen war schon vor einer Viertelstunde davongerast.
‚Bitte Gott, du weißt, ich glaube nicht an dich, aber wenn es dich wirklich gibt oder irgendetwas anderes, nimm sie mir nicht weg, hab Erbarmen!‘
Der Knoten in seiner Brust wurde immer härter, er schnürte ihm die Kehle zu, ließ ihm das Herz kaum noch schlagen.
Sie hatte es all die Jahre gewusst, und er hatte ihr nicht glauben wollen, sie ausgelacht. Er sah Sarah, damals. Sie war 16 und er 20 Jahre alt gewesen. Freudestrahlend kam sie auf ihn zu gerannt. Ihre Eltern hatten auf derselben Straße gewohnt.
Bis vor einem Jahr, da hatte sein Vater ein riesiges Vermögen bei einem Aktienhandel gemacht. Er hatte die Aktien verkauft, als sie das 10fache des Anschaffungspreises kosteten. Sein Vater hatte Bargeld immer mehr vertraut als Aktien oder Grundbesitz. „Bargeld, das kann man anfassen, Aktienkurse können fallen und Grundstücke können verseucht werden!“ Wie ein böses Omen schwang dieser Satz über die Familie Sarahs, die bis dahin ihre Nachbarn gewesen waren. Sein Vater kaufte ein Haus in einer vornehmeren Gegend und eröffnete eine kleine Fabrik, die Süßigkeiten herstellte. Damals wie heute fanden diese Pralinen, Bonbons, Kekse und Schokoladen reißenden Absatz.
„Gut aber bezahlbar“, das war das zweite Motto seines Vaters gewesen. So wurden sie Millionäre. Reich an Geld und Schicksalsschlägen.
Sarahs Vater vertraute leider den Aktien. Kaum eine Woche nachdem Philips Vater seine Anteile veräußert hatte, fielen die Aktien ins Bodenlose und mit ihnen die finanzielle Situation der Familie Peters. Doch auch die Armut konnten dem Familienglück nichts anhaben. Bei den Peters blieb Philips zweite Heimat, bis zu jenem schicksalhaften Tag.
Noch nie hatte Sarah ihn so freudestrahlend und gleichzeitig doch so traurig empfangen.
„Ich hatte eine so furchtbaren Traum!“ empfing sie ihn am Gartentor. „Lass uns zum Felsen gehen, ich muss dir davon erzählen!“
Mehr widerwillig folgte Philip ihr. Eigentlich hatte er keine Lust auf traurige Geschichten. Er wollte Sarah nur von Celeste erzählen und wieder verschwinden. Wenn er ehrlich war, sollte dies der letzte Besuch für längere Zeit sein. Celeste würde nicht verstehen, dass er sich mit einem Kind traf, welches genau genommen sein bester Freund war.
‚Und das dieses Kind nunmehr 16 Jahre alt war und sich langsam, aber sicher in einen wunderschönen Schwan verwandelt!‘ stellte er ironisch fest, um erschrocken inne zu halten. Seit wann betrachtete er Sarah mit den Augen eines Mannes? Nein, seit wann war sie in seinen Augen eine Frau?
„Ich hatte so gehofft, dass ich es dir erzählen kann. Es quält mich so!“ erzählte Sarah derweil traurig. „Aber ich habe deinen Rat befolgt, ich habe es mir von der Seele geschrieben!“
Fast triumphierend hielt sie mehrere eng beschriebene Seiten in die Luft, welche Philip bis dahin übersehen hatte.
‚Das wird Tage dauern!‘ stöhnte er innerlich auf.
„Sarah, Schatz, ich habe aber nicht allzu viel Zeit, ich habe …“ begann Philip, nur um nach einem Blick in ihre bittenden Augen doch wieder weich zu werden. Es war schon immer so gewesen. Er konnte Sarah nichts abschlagen.
An ihrem Lieblingsfelsen, in einer stillen, wenig besuchten Bucht angelangt, setzte sich Philip an dessen Fuß und zog Sarah neben sich. Wie schon tausende Male zuvor legte sie ihren Kopf auf seinen Schoß und begann ihm vorzulesen.
Philips Gedanken begannen ihr Eigenleben zu entwickeln, ebenso wie sein Körper. Nicht einmal bei der Berührung Celestes durchströmte ihn so ein Gefühl der absoluten Ruhe, des Nachhausekommens. Eine tiefe Liebe zu dem zarten Wesen vor ihm stieg in ihm auf.
‚Logisch, sie ist meine Schwester!‘ versuchte er sich selbst zu belügen. Selbst Jahre später wusste er immer noch nicht, warum er dies damals wirklich glaubte.
Sanft begann er Sarahs Kopf zu streicheln und mit ihren braunen, weichen Locken zu spielen. Er liebte ihre warme, sanfte Stimme, wenn sie ihm ihre Gedichte oder Geschichten vorlas.
Dieses Mal musste er sich aber zwingen den Inhalt zu verstehen. Es ging um ein Liebespaar. In seiner Versunkenheit bemerkte er nicht, dass er schon über die Hälfte der Geschichte verträumt hatte.
„Ein Schrei hallt durch die Nacht. Schrill, durchringend, unmenschlich. Ein Körper wird von der Straße gestoßen, ein zweiter schleudert durch die Luft. Die zweite Gestalt schlägt schwer auf einem der am Bürgersteig parkenden Autos auf. Scheinbar leblos bleibt sie liegen. Sie?“ obwohl Sarah spürte, dass Philip in Gedanken versunken ist, las sie weiter. Niemals könnte sie sagen, warum, aber sie wusste das Philip sich an den heutigen Tag erinnern würde und ihn bedauern …
‚Oh weih, eine Frau stirbt bei einem Unfall, das ist ja so tragisch!‘ dachte er ironisch. Was seine kleine Maus doch für eine Geschichtenerzählerin war …
‚Seine kleine Maus? …‘
„Es wird passieren, Philip! Frag mich nicht, woher ich das weiß, aber es wird mir passieren!“ endete Sarah stockend.
Dankbar lachend für die Unterbrechung seiner Gedanken sah er Sarah an.
Noch Jahre später sollte ihn dieser traurige Blick, welcher ihn aufgrund seines Lachens traf, verfolgen.
„Auch du glaubst mir nicht und dabei dachte ich gerade du …!“ traurig sprang Sarah auf und wollte davonlaufen.
„Sarah, warte!“ bat Philip sie schuldbewusst. Was konnte dieses zarte Kind für seine dummen Gedanken! „Ich habe doch nicht über dich gelacht!“
Verwundert blieb sie stehen. „Nicht über mich? Aber über wen oder was denn sonst?“
Besänftigend lächelnd ging er auf sie zu. Liebevoll strich er ihr die vorwitzigen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Über mich selbst, Dummerchen.“ und hauchte ihr entschuldigend einen Kuss auf die Stirn. „Über mich selbst.“
„Aber wieso … ich verstehe nicht… was gibt es denn …?“
„Weil ich dir zugehört habe und doch ganz woanders mit den Gedanken war.“ hob Philip an sich zu entschuldigen. „Ich war bei Celeste und nicht bei dir und daher hab ich wohl an einer unpassenden Stelle gelacht, nicht wahr?“
Sarahs Herz stockte. Celeste? Es hatte also schon begonnen …
„Ich wollte dir, seit ich da bin, von ihr erzählen. Sei mir nicht böse, Schatz, dass ich dir nicht richtig zugehört habe.“
Wie ein kleines Kind wiegte Philip nun Sarah in seinen Armen. So konnte er weder ihre Trauer noch ihr Entsetzen oder ihre Liebe zu ihm sehen.
„Ich glaube nämlich, ich habe die Frau gefunden, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen möchte!“
Nun war es an Sarah Philip nicht mehr zu zuhören. Sie hörte weder seine Schwärmerei über Celestes fraulichen Vorzüge noch über ihre ach so traumhaften Eigenschaften. Trauer ließ Sarahs Augen mit Tränen füllen. Ihr armer Geliebter würde einen unendlichen Leidensweg erfahren müssen. Und sie hatte auch noch versucht ihn zu warnen. Woher sollte sie nur die Kraft finden, ihn in sein Unglück stürzen zu lassen?
„Du darfst sie nicht …“ hob Sarah an zu sprechen, doch Philip fegte ihren Einwand einfach mit immer neuen Schwärmereien hinweg.
„Nein, hör mir zu Philip!“ versuchte sie es aufs Neue. „Verdammt Philip!“ schrie sie auf, als dieser nicht aufhörte zu reden.
Erschrocken stockte Philip in seiner Rede.
„Ich sage es dir jetzt nochmal ganz langsam!“ donnerte Sarah weiter. „Du darfst Celeste nicht heiraten! Sie wird dich unglücklich machen!“
Danach blieb sie ganz leise stehen und wartete. Nur hatte sie nie und nimmer mit der Heftigkeit von Philips Reaktion gerechnet.
„Sag mal spinnst du? Ich komme zu dir und erzähle dir von der Liebe meines Lebens und du, die Celeste noch nicht mal kennt, behauptest sie macht mich unglücklich? Woher zum Geier willst du das wissen?“ drohend baute er sich vor der jungen Frau auf.
„Ich habe es gesehen.“ sagte Sarah leise.
„Gesehen? Wo in einem Traum? Oh mein Gott, ich fasse es nicht!“ wütend fuchtelte Philip mit seinen Armen. Er begann tobend auf und ab zu laufen. „Nur wegen dem Traum eines Kindes soll ich mein Leben kaputt machen lassen. Ich liebe diese Frau und sie liebt mich und ausgerechnet du Baby willst es besser wissen. Warst du auch nur einmal verliebt? Ach, wieso frage ich überhaupt so einen Fratz?“ Philip wusste, dass er ungerecht wurde und auch, dass diese Wut mehr seinem Schuldbewusstsein als tatsächlichem Ärger entsprang. Aber er konnte nicht aufhören. Er hatte niemals eine Erklärung finden können, warum er ausgerechnet an diesem Tag Sarah mit Worten tödlich verletzen wollte. So wütete er verbal weiter und zerstörte eine jahrelange Freundschaft.
Nachdem er endlich geendet hatte mit seinen Beschimpfungen, sah er in ein Tränen überströmtes Gesicht. Nicht eine Silbe kam über Sarahs Lippen. Keine Beschuldigung, keine Verteidigung, nicht einmal ein Wort des Abschiedes. Traurig sah sie ihn nur an.
„Sarah?“ fragte Philip leise. Er stürzte auf sie zu und zog sie in seine Arme. Wie besessen küsste er ihr die Tränen vom Gesicht. „Oh Sarah! Sarah!“ stammelte er. „Ich … es tut mir … ich wollte nicht … keine Ahnung warum …“
Vorsichtig, als hätte sie Angst, dass seine Wut nun auch körperlich ausbrechen könnte, entzog sich Sarah Philips Armen.
„Leb wohl!“ hauchte sie und rannte zur Straße hinab.
Das sollte für zwei Jahre das letzte Mal gewesen sein, dass er Sarah sah.
„Bringen Sie ihn in den Raum 5.“ wies der diensthabende Arzt die Sanitäter an, als die Ambulanz das Krankenhaus erreicht hatte.
Philip, tief in seine Erinnerungen getaucht, erwachte langsam aus seiner Lethargie. Er roch die Desinfektionsmittel, sah die vielen weißen Kittel, hörte Satzfetzen ohne deren Bedeutung zu verstehen. So sah er auch nicht die Blicke, welche die Sanitäter mit dem diensthabenden Arzt austauschten. Dieser wusste sofort, dass seine Kollegen von der Straße Auskunft über die tapfere Frau haben wollten, welche 15 Minuten zuvor eingeliefert wurden war. Ratlos hob er die Schultern und schüttelte dann verneinend den Kopf.
‚Nur Gott kann jetzt noch helfen!‘ schoss es dem Arzt durch den Kopf.
Betrübt brachten die Sanitäter Philip zur Untersuchung. Auch dieses Mal schien es kein Wunder zu geben. Diese arme, tapfere Frau …
Blaulicht stieß rhythmisch gegen die weiß lackierten Krankenhauswände. Sarahs Zimmer lag in der Nähe der Notaufnahme.
Es war ein grausiges Spiel des Lichtes mit dem Schatten der Apparaturen, an welche die leblose Frau angeschlossen war.
Philip nahm den Takt des Flackerns in sich auf. Hell – Dunkel – hell – dunkel. Klack, klack, klack, klack. Jeglicher Gedanke schien ausgelöscht, nur dieser stetige Rhythmus war existent.
‚Vermutlich schwere innere Verletzungen, alle Gliedmaßen gebrochen, Hüfte Trümmerbruch, fünf Rippen gebrochen, Wirbelsäule keine auffälligen Schäden, Blutdruck …‘
In Philips Kopf begannen die Worte der Rettungssanitäter den Takt des Lichtes anzunehmen. Wie ein Lied sang die Aufzählung von Sarahs Verletzungen durch sein Gehirn.
Er weigerte sich auch nach den Stunden, welche er vor dem OP warten musste, die Wahrscheinlichkeit ihres Todes auch nur zu erahnen.
Doch es schien so offensichtlich. Kaum ein Knochen war in dieser zarten, kleinen Frau heil geblieben, die an Schläuche und medizinische Geräte gefesselt vor ihm lag.
‚Oh Mann, die Innereien waren zerfetzt wie auf einem Schlachtfeld, dass sie überhaupt noch lebt …‘
Diese Satzfetzen hatte er vom operierenden Chirurgen vernommen, als die OP – Tür sich geöffnet hatte. Der Arzt hatte Philip zu spät gesehen und wertete auf seine Art sein Schrecken mit seinen Kollegen aus. Denn auch er war vom Mut dieser Frau erschüttert und ihre Verletzungen waren eigentlich zu groß, um noch lebensfähig zu sein. Aber sie lebte, wenngleich jeder Atemzug dem Tod gestohlen werden musste und jede Sekunde die letzte sein konnte, sie lebte.
Plötzlich wurde der Raum wieder dunkel. Der Rettungswagen hatte seine Fracht abgeliefert und war wieder in die Nacht hinaus zu neuen Verletzten gefahren.
Philip blickte zu Sarah. Er wusste, er durfte nicht hier sein, denn auf der Intensivstation musste alles steril gehalten werden. Nur hatte Sarah diesen Kampf mit den Ärzten für ihn entschieden. Jedes Mal, wenn Philip auch nur den Raum verließ, verschlechterte sich auch Sarahs Zustand. So hatten die Herren Doktoren wider jeder Vernunft beschlossen, dass er an ihrem Bett wachen sollte.
‚Sarah, meine geliebte Sarah …‘ und eine neue Erinnerung stieg in Philip auf.
Er bemerkte das Blaulicht nicht, welches von Neuem begann bizarre Schatten auf die weiß lackierten Krankenhauswände zu malen.
4. Kapitel
Müde und abgespannt stieg Alice die letzten Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Traurigkeit hatte sich in ihr sonst so strahlendes Gesicht gegraben.
Sie wusste, dass wenn sie diese Tür öffnete, niemand da wäre. Keine Arme, die sie freudig umfingen, kein zärtlicher Begrüßungskuss, der sie dahin schmelzen ließ. Nur eine leere, kalte Wohnung erwartete sie.
Nein, sagte sie sich, während sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte, heute würde sie nicht weinen. Doch als die Tür die Dunkelheit des Vorraumes und die Stille der Wohnung preisgab, wusste sie, dass es auch heute nur ein unerfüllbarer Vorsatz war.
„Tja, das Kissen wird heute doch wieder nass!“ warf sie ihrem Spiegelbild zu, dass ihr in der Flurgarderobe entgegensah. Wütend auf sich selbst, schleuderte sie ihre Schuhe von den Füßen, betrat die Küche, öffnete den Kühlschrank und schnappte sich ein Bier. Mit der Flasche ging sie in die Stube, machte die Stereoanlage an und stellte sich ans Fenster.
Im CD-Player lag seit einer Woche dieselbe CD. Ob ihre Nachbarn die Musik nun auch langsam auswendig konnten, dachte sie in einem Anflug von Selbstironie. Mit abschweifenden Gedanken und verträumten Blick beobachtet sie die Menschen auf der Straße.
Eine Bierlänge, wie sie es einmal scherzhaft bei ihrer Freundin Daniela genannt hatte, würde sie am Fenster bleiben.
Was würden ihre Kollegen wohl sagen, wenn sie ihre so selbstbewusste und als arrogant verschriene Mitarbeiterin so sehen würden, schoss es Alice durch den Kopf. Sie würden wie immer kein gutes Haar an ihr lassen. Aber Alice war das egal.
Bilder schossen durch ihren Kopf. Scheinbar wahllos. Alice hatte schon lange den Versuch aufgegeben diese Bilder zu unterdrücken.
…Sein Gesicht, sein Lächeln flog in ihrem geistigen Auge vorbei, unauslöschbar eingebrannt. Die sinnlich lächelnden Lippen, die graublauen Augen, der gestählte Körper. Sein Duft schien Alice einzuhüllen, seine Arme sie zu umfangen…
Wenn er wüsste, dass sie sein Bier trank, sinnierte sie leise lächelnd. Eine schwache Erinnerung stieg auf.
…Alice war von einer mehrtägigen Dienstreise nach Hause gekommen. Eigentlich wollte sie zu Abend essen, als sie zum Kühlschrank ging. Da sah sie im obersten Fach Bier liegen und nahm sich eines, von plötzlichem Appetit erfasst, heraus. Sie sah wieder sein Gesicht, dass schmollend die Unterlippe verzog. Wie ein Kleinkind, dem das Spielzeug gestohlen wurde, schimpfte er: „Die trinkt mir mein Bier weg!“…
Eine neue Erinnerung bahnte sich in Alice ihren Weg.
…Eines Sonntagabends wollte sie ein Bier trinken und sie musste sich die vorhandenen 3 mit ihm teilen. Sie bekam ein halbes, er den Rest…
Und weitere Erinnerungsfetzen folgten.
…Ihr Vater stand liebevoll grinsend vor ihr und sagte zu ihr: „Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst …“ Diese liebste seiner Lebensweisheiten wurde von ihm selbst zwar am wenigsten befolgt, aber ihr hatte sie schon gute Dienste geleistet…
…„Ist das der Mann, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen möchtest?“ Alice war nie aufgefallen, wie feierlich die Stimme ihrer Mutter damals geklungen hatte. „Ich will nicht,“ hatte sie mit fester Stimme in das entsetzte Gesicht ihrer Mama gesagt, „ich werde!“ Dann hatten sie gemeinsam um die Wette gestrahlt…
…Alice sah die traurigen Augen ihrer Freundin Veronika, die trotz allem so voller Liebe und Freundlichkeit waren, obwohl ihr das Schicksal so hart zugesetzt hatte. Bösartige Kolleginnen hatten sie versucht in Misskredit zu bringen, ihre Mutter war vor nicht allzu langer Zeit an Krebs erkrankt und auch ihr Vater war schwer krank, was er allerdings schon seit vielen Jahren war. Dann gab es da noch die Familie ihres Mannes, er selbst sehr dominant, bemerkte die Schwermütigkeit seiner Frau oft nicht. Manchmal glaubte Alice, dass Veronika nur wegen der Kinder bei ihm blieb und wenn Erik und Nadine erwachsen waren, würde sie bestimmt ihr eigenes Leben beginnen. Alice betete Veronika an. Sie war ihre mütterlich – schwesterliche Freundin…
Andreas und Daniela, ihre besten Freunde tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Ein Lächeln floh über ihre Lippen. Die Hochzeit von Andreas und Daniela war so hinreißend gewesen. Alice glaubte nie ein glücklicheres Paar gesehen zu haben. Oh, wie sie diese beiden Menschen liebte, sie verdankte beiden mehr, als sie je zurückgeben konnte. Daniela hatte sich beim Eröffnungstanz an Andreas geschmiegt und er hielt sie so voller Kraft und Zärtlichkeit, als ob nichts die beiden je trennen könnte. Alice hoffte, dass sie für immer zusammenblieben, verdammt nochmal.
Gedankenverloren hob sie ihr Bier an ihre Lippen. Sie wollte sein Bild nicht anschauen, aber ihr Blick wurde wie magisch davon angezogen.
Tränen traten in ihre Augen. Mit verschleiertem Blick schaute sie wieder auf die Straße. War es wirklich erst ein paar Wochen her, seitdem er gegangen war? Weinte sie sich erst seit 6 Monaten in den Schlaf?
Wieder schien sein Duft sie einzuhüllen.
Da fiel ihr Blick auf das alte Paar auf der Straße. Jeden Abend kamen sie händchenhaltend hier vorbei. Alice schätze sie beide auf 70 Jahre, mindestens. Gab es wirklich eine Liebe, die so lang jung blieb? Sicherlich gab es sie irgendwo, aber auch für Alice?
Nein, sie wollte nicht ungerecht sein. Sie hatte ihre Liebe. Mit einem traurigen Seufzen und entschlossenem Blick wandte sie sich um.
Ihre halbvolle Flasche Bier stellte sie auf den Schreibtisch. Demonstrativ, als müsste sie nicht nur sich selbst etwas beweisen, straffte sie ihre Schultern. Der Griff zum Powerknopf am Monitor und am Tower war tausendfach erprobt und eine in sich flüssige Bewegung. Dann erfolgte das obligatorische Warten, bis der Computer hochgefahren war sowie das Klicken in das gewünschte Programm.
Mehr als das leise Klappern der Tastatur, das Abstellen der zur Neige gehenden Flasche Bier und das Spielen der CD war für die nächsten Stunden nichts zu hören.
Vielleicht später an diesem Abend Alice` Schluchzen, denn auch heute schaffte sie es nicht, ohne zu Weinen …
5. Kapitel
‚Er lebt! Ihm ist nichts geschehen!‘ klang es durch Sarahs Kopf. Die Freude, die sie erfüllte schien sie seltsam leicht werden zu lassen. Es kam ihr vor, als würde sie fliegen, schweben …
Wie leise und dunkel es auf einmal war.
Philips Schrei nach ihr ließ Sarah aufsehen. Nein, sie sah nicht auf, sie sah hinab!
Oh Gott, sie schwebte über dem Unfallort.
Die Türen des Krankenwagens wurden aufgestoßen und die Sanitäter sprangen heraus. Die Menschen rund herum standen hilflos da. Ihre Sorge wärmte Sarahs kalten, unsichtbaren Leib.
Ja, sie war körperlos.
Aber sie konnte doch die Arme bewegen und die Beine. Regentropfen streiften ihr Haar, befeuchteten ihre Wangen. Ach nein, das waren Tränen. Aber auch diese fühlte sie. Der kalte Wind kitzelte ihre Füße. Also musste sie einen Körper haben. Doch eigenartigerweise fühlte sie Philips Arme nicht, die sich fest um sie geschlossen hatten.
Sarah verstand die Aufregung und diesen Tumult auf der Straße nicht. Es ging ihr doch ganz gut.
Plötzlich entstand ein Strudel. Darin war es warm und hell. Sie wurde weggezogen. Irgendwohin weggezogen. Sarah spürte, dass sie nach Hause gebracht wurde.
‚Nach Hause, oh ja, jetzt geh ich heim!‘
„Retten Sie meine Frau, bitte retten Sie meine Frau. Nehmt doch mein Leben für ihres!“
‚Philip!‘ Sarah hatte ihn völlig vergessen. ‚Philip! Es geht mir gut! Hab keine Angst, Geliebter!‘ rief sie zu ihrem Mann.
‚Er kann dich nicht hören, Liebes. Keiner kann dich hören, außer wir.‘
Freudig erschrocken wandte sich Sarah um.
‚Papa! Oh, mein lieber Papa!‘ lachend stürzte sie in seine substanzlosen Arme.
‚Wir sind alle hier, mein Kind. Mama, Großmutter und Großvater. Wir wollten dir den Übergang erleichtern.‘ liebevoll strich Robert Peters seiner Tochter übers Haar. Über seine Schultern hinweg sah Sarah ihre Familie.
‚Mama! Großmutter! Großvater! Oh, wie habe ich euch vermisst!‘ schluchzte sie.
‚Komm mein Kind.‘ antwortete Barbara Peters und nahm zärtlich die Hand ihrer Tochter. ‚Es ist nicht mehr weit und tut auch nicht weh.‘
‚Auf keinen Fall so weh wie das Leben!‘ scherzte Sarahs Großvater spöttisch.
‚Wieso nicht wie das Leben?‘ fragte Sarah verständnislos.
‚Na sieh dich doch einmal um.‘ antworteten alle vier gleichzeitig. ‚Dies ist der Weg zum Leben danach.‘
‚Das Leben danach?‘ fragte Sarah in sich selbst hinein und begann sich umzusehen. Vor ihr schien ein langer, dunkler Tunnel zu beginnen, an dessen Ende etwas strahlend Helles auf sie zu warten schien.
Unter ihr befand sich eine Straße. Vereinzelte Menschen standen herum. Einer machte Fotos, ein anderer sah aus wie ein Kriminalbeamter, der Spuren sicherte. Am Straßenrand lagen aufgebrochene Verbandspackungen, leere Einwegspritzen und Reste von Mullbinden, Pflaster und Kompressen.
‚Da ist wohl ein Unfall passiert.‘ stellte Sarah desinteressiert fest. ‚Die Armen, die verletzt wurden.‘
‚Sie vergisst, das ist gut.‘ ‚Ihr müsst es ihr sagen! Sonst verzeiht sie uns das nie.‘ ‚Aber sie hier zu haben …‘
Sarah sah ihre vier Lieben miteinander diskutieren. Daher nahm sie sich die Zeit, um sich weiter umzusehen.
Leises Weinen erweckte ihre Neugier. Dieser traurige Laut berührte sie tief in der Seele. Und wieder schien sie eine unsichtbare Kraft zu ergreifen und zu bewegen.
Bestürzt stellte sie fest, dass sie sich auf einmal über einem Krankenhauszimmer befand. Sie sah sich selbst im Bett liegend, halb versteckt unter Bandagen und Schläuchen. Leise tönten das Beatmungsgerät und die Herz- Lungen- Maschine.
Und immer noch hörte sie dieses leise Weinen.
Philip!
Er saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand und weinte.
‚Liebling!‘ rief sie ihn. ‚Liebling, bitte weine nicht!‘
Sanft legte sie ihre Hand auf seine Schulter und strich ihm mit der anderen übers Haar.
Mit tränennassem Gesicht sah er sie an.
‚Verlass mich nicht, bitte, ohne dich kann ich nicht leben!‘ hörte Sarah Philips Gedanken, als hätte er sie ausgesprochen. ‚Wir haben uns doch geschworen, uns niemals wieder allein zu lassen.‘
‚Nicht Kind!‘ rief Sarahs Vater. ‚Es könnte ihn das Leben kosten, wenn du eine körperliche Verbindung zu ihm aufrechterhältst.‘
Erschrocken trat Sarah zurück. Niemals würde sie ihrem Mann schaden wollen.
‚Wir müssen dir etwas sagen,‘ hob Robert Peters an seiner Tochter zu erklären. ‚wir sind hier, damit du dich in Ruhe entscheiden kannst.‘
Sarah sah verwundert von ihrem Mann zu ihrem Vater. ‚Was soll ich denn entscheiden, Papa?‘ Ihre besorgten Blicke und Gedanken kehrten zu Philip zurück.
Eine Sekunde später wurde es dunkel. Sarah und ihre Familie waren wieder vor dem Tunnel, doch diesmal war nichts unter ihnen. Nebel schien ihre Füße einzuhüllen und sie schienen auf weichen, samtenen Wolken zu stehen.
‚Nun ja, du weißt wie sehr wir dich lieben, aber wir dürfen dich nicht einfach mitnehmen.‘ fuhr Robert fort. ‚Du musst dich entweder für das Leben mit Philip und all die Qualen oder für das Leben danach, mit uns, in Frieden, Liebe und Harmonie, entscheiden.‘
‚Aber wieso sollte ich mich entscheiden Papa?‘ Sarah verstand die Aufregung nicht. ‚Bin ich denn nicht tot?‘
‚Nein, das bist du nicht. Noch nicht.‘ ertönte eine tiefe Stimme aus dem Tunnel. ‚Du hast die seltene Möglichkeit zu wählen.‘
‚Bist du Gott?‘ entfuhr es Sarah erstaunt, als ein junger Mann, der Besitzer der Stimme, aus der Dunkelheit auftauchte.
‚Manche nennen mich so,‘ antwortete der Angesprochene leise lachend ‚ich bevorzuge aber die Anrede Erster. Denn das war ich, der Allererste.‘
‚Aber warum darf ich wählen?‘ fragte Sarah nach.
‚Weil das Leid in deinem Leben größer als die Freude war, und weil du ein Schicksal hast erleiden müssen, das nicht dir bestimmt war.‘
Verwirrt sah Sarah zwischen ihrer Familie und dem Ersten hin und her. Sie verstand nun nichts mehr. Daher wartete sie, was der Erste weiter berichten würde.
‚Durch ein Versehen des Schicksals hast du die Qualen erleiden müssen, die eigentlich für deine Schwester bestimmt waren. Ja, du hättest eine Schwester bekommen sollen,‘ beugte der Erste dem Einwand Sarahs vor. ‚doch wie bereits gesagt, auch das Schicksal begeht Fehler. Dafür wurde entschieden, dass du wählen darfst zwischen den Welten. Ich weiß auch um deine Begabung, gewisse Dinge vorher zu sehen. Doch für deine Entscheidung wird dir diese Gabe nichts nützen. Kehre in die Vergangenheit zurück und sieh, was du aufgibst. Schau dich um und sieh, was du gewinnst. Wir geben dir die Zeit, die du brauchst. Doch kehre nicht zu Philip zurück, bevor du dich entschieden hast. Ein weiterer körperlicher Kontakt könnte ihm Hoffnung geben, an welcher er vielleicht zerbricht, wenn du dich für uns entscheidest. Wäge alles ab und treffe deine Wahl sorgfältig, denn sie ist zumindest für die eine Alternative endgültig.‘ Der Erste küsste Sarah liebevoll auf die Stirn und verschwand im Tunnel.
‚Auch wir müssen gehen, Liebes. Wir dürfen dich in deiner Entscheidung nicht beeinflussen.‘ erklärte Sarahs Vater. ‚Egal, wie du entscheidest, wir sehen uns wieder.‘ Nach vier zärtlichen Umarmungen verschwanden auch Sarahs Familienmitglieder im Tunnel.
Unschlüssig stand Sarah da.
‚Warum eigentlich nicht gehen, warum sollte ich lange grübeln?‘
Sie war gerade zwei Schritte gelaufen, als sie einen schier unmenschlichen Schrei vernahm. Sie wusste sofort um dessen Herkunft. Es war Philips Schrei.
In dem Augenblick des Gedankens befand sie sich wieder im Krankenhauszimmer, an der Seite ihres Mannes. Ein ohrenbetäubendes Fiepen durchdrang den Raum. Aufgeregte Schwestern und Ärzte kamen angerannt und versorgten Sarahs Körper. Philip rief immer wieder Sarahs Namen und beschwor sie zurückzukommen. Drei Pfleger mussten ihn festhalten, damit er nicht wieder an ihre Seite stürzte und ihren leblosen Körper an sich presste.
Sarah sah unbeeindruckt zu, wie die Ärzte Wiederbelebungsversuche starteten. Es berührte sie nicht, als sich die leere Hülle, der einst ihr Körper war, durch Elektroschocks aufbäumte. Das einzige, was sie wirklich störte, war dieser langgezogene Pfeifton.
Seufzend trat sie ans Bett und hauchte einen Kuss auf ihre eigene Stirn. Sofort hörte der durchdringende Ton auf und ein rhythmisches, leises Piepen ertönte.
‚So ist es gut.‘ sagte sie. ‚Und nun schaue ich mir an, was ich verlieren würde.‘
Szenen flackerten kurz vor ihrem inneren Auge auf und verschwanden wieder. Menschen, Geräusche, Gerüche. Die Trauer, als sie glaubte Philip wäre gestorben, der Streit nach seiner Hochzeit mit Celeste, der Streit am Lieblingsfelsen. Doch sie wusste, nichts von alledem war das, was sie sehen sollte. Ihre Reise in die Vergangenheit sollte in einer Zeit enden, als Sarah Peters noch Amanda Burg hieß.
Sarah fand sich am Meer wieder. Oh ja, diesen Urlaub hatte sie nie vergessen wollen.
Ihre Mutter stand vor dem Hotelpool und versuchte sie zu bewegen mit ans Meer, zum Baden, zu kommen.
„Amanda, Liebes. Draußen scheint die Sonne. Es sind 28 Grad und das Meer ist ganz ruhig. Bitte komm doch mit raus an den Strand.“
„Nein Mama, ich bleibe im Pool!“ bestand die damals Sechsjährige darauf im Becken zu bleiben.
Ihre Eltern ließen ihr ihren Willen.
Am Tag darauf kühlte es sich merklich ab, und auch nach einem stundenlangen Gewitter schaffte die Sonne es nicht, die Luft noch zu erwärmen.
Amanda schnappte sich ihren rosafarbenen Bademantel und lief zum Strand.
Ihre verdatterte Mutter kam hinterhergerannt.
„Kind, was willst du hier?“ wollte sie völlig außer Atem wissen.
„Na baden, Mama!“
„Amanda, Kleines, warum willst du jetzt bei diesem schlechten Wetter im Meer baden und bei strahlenden Sonnenschein bleibst du im Hotelpool. Das ist doch unlogisch!“
„Aber Mama, was ist daran unlogisch? Wenn es warm ist, gehen alle an den Strand und ich habe das ganze Schwimmbecken für mich allein. Und heute ist der Strand leer!“
„Bei dieser Kälte …“
„Mami, das ist doch nur hier draußen. Das Meer ist ganz warm. So schnell kühlt Wasser doch nicht ab!“
Sarah musste kichern über ihr naseweißes, jüngeres Ich, welches unter ihr stand, und im altklugen Ton ihre Mutter belehrte. Und auch diese war sichtlich von der Logik ihrer Tochter erstaunt.
Am selben Abend saßen Amanda, ihr Vater und ihre Mutter gemeinsam am Strand. Clara und Peter, wie Sarahs Eltern einstmals hießen, hatten sich aneinander gekuschelt und ihre Tochter lag wohlbehütet in ihrer Mitte.
Die See war nach den ruhigen Nachmittagsstunden wieder aufgeraut. Die Wellen begannen sich immer stürmischer ihren Weg an den feinkörnigen Sandstrand zu bahnen.
Weiße Gicht bedeckte die Kronen der Fluten und ließ sich ungestüm an das Ufer spülen.
Die Wogen begannen feine Wassertropfen zu sprühen, welche sich im Licht des Sonnenunterganges zu tausend glitzernden Regenbogen brachen.
Und die drei Menschen hielten einander schweigend fest. Zutiefst berührt von ihrer gegenseitigen Liebe, ihrem ungestörten Beieinander und dem uneingeschränkten Frieden, den sie miteinander teilten.
Sarah hatte damals alles. Es war ein schönes behagliches und glückliches Leben gewesen. Burgs hatten viele Freunde und auch die kleine Amanda war überall beliebt. Wo sie erschien, so meinten die Nachbarn, begann die Sonne vor ihrem inneren Strahlen zu erblassen. Bis zu dem Tag, als Amanda lernen sollte, dass das Wort Unschuld nicht mehr im Zusammenhang mit ihr gesagt werden konnte. Bis zu dem Tag, als die Kindheit des achtjährigen Mädchens ein jähes Ende nahm.
Hendrik Anderson war ein Kollege von Peter Burg. Er war beliebt bei den Kollegen und dessen Kindern, welche nur zu gern mit dem Onkel spielten. Es schien keine kindliche Schandtat zu geben, die Hendrik nicht erlaubte. Wasserschlacht im Bad zum Beispiel. Und er war auch so lieb und trocknete die Kinder danach immer ab. Oder Essenschlacht in der Küche. Auch hier sorgte sich Hendrik rührend um die Reinigung der ihm anvertrauten Kinder. Keines durfte auch nur noch einen winzigen Schmutzfleck aufweisen, bevor die Eltern nach Hause kamen. Er ging immer höchstpersönlich mit ins Bad und überwachte die Säuberung.
So geschah es auch an diesem Tag. Die Burgs erlaubten sich seit Jahren mal wieder einen Hochzeitstag, mit einem Besuch im besten Gourmetrestaurant und anschließendem Tanzabend. Amanda durfte ein paar Freunde zu sich nach Hause einladen und Hendrik sollte auf die Rangen aufpassen. Gegen elf Uhr wollten die Burgs wieder zu Hause sein. Doch sowohl Clara als auch Peter befiehl an diesem Abend eine unerklärbare Unruhe. So beschlossen sie den Tanzabend zu verschieben. Hendrik hatte den Kindern wieder eine Essensschlacht erlaubt und nachdem alle anderen Kinder von ihren Eltern abgeholt wurden waren, schickte er Amanda ins Wohnzimmer zum Fernsehen. Er selbst begann die Küche zu säubern und folgte dem Mädchen eine halbe Stunde später. Im Wohnzimmer angelangt, begann er auf einmal zu zittern und Amanda in ihrer kindlichen Unschuld fragte, ob sie ihm helfen könnte. Hendrik meinte, er bräuchte nur einen Drink. Und tatsächlich, nachdem er einen Whisky ihres Vaters getrunken hatte, hörte das Zittern auf. Zwei Gläser und 10 Minuten später setzte es aber umso stärker wieder ein.
Sarah spürte, wie sie auf ihrer Reise in die Vergangenheit wieder zurück in den kleinen achtjährigen Körper gesogen wurde. Sie spürte wieder den heißen Atem auf ihrer Haut als Hendrik sie zu sich auf den Schoß zog und ihr etwas ins Ohr hauchte. Der durchdringende Alkoholgeruch zog beißend in ihre Nase.
„Du kannst mir helfen, Kleines, ja das kannst du wirklich.“ wisperte Hendrik. Und begann sie zu streicheln.
Schwere Hände wanderten über ihre Schultern und blieben auf der noch knabenhaft flachen Brust liegen.
„Wie denn, Onkel Hendrik?“ immer noch voller Vertrauen sah sie zu ihrem vermeintlichen Freund auf.
Raues Lachen erschallte.
„Ich zeig es dir, Kleines, ja ich zeig es dir!“ die Stimme Hendriks wurde lauter, kälter. Seine Hände nahmen ihre Wanderung wieder auf. Doch begnügten sie sich nicht mehr mit sanftem Streicheln, sondern sie wurden zu groben Pressen.
Erschrocken begann Amanda sich zu wehren, um zu merken, dass sie gegen die Gewalt dieses Mannes keine Chance hatte.
Brutale Hände zerrissen ihre Kleider. Wüste Lippen rasten über den kleinen Körper, plündernd, vernichtend.
Fünf Minuten genügten um einem Kind das Traumreich zu zerstören, um dessen unschuldiges Vertrauen zu missbrauchen.
Entsetzt mussten Burgs dies feststellen, als sie den vermeintlichen Freund schwer atmend von ihrer einzigen Tochter rissen. Sie waren dieses eine, grausame Mal zu spät gekommen und das Leben sollte sie noch härter bestrafen.
Amanda konnte nur mit Hilfe einer sehr guten Psychologin zurück ins Leben finden. Aus einem achtjährigen Sonnenschein wurde eine in sich gekehrte ernste Frau. Doch ihr Martyrium sollte damit erst beginnen.
Vom Vater Amandas zusammengeschlagen, wurde Hendrik Anderson im Gefängniskrankenhaus untergebracht. Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass er ein gesuchter Kindervergewaltiger und Mörder war. Ihm konnte nicht eine Tat nachgewiesen werden, denn er hinterließ niemals Zeugen. So mussten die Burgs ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden.
Am härtesten traf Amanda die Verhandlung, wo sie als Zeugin geladen wurde. Wie sollte dieses Kind die Beschimpfungen verstehen, die der Angeklagte über ihr ausschüttete?
„Gib’s zu, dir hat es doch Spaß gemacht, du kleine Schlampe!“ „Ich besorge es dir gern wieder!“ „Soll ich dich gleich hier flachlegen.“
Am Tag des Schuldspruches schwor Hendrik Anderson alias Brandon Ford der Familie Burg Blutrache …
6. Kapitel
Sie wollte am liebsten die Welt mit bloßen Händen einreißen, wenn nur dieser Schmerz nachlassen würde.
Verloren starrte Alice auf den Telefonhörer in ihrer Hand, der leise vor sich hin tutete und das Gesprächsende signalisierte. Sie konnte das eben Gehörte nicht glauben, nicht begreifen.
Frank, ihr engster, liebster und bester Freund, war gestern tot aufgefunden wurden. Er war im Alter von 30 Jahren einfach so gestorben.
Kein Verdacht auf fremde Gewalteinwirkung oder Suizid, den Rest würde die Autopsie zeigen, so kalt und erbarmungslos lautete die Aussage der Polizei. Nur wie sollte man auch den Tod eines geliebten Menschen wärmer erklären?
Tausende Fragen stürzten auf Alice ein. Am lautesten schrie und brannte das Warum in ihrem Kopf. Es wurde immer lauter und lauter. Doch keine Träne brachte die Erlösung.
„Was ist los, Alice?“ fragte ihr Vater.
Alice verbrachte das Wochenende bei ihren Eltern und ihr Vater war gerade nach Hause gekommen.
„Frank ist gestern gestorben.“ so leise sie diese Worte auch aussprach, so schienen sie doch die Lautstärke eines Orkanes anzunehmen. „Einfach so.“
Verständnislos schaute ihr Vater sie an. „Aber er war doch erst vor 2 Monaten bei dir und ihr habt seinen Geburtstag gefeiert!“ stellte er entsetzt fest.
„Ja, und gestern Mittag wurde er tot in seiner Wohnung aufgefunden.“
Als hätte die Ungläubigkeit des eigenen Vaters eine Schleuse geöffnet, rannen Alice die Tränen über das Gesicht.
„Mark wusste auch nichts Genaues, nur dass es keine Fremdeinwirkung und auch kein Suizid war.“ berichtete sie stockend weiter. „Die Polizei hat aber eine Autopsie angeordnet. Er war wohl krankgeschrieben. Sie vermuten unter anderem eine Tablettenunverträglichkeit. Aber wissen…“
Ein Schütteln lief durch ihren ganzen Körper und der Schmerz begann sich seine Bahn zu brechen.
Eine halbe Stunde später erfüllte sie die traurige Aufgabe, um welche sie Mark gebeten hatte, und informierte noch einige ihrer engsten Freunde.
Überall traf sie schweigendes Entsetzen, Fassungslosigkeit. Und immer wieder hörte sie eine Frage: „Warum gerade Frank?“.
Wenn sie doch nur religiös wäre, so wie er es gewesen war, dann könnte sie glauben, dass der liebe Herrgott mit Frank Schach spielen oder sich seine Reiseberichte aus aller Herren Länder anhören oder mit ihm auf Wolke sieben um die Wette Motorrad fahren wollte. Aber sie konnte nicht glauben, sie konnte nur hoffen …
Am härtesten traf Jennifer die Botschaft von Franks Tod. Sie hatte ihn das ganze Jahr besuchen oder einladen wollen, aber wie immer hatte das Leben beiden anderweitige Prioritäten gesetzt und beide glaubten ja, sie hätten noch fast unbegrenzt Zeit.
„Oh Alice, du hast ihn wenigstens nochmal gesehen zu seinem Geburtstag, aber ich… Wenn doch nicht immer was dazwischen gekommen wäre dieses Jahr… Da war diese Spendengala… Und dann war er unterwegs… Ich hätte mir die Zeit nehmen müssen… Ich… Wir…“
Alice brach fast das Herz, angesichts Jennifers Hilflosigkeit. Diese starke, liebe Freundin genauso traurig zu sehen, wie sie selbst es war, ging fast über ihre Kraft. Sanft versuchte Alice Jennifer über die gemeinsamen Erlebnisse mit Frank sprechen zu lassen. Und es schien auch zu helfen.
In Erinnerungen schwelgend gedachten sie Frank. Seinem spitzbübischen Grinsen, wenn er etwas ausgeheckt hatte, seinem strahlenden Lächeln, wenn er die beiden sah. Sie erinnerten sich an die sprühende Lebensfreude, den Eifer die Welt zu entdecken, die widerspruchslose Spontaneität. Durch Franks Augen war die Welt so wunderschön liebenswert und grausam zugleich. Er schien immer der ruhende Pol und war trotz allem die treibende Kraft, was Humor und Schabernack anbelangte. Der einsame Wolf auf der Suche nach seiner Wölfin, die er auch noch kurz vor seinem Ableben getroffen hatte. Der liebenswerte Vagabund, der jeden Brotkrumen an Gefühl aufnahm und tausendfach zurückgab. Der scheinbar fehlerlose Ritter, dessen kleine Makel ihn noch perfekter zu machen schienen.
Und das alles erlaubte sich der liebe Gott, oder wer auch immer, von ihnen weg zu holen. Ein geflügeltes Wort fiel den beiden Frauen ein. Nur die Besten sterben jung.
Denn wenn es den lieben Gott gäbe, würde er sich nur mit dem Besten zufriedengeben, wie jeder andere Mensch auch …
Heute wurde Frank beerdigt. Dem Anlass entsprechend düster war der Himmel. Dunkles, drohendes Grau drückte seine trostlose Stimmung auf die Erde.
Dutzende Menschen fanden sich vor der Kirche ein. Niemand konnte in seiner Beklemmung Worte finden. Nur zugeschnürte Kehlen und vor Tränen schimmernde Augen.
Alice wollte fliehen, nur war dies doch die letzte Ehre, welche sie Frank erweisen konnte.
Mark, Jennifer, Andreas, die wunderschön schwangere Dani und noch viele andere Freunde versuchten sich mit einer liebevollen Berührung oder einem traurigen Lächeln Mut zu schenken.
Tränen, die Frank nie gewollt hatte, liefen über alle Wangen, als die Pfarrerin Minuten später die Grabrede begann. Die Bilder, die sie heraufbeschwor, waren alle so voller Leben, so greifbar nah. Die Worte, die sie fand, schienen Frank leibhaftig durch Raum zu schweben zu lassen.
Und jeder schien schreien zu wollen, warum er?
Warum ging nicht die Tür auf und Frank trat herein?
Die Trauergäste erhoben sich, um sich zur Urnenbeisetzung zu begeben.
Ein Onkel Franks öffnete die Tür und als die Menschen begannen aus der Kirche zu treten, brachen sich Sonnenstrahlen ihre Bahn durch das trostlose Grau des Himmels. Wärmende Hände schienen alle Anwesenden zu umfangen, zu streicheln, zu trösten.
Und Alice wusste es geht Frank gut. Er war zwar traurig schon gegangen zu sein und vor allem Barbara schon wieder verloren zu haben, wo er sie doch gerade erst gefunden hatte. Doch dort wo er jetzt war, war er glücklich.
Alices Tränen schienen nicht enden zu wollen. Trauer und Glück vermischten sich zu einem kaum erträglichen Schmerz.
Als sie an der Reihe, am Urnengrab war, küsste sie ihre gelbe Rose.
„Schlaf gut, mein Bruder.“ flüsterte sie leise und legte die Rose neben das schwarze, kleine Loch, in dem die Urne lag.
So sehr sie es auch bedauerte, sie konnte für Franks Eltern keine Worte finden. Sie konnte sie nur umarmen. Alice wollte ihnen Mut zu sprechen, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Auch Franks Schwester konnte sie nur festhalten.
Alice spürte Franks gutmütigen Spott über ihre bitteren Tränen, aber sie spürte auch sein Verständnis. Sie wusste, er hasste diese Trauer und er wusste, dass alle sie bräuchten.
7. Kapitel
Federleicht legte sich Sarahs Hand auf Philips Schulter. Er spürte eisige Kälte in sich aufsteigen. Der Hauch des Todes streichelte ihn, dessen war er sich sicher. Tränen strömten über seine Wangen, als er sie sah.
Sie schien in eine düstere Aura getaucht, welche sowohl der Anfang als auch das Ende bedeuten konnten. Sarah war so wunderschön. Er konnte sich nicht satt sehen an ihren Anblick.
‚Verlass mich nicht, bitte, ohne dich kann ich nicht leben!‘ schrien Philips Gedanken. ‚Wir haben uns doch geschworen, uns niemals wieder allein zu lassen.‘
Dann verschwand Sarah und Philip wusste, er hatte einen Blick in den Himmel werfen dürfen.
Zweifel über die Richtigkeit seines Handelns tauchten auf.
Wie oft hatten sich Sarah und er über eine solche Situation unterhalten. Beide hatten sich nie künstlich am Leben erhalten lassen wollen. Nur konnte Philip jetzt nicht anders.
Er wollte warten, sie musste zu ihm zurückkehren. Dieses monotone Pfeifen der Geräte ängstigte ihn, denn er verstieß gegen Sarahs Willen. Doch es gab ihm auch Hoffnung und den Glauben an ein gutes Ende.
Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Er wollte sich so gern an die glücklichen Tage erinnern, doch irgendetwas trieb ihn weiter in der Zeit zurück …
„Und du bist ganz sicher, dass du dieses Gör zu meiner Hochzeit einladen willst?!“ schmollte Celeste. „Immerhin hast du sie zwei Jahre lang nicht gesehen!“
„Schatz,“ hob Philip geduldig an diese Diskussion nun zum xtenmal führend. „Erstens ist Sarah jetzt bestimmt kein Gör mehr, immerhin ist sie 18 Jahre alt und zweitens, wenn ich Onkel Robert und Tante Barbara einlade, kann ich ihre Tochter wohl schlecht ausladen, oder?“
„Und wieso muss dieses armselige Pack überhaupt kommen?“ Celeste wurde langsam wütend. Zu oft hatte sie Philip in den letzten zwei Jahren erwischt, wie er Sarahs Foto betrachtete und sich in Erinnerungen vergrub. Dieses kleine Miststück hatte einen unübersehbaren Einfluss auf Philip. Er hatte ihr damals von dem Streit erzählt, indem Sarah Philip vor ihr warnte. Natürlich ließ Celeste ihre Felle nicht davon schwimmen. Getröstet hatte sie ihn und sein Vertrauen erschlichen. Tja, nächsten Monat um diese Zeit würde dieser dumme Kerl ihr Mann sein und sie wäre reich. Als ihr durch den Kopf schoss, wie einfach sie ihn hatte einfangen können, hätte sie beinahe aufgelacht. Doch dann fiel ihr ein, dass dieser Kerl fast drei Jahre gewartet hatte, um sie endlich zur Frau zu nehmen. Um keinen bösen Überraschungen zu erleben, hatte ihre baldige Schwiegermutter ihr erklärt. Oh Gott, war diese Bagage naiv. Für 3 Millionen, so hoch war der Anteil Philips an der Familienfirma, konnte man sich auch mal ein bisschen länger verstellen. Obwohl letzte Woche wäre es fast schiefgelaufen. Mario war zu einem absolut tollen Schäferstündchen vorbeigekommen und beim Gehen wäre er beinahe Philip in die Arme gelaufen…
„Armseliges Pack, Celeste?“ Philips Stimme hatte jeden Anflug von Geduld verloren, wütend baute er sich vor seiner Verlobten auf. Niemand durfte die Peters, seine zweite Familie, so böse beleidigen. Niemand, nicht einmal die Frau, die er heiraten wollte.
‚Die Frau, die ich heiraten will, nicht die ich liebe?‘ schoss es Philip durch den Kopf. ‚Natürlich, die Frau, die ich liebe und heiraten will!‘ und wie so oft in den letzten Wochen drückte er seine leisen Zweifel beiseite.
Da Celeste kaum größer als Sarah war und sich so oft die Geschichte um ihren ersten und letzten Streit anhören durfte, wusste sie um ihren Vorteil.
Mit gekonnt erschrockenem Gesicht sank sie in sich zusammen, um noch kleiner zu wirken. Nach zweimaligem Zwinkern stiegen Tränen in ihre Augen, eine Eigenschaft, welche ihr schon immer Vorteile hatte erzwungen.
„Aber, aber… ich wollte… ich habe…“ begann sie mit dünner Stimme zu stammeln.
Und es wirkte, wie jedes Mal.
„Tut mir leid, Schatz.“ rief Philip ernüchtert und zog sie sanft in seine Arme. „Ich wollte dich nicht erschrecken! Aber du weißt doch, wie viel mir die Peters bedeuten.“
„Und du verzeih mir die Beleidigung!“ Celeste spielte erleichtert mit. Sie musste aufpassen, dass sie sich nicht kurz vor ihrem Ziel noch alle Chancen verdarb.
‚Und alles wegen diesem kleinen Luder! Aber mir wird schon was einfallen!‘ sann sie boshaft nach.
„Lass uns einen Kompromiss schließen, Liebes.“ bat Philip, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. „Ich lade die drei Peters ein und du hast einen Wunsch frei.“
Mehr als zufrieden mit dieser Einigung, hob Celeste ihr tränennasses Gesicht, in Erwartung eines innigen Kusses.
Philip hauchte ihr kurz einen Kuss auf die Stirn und ließ sie wieder los.
„Ich hab noch einiges zu erledigen, sei nicht böse.“ sprach er und verschwand fast augenblicklich in seinem Arbeitszimmer.
Wütend blieb Celeste zurück. Ihr Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten. Sie musste diese Sarah ein für alle Mal aus Philips Leben verbannen. Wer weiß, sonst durchkreuzte diese Göre vielleicht doch noch ihre Pläne…
„Ach, ich hab heute deine kleine Unschuld gesehen.“ begann Celeste vier Tage später unverbindlich Philip zu erzählen. „Sie knutschte ausgiebig mit einem großen, gutaussehenden Typen. Da werden wir wohl für Sarahs Lover noch eine Einladung nachschicken müssen.“
Nach diesem gutsitzenden Pfeil verließ sie geschäftig das Zimmer.
Sie hatte vor, Mario die Leviten zu lesen. Er war es, den sie mit Sarah gesehen hatte. Doch statt diese zu vernaschen, hatte sie ihm in aller Öffentlichkeit eine ordentliche Fünf ins Gesicht gegeben. Was dieses farblose Wesen sich erlaubte …
Philip stand wie vor den Kopf geschlagen da. Sarah, seine kleine süße Sarah, sollte einen Liebhaber haben. Nein, das konnte, das durfte nicht sein. Sarah war doch noch so jung, so unschuldig. Außerdem, ein fremder Mann betatschte da sein Eigentum, wilderte in seinem Revier… Und ausgerechnet Celeste, die Frau, welche er in drei Wochen heiraten wollte, erzählte ihm dies…
Ein ohrenbetäubendes Fiepen begann den Raum zu durchdringen. Philip kehrte mit einem Schlag in die Gegenwart. Eine gleichmäßige gerade Linie zog sich über die Herz – Lungen – Maschine.
Weder hörte er seinen Schrei noch spürte er, wie ihn ausstieß. Philip bemerkte auch nicht, dass Schwestern und Ärzte angerannt kamen und Sarah versorgten. Philip rief immer wieder ihren Namen und beschwor sie zurückzukommen. Drei Pfleger hielten ihn fest, damit er nicht wieder an ihre Seite stürzte und ihren leblosen Körper an sich presste.
Dann wurde er plötzlich still. Er sah sie über dem Bett. Reglos, gefühllos beobachtete sie die Reanimation. Sie sah wie sich ihr Körper unter den Elektroschocks aufbäumte. Dann trat sie ans Bett und hauchte einen Kuss auf ihre eigene Stirn. Sofort ertönte ein rhythmisches, leises Piepen.
‚So ist es gut.‘ sagte sie. ‚Und nun schaue ich mir an, was ich verlieren würde.‘
Er hörte diese Gedanken, sah, wie ihre Gestalt sich in Nebelschwaden auflöste. Philip glaubte verrückt zu werden und wusste doch um die Realität des eben Erlebten.
„Ich will zu ihr!“ begann er wie von Sinnen zu schreien. Die drei Pfleger konnten ihn nicht halten.
Verwundert sahen alle, wie der arme Mann in die Mitte des Raumes rannte und versuchte in die Luft zu springen.
„Lasst mich zu ihr!“ schrie Philip wie ein Berserker. Genau an dieser Stelle hatte sich Sarah in Rauch aufgelöst, war verschwunden.
Philip bemerkte weder die zwei Pfleger, die ihn festhielten noch den Arzt, welcher ihm eine Beruhigungsspritze setzte. Er wunderte sich nur, warum er sich so schnell wieder bei seiner Hochzeit mit Celeste befand. Nicht einmal das er träumte, konnte er realisieren…
„Sie sieht fantastisch aus, nicht wahr, Philip!“ doch während seine Mutter die Braut Celeste meinte, konnte Philip seine Augen kaum von Sarah lassen.
„Ja, Mutter, wunderschön.“
Sarah war zu einer atemberaubenden Schönheit herangewachsen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Diese Natürlichkeit, diese Scheu, diese Unverdorbenheit gab ihr mehr Ausdruck als den meisten anwesenden Frauen. Einschließlich Celeste.
Doch genau diese hatte es sehr gut verstanden die kleine Landpomeranze, wie sie Sarah zu nennen pflegte, immer wieder mit Mario zusammen zu führen. Warum war diese dumme Kuh auch nicht dessen Reizen erlegen? Eher das Gegenteil schien der Fall zu sein. Bei jedem Treffen mit Mario spürte Celeste, dass er sich immer mehr von ihr entfernte. Irgendwas musste an diesem Kind sein, auch wenn Celeste es beim besten Willen nicht entdecken konnte.
Sie beobachtete Philip, ihren zwei Stunden alten Ehemann. Ihr war es nur recht, wenn er sich nach einer geheimen Frucht verzehrte. Aber sollte er mit dem Pflücken doch bitte schön warten, bis sie ohne großes Aufsehen zu erregen einen Privatdetektiv engagieren konnte. Immerhin bekam sie bei einem von ihrem Ehemann begangenen Seitensprung 1 Million Entschädigung. Umgekehrt würde sie, laut Ehevertrag, leer ausgehen.
Aber Celeste hätte jede Wette abgeschlossen, dass Sarah bald ihr Scheidungsgrund sein würde.
Nur wollte sie ihren Mann vorher doch gern noch etwas schröpfen. Seine „schlechte – Gewissen – Geschenke“ waren bisher immer sehr großzügig gewesen.
Entschlossen noch einige Monate im goldenen Käfig auszuharren begab sich Celeste zu ihrem Angetrauten.
Zwei Stunden später hatte Philip Sarah endlich in seine Arme nehmen können. Zum ersten Mal seit zwei Jahren tanzte er wieder mit ihr. Er erschrak über die Heftigkeit seiner Gefühle zu ihr, als er in ihre Augen schaute.
„Hallo Kleines, schön dass du da bist.“ versuchte er mit belegter Stimme ein Gespräch zu beginnen.
„Danke für die Einladung.“ antwortete Sarah förmlich, gerade so als spräche sie mit einem Menschen, den sie gerade kennen gelernt hatte.
„Oh Kleines, ich habe dich vermisst!“ stöhnte Philip auf und zog Sarah enger an sich heran.
Sobald es ihr unauffällig möglich war, sorgte Sarah wieder für mehr Abstand zwischen ihnen.
„Ich muss gehen, Philip.“ bat sie um ihre Freigabe. „Es war falsch, herzukommen.“
„Nein!“ stieß er laut hervor, und um kein Aufsehen zu erregen, senkte er die Stimme, als er weitersprach. „Kleines, bitte. Ich möchte dich nicht wieder verlieren, jetzt wo du endlich bei mir bist.“
„Als ob ich eine Wahl gehabt hätte!“ zischte Sarah erbittert. „Hör zu Philip. Wir waren mal Freunde. Aber das ist verdammt lang her, also lass es wie es ist.“
„Sarah, Liebling, bitte. Ich brauche dich doch.“
„Liebling? Bin ich dafür nicht die falsche Frau. Und mich brauchen? Wo warst du in den letzten 24 Monaten, als ich dich hätte gebraucht?“
Doch auch mit der größten Kraftanstrengung hätte Sarah sich nicht aus der folgenden Umarmung lösen können.
„Ich habe mich doch so geschämt.“ hörte Sarah Philip heiser flüstern. „Bitte, bitte, verlass mich nicht wieder, wo ich dich doch endlich wiederhabe.“
Die Musik hörte auf zu spielen und Philip musste Sarah aus seinen Armen entlassen.
„Komm heute Abend zum Felsen, lass uns reden. Bitte, Sarah, bitte.“ ohne auf eine Antwort zu warten, wandte Philip sich um und ging zur Hochzeitsgemeinde zurück.
Als er Celeste sah, erinnerte er sich an Sarahs Warnung und zum ersten Mal fragte er sich ernsthaft, warum er diese auch nicht einmal im Leisesten beachtet hatte. Er sah das Falsche im Lächeln seiner Frau, welches sie seiner Mutter schenkte, durch den Vergleich mit Sarahs Natürlichkeit.
Farbblitze zuckten durch Philips Traum. Strudel aus gleißendem Licht. Er spürte dieselbe Kälte, welche in ihm an diesem Tag aufstieg. Sah Celestes Maske, noch verzerrter, als damals. Gedanken, Menschen, Situationen begannen durcheinander zu wirbeln. Er schmeckte den Alkohol, den er damals in seiner Verzweiflung getrunken hatte. Bitterkeit stieg in ihm auf. Ein kleines, lustiges Mädchen, eine junge, begehrenswerte Frau, Sarah. Dies war alles was er jemals wollte. Die Szenerie begann sich zu verlangsamen, die Bilder wurden wieder klarer.
Er befand sich am Abend seiner Hochzeit am Felsen seiner Jugend. Sarah war da. Noch schöner und unschuldiger, als er sie vom Nachmittag in Erinnerung hatte.
Doch die gewünschte Aussprache sollte es nie geben. Gelenkt von Sehnsucht nach wahrer Liebe und im Willen durch den starken Alkoholgenuss geschwächt, riss er Sarah in seine Arme.
Er spürte ihre Furcht, als sie seinen alkoholisierten Atem roch. Doch mit sanftem Streicheln, zärtlichen Worten und vorsichtigen Küssen schien diese Angst besiegt werden zu können.
Am Felsen, ihrem gemeinsamen Zufluchtsort der Kindheit, verführte Philip Sarah.
Doch er spürte weder die Lippen noch die Hände, noch sah er irgendein Detail ihrer Vereinigung. Sein Traum riss ihn unbarmherzig weiter.
Er sah sich vor der nackten Sarah stehend, sie beschimpfend.
Im Augenblick des Erkennens, dass seine unschuldige Sarah gar nicht mehr unschuldig war, überschwemmte ihn seine Wut. Er schrie ihr die gemeinsten Beleidigungen zu. Celestes Worte über die angeblich beobachtete Liebesszene hatten in seinem Unterbewusstsein Nahrung gefunden und brachen sich nun genauso ihren Weg, wie seine Schuldgefühle.
Vor zwei Jahren glaubte er die Grenze von Sarahs Qualen erkannt zu haben, doch ausgerechnet er selbst erweiterte diese um ein Vielfaches.
Die ungeweinten Tränen und die fehlende Rechtfertigung Sarahs trieben seine Raserei noch weiter.
Und als er sie etwas später nackt liegen ließ und ohne ein Wort der Entschuldigung ging, war dies auch für ihn der Beginn eines langen Leidensweges.
In allen Regenbogenfarben schimmernd begannen sich die Bilder in Philips Kopf wieder zu drehen.
Im Bruchteil einer Sekunde flogen die darauffolgenden fünf Monate an ihm vorbei. Der Bruch mit Celeste, keine drei Wochen nach der Hochzeit. Die Trauer seiner Mutter darüber und die daraus resultierenden Diskussionen. Die Wut seines Vaters, als er Celestes Hinterhältigkeit erkannte. Sein eigenes Vergraben in die Arbeit und in den Alkohol, um zu vergessen.
Bis hin zu dem Tag, als er Sarah zufällig auf der Straße sah.
Lachend sprang sie aus einem Geschäft heraus in die Arme eines jungen Mannes.
„Ich habe ihn, ich habe ihn!“ rief sie und wedelte mit einem Blatt Papier vor seiner Nase.
Der junge Mann schwenkte sie freudig strahlend durch die Luft, nur um sie übervorsichtig wieder ab zu setzen. Leise fragend, ohne dass Philip die Worte verstand, legte er eine Hand auf Sarahs Bauch. Sarahs sichtlich gerundeten Bauch.
Schmerz durchfuhr Philip. Er konnte nichts mehr denken, nichts mehr fühlen. Seine Sarah war schwanger und in den Armen eines anderen Mannes, lachend.
Philip blieb unbeweglich stehen, bis Sarah und der Mann in das rosafarbene Cabriolet gestiegen und losgefahren waren.
‚Mario.‘ schoss es ihm durch den Kopf. ‚Mario, der ehemalige Liebhaber meiner Frau, nimmt mir jetzt auch noch meine Geliebte!‘
Das aber ausgerechnet diese Geliebte seit seinem Wutanfall vor fünf Monaten nichts mehr von ihm gehört hatte, dass beachtete er in diesem Moment nicht.
Langsam begann er sich auf die Tür hinzu zu bewegen, aus Sarah herausgekommen war.
„El Dorado“ stand in großen Lettern auf dem Schild und kleiner darunter. „Benötigen Sie Hilfe für die Hochzeit, hier finden Sie diese!“
Für Philip schien abermals eine Welt einzustürzen.
Sie wollte ihn heiraten, seine Sarah wollte heiraten. Schwanger und heiraten.
Er schämte sich noch heute der bösen Gedanken und Wünsche, mit denen er das Cabriolet verfolgte.
Wütend drehte er um und ging seiner Wege. Er achtete weder auf das zweite Schild an der Tür noch das im Schaufenster vom El Dorado „wegen Betriebsferien geschlossen“ stand.
8. Kapitel
Egoistischer weise verlor sich Alice in ihrer Trauer um Frank. Sie benötigte diese Selbstzerfleischung, denn sie spürte das der Schmerz dadurch begann weniger, leiser zu werden.
Traurig lächelnd kramte sie alte Fotos heraus. Ihren Wahnanflug, Frank eine Art Schrein zu errichten, konnte sie gerade noch mit Fotos anderer Freunde und der Familie bremsen.
Es gab so viele wunderbare Erinnerungen an und mit Frank.
Warum durften es nicht mehr werden?
Mit elf Jahren Freundschaft, hatte Frank sie fast die Hälfte ihres Lebens begleitet. Er war da, wenn sie Rat brauchte. Hatte ihr bei der J-Frage geholfen und ihr gezeigt, dass sie die zwei Jahre schaffen würde. Dass sie nicht nur ihr Versprechen halten, sondern auch diesen „kurzen“ Zeitraum warten konnte. Danach hätten sie ja genug Zeit…
Ausgerechnet Zeit, genug Zeit. Sie begann alles in Frage zu stellen. Ausgerechnet Zeit, die hatte sie nun mit Frank nicht mehr. Es war zum Verzweifeln. Frank war die Schulter zum Ausweinen und der Kerl zum Pferde stehlen. In ihrem Schmerz hatte sie sogar schon zweimal seine Telefonnummer gewählt, um von ihm Hilfe zu bekommen.
Nicht nur Alice wollte ihn zurück. Auch Mark und Dani und all die anderen Freunde.
Diese Lehre, von der Vergänglichkeit des Lebens, war eine harte Prüfung für alle geworden. Der Kontakt der Freunde wurde wieder enger, doch zu welchem Preis …
Drei Monate waren nach Franks Tod vergangen. Alices Trauer wurde langsamer stiller und weniger schmerzhaft. Doch trotz allem begleitete die Erinnerung an ihn sie noch jeden Tag.
Liebevoll sah sie auf die Pflanze, welche Frank ihr vor einigen Jahren zum Einzug geschenkt hatte.
Mit Entsetzen erinnerte sie sich an den Morgen, als sie von ihren Eltern kam. Drei Tage zuvor hatte sie von Franks Tod erfahren. Als sie die Tür geöffnet hatte, wurde ihr Blick fast magisch von dem Stock angezogen. Die sonst so kräftig grün leuchtenden Blätter waren zu braunen Röhren zusammengeschrumpft. Von dem einstigen Ungetüm, welches die Zimmerecke in der es stand ausfüllte, waren bis auf die müden gesenkten Zweige voller welker Blätter nichts übrig geblieben.
Die versiegt geglaubten Tränen begannen wieder zu fließen. Noch unaufhaltsamer als die Tage zuvor. Auch das Bild vom J-Wort half ihr nicht auf der Suche nach innerem Frieden.
Sekunden, Minuten oder Stunden später, sie wusste es nicht zu sagen, schloss sie in ihrer Verzweiflung ein Abkommen mit der Pflanze.
Sie bat die Pflanze zu überleben, wenn es Frank an dem Ort, wo er sich jetzt befände, gut gehen sollte. Ansonsten erlaubte Alice der Pflanze zu sterben, genau wie er.
Am Tag von Franks Beisetzung hielt die Pflanze ihr Versprechen. An diesem Morgen durchbrach ein kleiner zarter Trieb den Boden. Und heute war aus diesem Trieb wieder eine starke Pflanze geworden.
Zum ersten Mal seit Wochen begab sich Alice wieder an ihren Computer. Sie wusste, dass ihr langsam die Zeit davonlief. Immerhin hatte sie ein Versprechen abgegeben, welches sie zu halten gedachte. Ein letzter liebevoller Blick streifte die Pflanze, das Bild von Frank und ein etwas längerer das vom J-Wort.
Und wieder einmal hallten für Stunden nur noch die Klänge einer neuen Lieblings- CD und das Klappern der Computertastatur.
Dani lag in den Wehen und wollte ihren Mann Andreas nicht in ihrer Nähe wissen. Und besagter verstoßener Mann tigerte nun mit kilometergroßen Schritten den Gang des Krankenhauses, auf welchem sich der Kreißsaal befand, auf und ab.
„Hoffentlich geht… Warum haben wir nicht… nichts passiert… die Mutter gesund…“ Alice konnte nur Wortfetzen vom Gebrabbel ihres Sandkastenkumpanen erhaschen, zu schnell lief er hin und her.
Nach drei Stunden hatte Alice den werdenden Vater wenigstens soweit beruhigt, dass er sich mit ihr in den Warteraum setzte und einen Tee trank. Das kleine Zimmer füllte sich bald mit weiteren Freunden und Familienmitgliedern und als dann irgendwann alle wichtigen Menschen anwesend waren, kam eine Schwester um Andreas zu holen.
„Ein Junge, wir haben einen Jungen!“ kam er bald völlig fassungslos zurück. „Ein Junge, mit zehn Zehen, zehn Fingern und total verschrumpeltem Gesicht!“
Andreas setzte sich mit einem breiten Grinsen auf den ersten freien Stuhl und beantwortete alle Fragen der Anwesenden. Dani musste leider noch genäht werden, aber gleich könnte man einzeln zu ihnen.
Alice erste Begegnung mit ihrem Patenkind würde vermutlich keiner vergessen. Dani wollte das sie den Jungen in den Arm nahm und Alice hauchte ehrfürchtig: „Und wenn ich was kaputt mache?“
Die resolute Freundin schnappte ihren Sohn und drückte ihn der fassungslosen Alice in die Arme.
„Wie wollt ihr ihn nennen?“
„Frank.“
9. Kapitel
Sarah sah sich selbst in dieser fremden Stadt, in diesem fremden Haus mit fremden Namen. Ihr zarter neunjähriger Körper wurde von Alpträumen geplagt. Plötzlich schreckte sie laut schreiend auf. Wie eine Furie versuchte sie den imaginären Feind mit ihren Händen zu vertreiben.
„Sarah, Schatz!“ hörte sie die flehende Stimme der Mutter. „Sarah, beruhige dich. Ich bin hier, Kleines. Es ist doch nur ein Traum.“
Ernüchtert blieben die Arme in der Luft ausgestreckt und der Körper des Kindes versteifte sich.
„Ich heiße Amanda, Mama. A M A N D A, Amanda!“ sagte das Mädchen mit fester, ernster Stimme.
Ihre Mutter schlang leise weinend die Arme um den kalten Leib ihrer Tochter. „Ja, Schatz natürlich heißt du Amanda. Aber du weißt doch, wegen Onkel …“
„Er ist nicht mein Onkel!“ schrie das Kind auf. „Und außerdem warum müssen wir uns verstecken? Er soll sich verstecken, vor mir! Denn ich werde ihm weh tun, wie er mir! Schlimmer noch, viel schlimmer noch!“
„Oh Mandy!“ laut schluchzend klammerten die zwei Gestalten sich im Dunkel des Zimmers aneinander. „Bitte, sag so was nicht, Mandy. Sag so etwas nie wieder!“
Zum ersten Mal bemerkte Sarah ihren Vater in diesem Raum. In ihren früheren Erinnerungen schien er nicht da gewesen zu sein. Nun musterte sie sein Gesicht und auch im Halbdunkel der Tür sah sie diesen unbeschreibbaren Hass, die hoffnungslose Wut auf Hendrik Anderson und die maßlose Liebe zu seiner Tochter widerspiegeln.
„Du wirst dir deine Hände nicht schmutzig machen müssen, mein Baby.“ hörte Sarah das leise Flüstern einer ihr scheinbar unbekannten Stimme.
Entsetzt schaute sie zu ihrem Vater und dann zurück auf ihr eigenes neunjähriges Abbild, in den Armen der Mutter.
‚Armer Dad, aber wer konnte damals schon wissen …‘ schoss es ihr durch den Kopf.
Sarahs Reise ging weiter. Sie sah, wie sie Philip kennen lernte, die ersten Jahre ihrer Freundschaft, ihr eigenes Leben, in welchem die tägliche Angst immer kleiner wurde und Hendrik Anderson scheinbar nur noch ein schlechter Traum war. Aus Amanda wurde, dank Philip, eine ruhige Sarah, welche nach so langer Zeit vom Hass befreit war.
Beinahe ehrfurchtsvoll betrachtete Sarah Celeste, als diese in einem Traum aus weißer Spitze und Seide zum Traualtar schritt. Dieser zarte fast durchscheinende Teint, die hohen Wangenknochen, der volle Mund, der zum Küssen regelrecht einlud und momentan versuchte verliebt zu lächeln. Am meisten faszinierte Sarah das ausdrucksvolle Minen- und Augenspiel der Braut. Hätte sie nicht selbst um die Intrigen und Affären gewusst, für welche Celeste schon fast legendär war, Sarah hätte wirklich an diese vorgespielte Liebe geglaubt. Am meisten tat ihr Philip leid. Er konnte in seiner Gutmütigkeit keinen Makel an seiner zukünftigen Frau entdecken. Er ahnte nichts von den unzähligen Liebhabern und ihrem Versuch, ihn von allen Menschen zu trennen, die ehrlich zu ihm waren und denen er etwas bedeutete. Celeste schaltete ein Freund nach dem anderen aus, indem sie Philip von imaginären Annäherungsversuchen erzählte. Tatsache war, dass sie versuchte jeden seiner Freunde auf ihre Seite zu ziehen und wer nicht für sie war, der war gegen sie. Celeste war sogar so weit gegangen zu behaupten, dass Toni, der Chauffeur, sie versucht hatte zu vergewaltigen. Toni wollte lediglich kein Verhältnis mit der neuen Hausherrin und wurde aufgrund von Celestes Lügen fristlos gekündigt.
Sarah hatte von dem Leid geträumt, welches Philip noch bevorstand. Es war so unfair, sie sollte jetzt in diesem Kleid neben Philip stehen. Ihre Lippen wären nicht so triumphierend aufgeworfen, sie würde ihn hingebungsvoll anlächeln. Seine Hand sollte nach ihren Fingern suchen und er sollte ihr so tief und voller Liebe in die Augen schauen. Philip sollte ihr seine Liebe zu flüstern und nicht dieser, dieser ….
Sarah wollte seit Stunden weg von dieser grauenvollen Hochzeit. Es hätte ihre eigene sein sollen, und nun schaffte sie es endlich, sich unauffällig an den tanzenden Paaren vorbei zu mogeln. Doch kurz vor dem Ausgang hatte Philip sie festgehalten und um die Ehre dieses Tanzes gebeten. Sie könne doch dem Bräutigam nichts abschlagen, hatte er gemeint. Als ob sie Philip je eine Bitte hätte verwehren können.
„Hallo Kleines, schön dass du da bist.“ begann er mit belegter Stimme.
Sarah wusste später kaum noch etwas von ihrem Gespräch, sie wusste nur, dass sie Philip versprochen hatte, zu ihrem Felsen zu kommen.
Am Felsen entstand Leben. Sarah fühlte ihre körperliche und geistige Erneuerung. Das Paradies war jetzt und hier. Doch die Hölle öffnete sich Sekunden später. Noch bevor Philip einen Ton sagte, spürte sie es. Aber etwas anderes gab ihr die Kraft diese Pein zu überstehen, das neue Leben in ihr. Auch später noch schüttelte sie häufig den Kopf über ihre stoische Gelassenheit, welche sie in diesem Augenblick empfunden hatte. Sie wusste um die Schwangerschaft seit ihrem Beginn vor wenigen Minuten. Fast hätte sie vor Freude und Glück gelacht…
„Mario, hör auf mich so herum zu wirbeln!“ befahl Sarah dem hübschen, jungen Mann. „Mir wird ganz übel!“ rief sie lachend hinunter.
Als sie wieder auf zwei Beinen stand, brauchte sie einige Sekunden um sich zu sammeln. Mario war ihr in den letzten Monaten zu einem wahren Freund, zu einem großem Bruder geworden. Selbst als er ihr seine Verbindung zu Celeste gestanden hatte, konnte Sarah sich nicht von diesem lebenslustigen Gesellen abwenden. Seine vorwitzige Art brachte sie oft zum Lachen. Sarah und Mario empfanden sich als Geschwister, welche sie selbst nie besessen hatten.
„Es ist doch nur ein Vorsprechen!“ begann Sarah Mario nach Luft schnappend zu tadeln. „Noch kein Vertrag, ich weiß ja noch nicht einmal, ob sie mein Buch überhaupt gelesen haben!“
„Du hast sie geknackt, Süße!“ widersprach Mario augenblicklich. „Niemand kann deinen Worten widerstehen. Du hast sie verzaubert, so wie mich, mon Amore!“
Lachend versuchte Mario sie wieder ein zu fangen. Er wollte ihr einen Kuss geben und sie herzen und drücken.
„Ich bin so stolz auf dich, Schwesterchen.“ gestand er ihr, als er sie fest in den Armen hielt. „Ich weiß, dass du es schaffst. Für dich und meinen Neffen!“
Wütend kämpfte Sarah sich aus Marios Armen. „Neffen?“ wollte sie wissen. „Ich bin gerade mal im vierten Monat und du willst schon wissen, was es wird?“
„Na ein Junge, was sonst?“ feixte Mario. Er liebte diese Streitgespräche. „Und er wird selbstverständlich Mario genannt, nach seinem Onkel!“
„Und wenn es nun ein Mädchen wird, Herr Onkel?“ verlangte die werdende Mutter zu erfahren.
„Ein Mädchen?“ schnappte der zukünftige Onkel empört nach Luft. „Das wäre dann eine Maria und gebe es nur mit einem Mario im Doppelpack!“
Bei so viel Unverfrorenheit konnte Sarah nur sprachlos den Kopf schütteln.
Einen Monat später hatte Sarah, wie prophezeit, den Vertrag mit dem Strauß – Verlag und auch die zweite Prophezeiung sollte sich erfüllen…
„Oh Mario, wir danken dir für dein Geschenk!“ Robert und Barbara Peters stiegen strahlend in den rosafarbenen Mustang. Der junge Mann hatte Sarahs Eltern seinen Wagen überlassen, mit welchem sie in ihre zweiten Flitterwochen fahren sollten.
„Erinnerst du dich noch an unseren Mustang, Liebes?“ fragte Robert zärtlich. „Und an dessen Rückbank?“ setzte er flüsternd hinzu.
Mario erstaunte es immer wieder, wie eine gestandene Frau wie Sarahs Mutter noch so bezaubernd erröten konnte.
„Ja, ja die Rückbank hat so eine interessante Aussichtsmöglichkeit.“ bestätigte er grinsend.
„Mario!“ schnappte Barbara noch mehr errötend nach Luft.
Robert und Sarah grinsten sich glücklich an.
„Mama, Mario hat recht, vom Rücksitz aus hat man eine viel bessere Aussicht.“ bestätigte Sarah scheinheilig.
„Genug jetzt Kind, wir müssen los.“ sprach Robert dann ein Machtwort und mit einem Kuss auf ihre Stirn meinte er: „Pass gut auf meinen Enkel auf!“.
„Und noch besser auf meine Enkelin!“ rief Barbara beim Einsteigen.
Zärtlich streichelte Sarah über ihren sieben Monate alten Bauch. Winkend und lachend verabschiedeten Mario und Sarah die beiden.
Sarah befand sich auf einmal im Leichenschauhaus. Sie sah ihre eigene zusammen gesunkene Gestalt am, mit einem weißen Tuch bedeckten, Körper ihres Vaters.
„Robert war kein Mörder, dafür verbürge ich mich!“ schrie Mario den ermittelnden Polizeibeamten an. „Er hätte so etwas niemals getan, sie wollten in die Flitterwochen … in ihre zweiten Flitterwochen… hätte ich ihm nur den Wagen nicht … es ist meine Schuld …“ Marios Beine gaben nach und er fiel weinend auf die kalten Fliesen. „Er hätte es nie getan… nie… warum nur…“ Er konnte nur noch stammeln.
Der Polizist versuchte Mario zu helfen. Er legte seine Hand auf die zitternde Schulter und begann beruhigend auf ihn ein zu reden.
„Es tut mir leid, ich kann es auch nicht verstehen…“ hob der Beamte an.
Sarah sah, wie sie sich erhob, schwankend, Halt suchend nach etwas, was nicht mehr da war.
„Für mich!“ wie ein Windhauch zogen die zwei Worte durch den Raum.
Mario und der Polizist sahen sie verwirrt an.
„Für mich!“ erschollen die Worte etwas lauter.
„Für mich!“ schrie Sarah ihre Verzweiflung heraus.
Mario sprang auf um sie aufzufangen. „Liebes, du weißt nicht, was du redest. Es wird alles gut. Papa ist unschuldig. Das werden wir beweisen. Liebes, es ist gut.“ redete er auf sie ein.
Die junge Frau weinte nur noch still vor sich hin, überließ sich ihrem Schmerz.
„Als er über die Straße lief, haben deine Mutter und ich uns angesehen und einander zugenickt. Wir wussten, dass er uns gefunden hatte.“ Robert Peters Seele stellte sich neben Sarahs. „Du hast es immer gewusst, nicht wahr.“
Sarah schaute auf ihren schluchzenden Körper und Mario, der sie tröstete.
„Ja, aber warum hätte ich etwas sagen sollen? Du hast nur dein Versprechen eingelöst.“ Sarah war erstaunt, dass es sie kaum berührte, dass ihr Vater einen Menschen getötet hatte. „Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich froh darüber bin?“ fragend sah sie ihren Vater an.
„Oh Kind, was habe ich dir nur angetan!“ verzweifelt schlug Robert die Hände vor sein Gesicht. „All diese Trauer, diese Zweifel!“
„Erzähl es mir.“ bat Sarah nur.
„Wie bereits gesagt, wir waren keine drei Blocks entfernt, da lief Hendrik über die Straße. Er erkannte uns nicht, wie auch. Aber sein Gesicht hätte ich unter Millionen erkannt!“ Robert lief aufgeregt hin und her.
Sarah bemerkte erst jetzt, dass sie nicht mehr im Leichenschauhaus waren. Sie waren wieder im Tunnel.
„Er schaute uns an. Und Barbara rief ‚tu es‘ und da gab ich Gas. Er fiel auf die Windschutzscheibe und so sah ich den LKW nicht, in den wir dann fuhren.“
„Der Erste meinte, wir hätten mit unserem Tod unser Verbrechen gesühnt.“ erklang Barbara Peters Stimme. „Wir hatten kein Recht, egal was er dir angetan hat, Kind. Aber ich glaube, ich würde es wieder tun!“
Weinend fielen die drei sich in die Arme.
Sarah wusste später nicht wie viel Zeit vergangen war. Aber sie hatte das Gefühl, noch nicht am Ende ihres Weges angelangt zu sein. Liebevoll verabschiedete sie sich vorerst von ihren Eltern.
„In der abgestürzten Passagiermaschine befanden sich, einschließlich der Flugbegleiter, 215 Menschen. Es gab keine Überlebenden. Gerüchten zufolge sollen sich auch der Schokoladenprinz Philip Getz mit seiner Frau Celeste in der Maschine befunden haben…“
Sarahs Händen entglitt die Flasche Saft, die sie gerade für Maria fertig machen wollte.
„Alles in Ordnung, Liebes?“ rief Mario, welcher gerade zu Besuch war, aus dem Wohnzimmer.
„Philip, Celeste …“ stammelte Sarah aufgeregt. „Im Radio… gerade gebracht…“
Mario kam mit seinem Namensvetter und dessen Zwillingsschwester in die Küche. Vorsichtig setzte er seine Patenkinder in ihre Kinderstühle und nahm Sarah liebevoll an den Schultern.
„Ganz langsam, Kleines. Erzähl es jetzt nochmal ganz langsam.“
„Im Radio … Nachrichten … Flugzeug … abgestürzt … Philip und Celeste …“ dann brach sie weinend zusammen.
Die nächsten Monate waren eine schwere Zeit für Sarah. Sie konnte nichts über Philip in Erfahrung bringen. Niemand bestätigte seinen Tod und niemand erklärte das Gegenteil. Tatsache war, dass Celeste Getz mit einem Mann eingecheckt hatte. Die Überreste dieses Mannes waren aber nach dem Flugzeugunglück nicht mehr eindeutig zu identifizieren, hatten die beiden doch genau neben dem Triebwerk gesessen, welches explodiert war. Und Philip wurde an diesem Tag für vermisst erklärt. Niemand hatte ihn gesehen, keiner von ihm gehört.
Als Sarah das Warten nicht mehr ertragen konnte, nahm sie ihre beiden Kinder und den Erlös ihres ersten Bestsellers und kaufte sich ein Haus in den Bergen. Weit weg, von all dem Schmerz, weit weg von der Trauer, weit weg, von der Ungewissheit.
Sarah begann wieder zu schreiben. Ihre wahre Identität kannten nur Mario und der Verlag. Sie hasste all die Pressekonferenzen und Buchpräsentationen. So wurden ihre Bücher nicht nur weil sie gut waren berühmt, sondern auch, weil sich um das Geheimnis der Identität des Schriftstellers Pitol Aras die wildesten Gerüchte rankten.
Mario und Maria wuchsen behütet auf. Niemand wäre auch nur auf den Verdacht gekommen, dass die junge Witwe, als welche sie sich ausgab, eigentlich eine bedeutende Schriftstellerin war.
Mit Hera und Nella hatten sie auch zwei verlässliche Begleiter, die Diebe und ungebetene Gäste fernhielten. Die Schäferhündinnen gehorchten aufs Wort und liebten die beiden Kinder abgöttisch. Und als die beiden Hundedamen sich aufs Altenteil legen durften, hatten sie auch schon für Hera und Nella Zwei gesorgt.
Sarah war glücklich in dieser Zeit. Die Zwillinge waren zwar mitunter Rangen der schlimmsten Sorte, aber sie waren auch der Sonnenschein ihrer Mutter. Onkel Mario blieb der Familie ebenfalls erhalten. Er hatte Sarahs Management übernommen und nach langer Suche in Catherine eine liebevolle Frau gefunden. Die beiden waren es auch, welche Sarah letztendlich überredeten wieder zurück in die Stadt zu ziehen.
„Was wünscht ihr euch überhaupt zu eurem achtzehnten Geburtstag, Kinder.“ wollte Sarah wissen.
„Ich will Pitol Aras treffen!“ rief Mario aufgeregt. „Er soll hier in der Nähe wohnen. Der Typ schreibt so geile Bücher!“
„Woher willst du wissen, dass Pitol männlich ist?“ kreischte Maria auf. „So genial kann nur eine Frau sein!“
„Quatsch, du Dussel!“
„Bitte? Dussel? Dann bist du ein …“
„Kinder, Ruhe!“ griff Sarah schmunzelnd ein. „Zufälligerweise kenne ich Pitol und …“
„Was? Du kennst Pitol? Und das sagst du erst jetzt?“ zwei entsetzte Aufschreie erklangen und vier beleidigte Augen sahen sie an. „Niemand kennt Pitols Identität!“
„Niemand kennt Pitol besser als eure Mutter!“ klang es schallend lachend von der Tür.
„Onkel Mario!“ die zwei sonst schon so erwachsenen Kinder flogen freudestrahlend in geöffnete Arme.
„Was machst du hier?“
„Wo ist Tante Catherine?“
„Wie lange bleibst du?“
„Hast du mir was mitgebracht?“
„Nein, hast du mir was mitgebracht?“
„Langsam Kinder,“ unterbrach Mario seine Patenkinder. „lasst mich doch erst einmal hereinkommen!“
Innerhalb kürzester Zeit wurde Mario auf das Sofa im Wohnzimmer verfrachtet, Kaffee gekocht und die Kinder saßen ihrem Onkel zu Füßen und lauschten seinen Erzählungen. Seine Kinder hatten die Masern, daher müsse Catherine zu Hause bleiben, aber die vier Kinder und die Mama ließen lieb grüßen und hofften bald wieder mal vorbei kommen zu können. Außerdem hätte er mit ihrer Mutter etwas Geschäftliches zu besprechen, was keinen Aufschub dulde.
Wie zwei begossene Pudel zogen Mario und Maria von dannen, aber nicht ohne des Onkels Versprechen, noch etwas mit ihnen zu unternehmen.
„Ich habe beunruhigende Nachrichten für dich.“ begann Mario seiner alten Freundin zu erklären. Sarah war immer froh, dass er ohne Umschweife die Probleme auf den Tisch brachte. „Sie wollen dich haben.“
Mehr Worte brauchte es nicht, denn Sarah wusste, dass der Verlag nach fast 18 Jahren Geheimhaltung endlich ihre Identität preisgeben wollte.
„Ich denke erst beim nächsten Buch.“ war daher das einzige, was sie sagen konnte.
Mario lachte leise auf. „Das sagst du schon seit 18 Jahren.“
„Und ich wollte doch so gern das zwanzigste noch anonym veröffentlichen.“ Sarahs Schmunzeln und ihr Ton gaben Mario die Antwort, welche er erwartet hatte.
„Warum hast du es ihnen immer noch nicht gesagt?“ er nickte in Richtung Tür, hinter welcher die Zwillinge verschwunden waren.
„Weil ich sonst kein Geschenk zu ihrem 18. Geburtstag hätte?!“ wieder klang Sarahs Stimme verschmitzt.
Nun musste Mario schallend auflachen. Sich gegenseitig anlächelnd gingen sie zur Tür.
„Bleibst du heute hier?“ wollte Sarah wissen.
„Tut mir leid, aber ich mache mir Sorgen um Catherine. Allein mit vier kranken Kindern, die Arme!“ und als er Sarahs freches Grinsen erkannte, hob er abwehrend die Arme. „Okay, okay, aber ich habe ja nur eine kleine Zutat beigesteuert!“
„Ja, aber gleich viermal!“ brüllte sein Namensvetter durch die geschlossene Tür, an welcher er lauschte und doch nur Marios letzte Worte aufgeschnappt hatte.
Nach einem turbulenten Nachmittag erbettelten die Zwillinge eine Fahrt zum Flughafen von ihrer Mutter, um ihren geliebten Onkel zum Flieger bringen zu können.
„Pass auf die zwei Rabauken auf!“ liebevoll küsste Mario den Zwillingen auf die Stirn, bevor er Sarahs Wange küsste.
Wie immer hatten alle vier Tränen in den Augen.
Mario winkte an der Abfertigung noch ein letztes Mal und rief so laut er konnte: „Zu eurem Geburtstag bin ich doch wieder hier oder habe ich da je gefehlt?“
Verstohlen wischten sich Sarah und Maria die Tränen von den Wangen und als der Flieger abgehoben hatte, hielten alle drei sich innig schweigend an den Händen, um nach Haus zu gehen. Sie würden auf Marios Anruf warten und erst dann würde die gewohnte Fröhlichkeit wieder ausbrechen.
Sarah wunderte sich, dass sie nicht so nah bei sich selbst war, wie sonst. Sie schwebte über der Halle und ihre Blicke wurden magisch an einen anderen Abflugschalter gezogen. Erschrocken erstarrte sie. Philip. Sie hatte ihn damals nicht bemerkt.
10. Kapitel
Würde Philip je diesen Augenblick vergessen können, als er an dem rosafarbenen Mustang von Mario Wagner vorbeifuhr und daneben zwei, mit Leinen bedeckte, Körper liegen zu sah?
Das Grauen, welches sich seiner damals bemächtigte war genau so verheerend, wie seine Verzweiflung jetzt. Aber heute hatte er wenigstens Sarah nicht nur gesehen, als Geist, er hatte auch ihre Seele gespürt. Und jetzt war sie weg. Einfach weg.
Die Geräte, welche das Bett umgaben, schienen den zarten Körper darin erdrücken zu wollen. Monotones Piepen und Rattern verkündeten von dem Versuch seine Frau am Leben zu erhalten, doch er wusste es besser. Sie stand an der Schwelle. Nur ein Schritt fehlte noch.
‚Ich drehe durch!‘ entsetzt sprang Philip auf. ‚Ja, ich drehe durch. Sie ist hier bei mir! Nicht auf einer Suche oder einem Weg. Sie ist hier!‘
Verzweifelt versuchte Philip sein wissendes Herz mit nüchternem Verstand zu besänftigen.
Er könnte es ihr nicht verdenken, wenn sie den leichten Weg gehen würde. Sie hatte gelitten, sehr gelitten und er selbst hatte ihr viel Pein verursacht. Aber er hatte auch gelitten und er brauchte sie. Ohne sie wäre nichts mehr sinnvoll. Er hatte diese Frau zu oft verloren, als es noch ein weiteres Mal überleben zu können.
‚Bleib bei mir, Geliebte. Bitte, bleib bei mir!‘
Müde setzte er sich zurück an ihr Bett und nahm ihre kalte Hand.
Die Erinnerung kam von allein zurück …
‚Konnte man an zerbrochenem Herzen sterben?‘ Philip schien tausend Tode auf einmal zu erleben. Gerade hatte er Sarahs, nein Amandas Geschichte erfahren. Er war zu den Petersens gefahren, um sich bei Sarah zu entschuldigen, sich mit ihr über die Dinge, welche am Felsen geschehen waren, zu unterhalten.
Die junge Frau war nicht zu Hause gewesen und Robert und Barbara Peters wussten nichts von dem Streit.
‚Streit? Konnte man es so einfach abtun, als Streit?‘ Philip wusste nicht, wie lange er auf dem Sofa zugebracht und gegrübelt hatte. Er hatte versucht Sarahs Eltern nach ihrem Freund auszufragen, unauffällig genug, wie er gehofft hatte. Als Mario zur Sprache kam, erstrahlten die Gesichter seiner Gegenüber regelrecht. Und Philip glaubte, dass erste Mal zu sterben.
‚Wie sind wir überhaupt auf Amanda gekommen?‘ versuchte der junge Mann das Gespräch Revue passieren zu lassen. ‚Ach ja, Sarah sollte vorsichtig sein, man wisse ja nie, habe ich gesagt. Und Barbara hatte das bestätigt und gemeint besonders bei ihrer Vergangenheit!‘
Für die Peters war es wie eine Erlösung gewesen, endlich über Hendrik Anderson sprechen zu können. Und Philip war ja der beste Freund ihrer Tochter. Sie bemerkten nicht die Veränderung, die mit Philip geschah.
Die Röte, in dessen Gesicht, schrieben sie der Wut und dem Zorn gegenüber Hendrik Anderson zu. Woher sollten sie etwas von der Scham ahnen, welche Philip überflutete. Dem Mitgefühl dem kleinen Mädchen gegenüber und der Wut, dass er erst jetzt von all diesen Dingen erfuhr.
Als er, nach Stunden des Wartens, das Haus verließ, kam Sarah ihm entgegen.
Wie in einem Film schienen die Bewegungen seines Körpers nicht die eigenen zu sein. Er packte Sarah grob an den Oberarmen und zog sie nah an sich heran.
„Warum hast du mir das nicht gesagt!“ schrie er sie an. „Warum?“
Philip bemerkte erst jetzt Mario, als dieser ihn von Sarah wegzerrte und nach einem Kinnhaken, welcher Philip in die Knie zwang, seinerseits anbrüllte.
„Du! Fasse sie nie wieder an! Tue ihr noch ein einziges Mal weh und ich töte dich!“
Dann verschwand Mario mit der völlig verwirrten Sarah im Haus und Philip lief mit noch mehr Last in seinem Herzen nach Hause.
Durch Zufall fand er später an diesem Abend auch das Verhältnis von Celeste und Mario heraus. Oder besser er erlebte dessen Ende.
Mario war gekommen, um Celeste zu warnen, sie solle Sarah in Ruhe lassen.
Philip, der eine Bar nach nicht gerade geringem Alkoholkonsum verlassen hatte, kam erstaunlich leise in das Haus und lief gerade an Celestes Zimmern vorbei, um zu seinem zu gelangen. Er vernahm jede einzeln Silbe, welche seine Frau über seine heimliche Liebe äußerte. Kurioserweise erstaunte es ihn mehr, dass er das Ausmaß von Celestes Hass auf Sarah erst jetzt begriff, als dass er nun endgültig die Bestätigung für den schlechten Charakter seiner Frau bekam.
Ohne jegliches Gefühl in sich zu spüren, stieß er die Tür zu Celestes Schlafzimmer auf.
„Ich werde dies nur ein einziges Mal sagen, Celeste und ich schwöre dir, du wirst es bereuen, wenn du dies vergisst.“ trotz das Philip sprach ohne auch nur die Stimme zu erheben, erkannte er Furcht in deren Gesicht. Er wusste nicht um die Ausstrahlung, die er in diesem Moment innehatte. Seine Entschlossenheit hüllte ihn in eine schier sichtbare Aura. „Lass deine Finger von ihr. Keine Lügen mehr, keine Intrigen. Und Sie,“ er wandte sich nun an Mario. „tun gut daran, dieses Miststück aufzugeben, wenn Sie so einen Schatz gewinnen konnten.“ Als gebrochener Mann verließ Philip den Raum. Er wollte nur noch allein sein. Seine Fehler bejammern, sich in seinem Selbstmitleid baden und trauern.
Das Flugzeugunglück erschien Philip als Schicksalsfügung. Celeste wollte mit einem ihrer Liebhaber durchbrennen. Er weihte nur seine Eltern ein, dass er untertauchen wollte. Und diese stimmten ohne zu zögern zu. Noch nie hatten sie Philip so verzweifelt gesehen. In den letzten Monaten hatte er sich von allem zurückgezogen. Zeitweise war er kurz davor Alkoholiker zu werden, doch wie durch ein Wunder hörte er eines Tages damit auf, Unmengen an Gin und Wodka in sich hinein zu schütten. Es war der Tag des Unfalles gewesen. An dem Tag, als er völlig betrunken an dem rosafarbenen Mustang vorbeigefahren war und glaubte, Mario und Sarah lägen unter den weißen Laken am Straßenrand. Er wusste damals nicht mehr, wie er dorthin gekommen, geschweige denn wie er nach Hause gekommen war. Philip flog einen Tag später nach Frankreich, um einen Auftrag für die Firma zu erledigen. Und in all den folgenden Monaten war er nur im Ausland unterwegs. Von jeder Reise kehrte er als größerer Schatten seiner selbst zurück, als von der zuvor.
Als Celeste starb und angeblich auch er, floh Philip nach Frankreich. Hier kaufte er sich ein kleines Haus in einem abgelegenen Ort.
Dort konnte er Frieden finden. Da konnte er wenigstens versuchen zu heilen.
Fünfzehn Jahre hatte Philip nun die französische Filiale geleitet und nun sollte er das Geschäft von seinem Vater ganz übernehmen. Als er den Flughafen betrat, glaubte er sie zu spüren. ‚Nach 18 Jahren müsstest du es doch eigentlich besser wissen!‘ spottete er über sich selbst und in diesem Moment sah er sie.
Mario beugte sich zu ihr hinab und küsste ihre Wange.
Philip sah nur noch sie. Sarah. Keine Fata Morgana konnte schöner sein. Und die beiden Kinder. Er schätzte sie auf siebzehn, maximal achtzehn. Das hätten seine sein können …
„Zu eurem Geburtstag bin ich doch wieder hier oder habe ich da je gefehlt?“ hörte er Marios Ruf.
Philip stürzte tränenblind aus der Halle. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal so geweint hatte. Doch vor 18 Jahren, als er den rosafarbenen Mustang erkannt hatte …
11. Kapitel
Leben hieß Schwierigkeiten.
Leben hieß Entscheidungen treffen und mit deren Konsequenzen existieren zu müssen.
Leben hieß Leid und Trauer erfahren und Liebe und Wärme.
Leben hieß für Sarah jetzt zurück zu gehen.
Wie sollte sie sich entscheiden. Sie hatte solche Qualen erlebt, solche Liebe. Und an diesem Ort, wo sie sich jetzt befand war nichts von alledem, dort gab es nur Frieden. Kein täglicher Überlebenskampf. Keine Streitereien. Keine Gefühle.
„Nicht jedem liegt der ewige Frieden gleich beim ersten Besuch!“ erklärte Robert Peters, als er plötzlich vor seiner Tochter auftauchte. „Oder hast du dich noch nie gefragt, warum manche ‚wieder auferstanden‘ sind?“ fügte er augenzwinkernd hinzu.
„Ach Papa, es ist so schwer! Auf der einen Seite war mein Leben eine schier einzige Qual, aber auf der anderen Seite …“
„Liebes, du weißt, ich hätte dich gern bei mir. Doch schaue dir erst noch deine letzten Jahre an, bevor du dich endgültig entscheidest, denn von hier aus gibt es kein Zurück!“ mit einem Kuss entließ Robert sein „kleines“ Mädchen in die letzten Erinnerungen. Eigentlich wusste er schon jetzt, wie sie sich entscheiden würde …
„Meinst du nicht, wir sollten es ihnen vorhersagen?“ nervös blickte Sarah auf ihre Uhr.
„Liebchen, sie sind schon auf ihren Plätzen. Und …“ begann Mario den Satz und gemeinsam beendeten sie ihn. „du hattest 18 Jahre lang Zeit dazu.“
„Ich bin so nervös!“ Sarah begann auf und ab zu laufen. In nicht einmal zehn Minuten sollte ihr neues Buch präsentiert werden, am 18. Geburtstag ihrer Kinder. Es war ihre Idee gewesen, denn so konnte sie ihren beiden Rangen den Geburtstagswunsch erfüllen und diese leidige Angelegenheit hinter sich bringen. Aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie eine Sache vollkommen vergessen hatte.
Catherine und Mario sollten die Laudatio halten und dann sollte sie noch einen Preis für den letzten Bestseller erhalten. Was stimmte also nicht an diesem Plan?
„Liebchen, nun bleib ruhig!“ Mario hielt sie fest und schaute ihr in die Augen. „Es ist gleich geschafft. Du weißt, wir lieben dich und wir sind gleich auf der Bühne bei dir!“
Catherine trat von der Seite an Sarah heran und nahm sie in den Arm. „Auf in den Kampf, Tiger!“ ermutigte sie Sarah und ging dann mit ihrem Ehemann auf die Bühne.
Maria und Mario staunten nicht schlecht, als sie Onkel und Tante Wagner auf der Bühne sahen. Atemlos folgten sie der Laudatio über Pitol Aras, welche von einer alleinerziehenden Frau mit wilden, aber liebenswürdigen Zwillingen handelte. Und dann kam Sarah. Jubelnd sprangen die beiden auf und rannten nach vorn.
„Oh Mama!“
„Aber warum …“
„Wieso …“
„Das du …“
Die beiden konnten sich kaum beherrschen vor Stolz und Freude.
Die anderen Anwesenden ließen sich mit einer Geschichte des Geburtstages der Kinder und der Freude über deren Geschenk ablenken, obwohl diese ja eigentlich nicht einmal gelogen war.
Nachdem wieder Ruhe eingetreten war und die Kinder wieder Platz nahmen, kam ein weiterer Sprecher an das Mikrophon.
„Des Weiteren erhält Pitol Aras, ihres Zeichens Sarah Peters, heute noch einen Preis für den höchsten nationalen Verkauf in der ersten Woche. Für die Überreichung konnten wir einen etwas gegensätzlichen, aber nichts desto trotz großen Fan der Schriftstellerin gewinnen. Den Schokoladenhersteller Philip Getz!“
Sarah wusste nicht, ob sie in Ohnmacht oder Philip um den Hals fallen sollte. Nach seinem Gesichtsausdruck ging es ihm kaum besser.
Irgendwie konnten sie die Veranstaltung ohne aufsehenerregende Vorkommnisse hinter sich bringen.
Philip hatte die Laudatio gehört und hinter der Bühne die Kommentare über die selbstlose Freundschaft von Mario und Catherine zu Sarah. Alle schienen die Geschichte zu kennen, nur er nicht.
Sarah hatte nie nachvollziehen können, wie dann alles weitere geschehen war. Sie wusste nur, dass sie sich mit Philip ausgesprochen hatte und sie ihren Kindern noch ein weiteres Geschenk an diesem Tag machen konnte. Den lang ersehnten, tot geglaubten Vater.
Es folgten Tage des Glückes. Mario und Maria wurden für zwei Wochen zu Onkel Mario geschickt. Und Mama und Papa erlebten ihre ersten Flitterwochen.
Die folgende Hochzeit, die zweiten, richtigen Flitterwochen und das teilweise problematische Zusammenwachsen ihrer Familie bestimmten die weiteren Jahre.
Erst zog Mario in eine eigene Bude, wie er sagte, und dann Maria.
Alltägliche Probleme entstanden, wurden gelöst oder schwollen zu einem reinigenden Gewitter an.
Zum Beispiel erinnerte sie sich an eine Begebenheit …
Sie konnte ihn nicht ansehen. Als er sie ansprach und sie die Vorwürfe aus seinem Mund hörte, wusste sie, dass sie nicht antworten durfte. Falls sie auch nur den Mund öffnen würde, sie würde beginnen ihn anzuschreien. Oh, er wagte es ihr Vorhaltungen zu machen, ausgerechnet er. Söllte er gefälligst vor seiner eigenen Tür kehren. Sie würde, sie wöllte, sie hätte, bla, bla, bla …
‚Ob Mann, bzw. in ihrem Fall Frau, vom Zähne zusammenbeißen Kiefersperre bekommen kann?‘ schoss ihr durch den Kopf. Vorsichtig versuchte sie die verkrampften Knochen auseinanderzubekommen.
Die Wut raste in ihrem Inneren weiter. Wenn sie doch nur etwas Zerbrechliches in ihren Händen hätte, was sie gegen eine Wand schmeißen könnte. Oder wenn sie ein Mann wäre, dann könnte sie ihm mit handgreiflichen Argumenten zeigen, was sie von seinen Beschuldigungen hielt! Wenn sie diesen gottverdammten Idioten nicht so lieben würde, dann …
Sie waren eben ein ganz normales Paar mit Höhen und Tiefen, bis zu jenem verhängnisvollem Abend des Unfalles …
12. Kapitel
Alice sah ihren alten „Sandkastenkumpan“ Andreas verschmitzt an.
Ruhiger wäre sie geworden, hatte er gemeint, nicht mehr so wie vor zwei Jahren, als sie wüsste schon, das J-Wort, was nicht genannt werden durfte.
Sie unterließ es, ihm von den Widrigkeiten der letzten Monate zu erzählen. Ein Blick in sein fast jungenhaftes Gesicht zeigte ebenfalls Spuren, welche nur das Leben schreiben konnte.
Sie war glücklich mit und für ihn. Er und Dani waren glücklich verheiratet und planten weiteren Familienzuwachs.
Ihre begrenzte Zeit verflog in abgemilderten Erzählungen über die Gegenwart und prosaische Geschichten der gemeinsamen Vergangenheit.
Trauer bemächtigte Alice, als Andreas wieder wegfuhr. Jeder Abschied schnitt ihr ins Herz, besonders von solch geliebten Personen. Nicht das sie nicht fast jede Woche telefonierten und über den Sinn oder Unsinn des eigenen Lebens philosophierten. Aber ein persönlicher Abschied hatte für sie immer den Eindruck der Endgültigkeit hinterlassen, seit Frank …
Ihr Blick glitt zu den Fotos von Frank, dem Freund und Frank, dem Patenkind. Sie wusste, sie konnte sich ausgerechnet heute keine Schwäche erlauben.
Beherzt startete Alice ihren Computer und öffnete die letzte bearbeitete Textdatei.
Keine zwanzig Minuten später klingelte es an der Tür. Alice betätigte den Türöffner. Sie wusste, sie hatte noch ungefähr drei Minuten, bis er die fünf Treppen hinaufgestiegen war.
Eilends überflog sie ihre letzten geschriebenen Sätze.
„Philip spürte die Veränderung im Raum. Wieder schien es ihm, als materialisierte sich Sarahs Seele.
Sie lächelte abwesend in eine ihm unsichtbare Richtung. Dann wandte sie den Kopf zu ihm und lächelte, scheinbar noch herzlicher, ihn an.
Nun wusste er, sie hatte sich entschieden.
ENDE "
Alice rannte zurück zum Schreibtisch und klickte schnell auf das Druckersymbol. Dann raste sie wieder zur Tür.
Endlich, nach diesen schier unendlichen zwei Jahren, war es wieder Zeit für das J–Wort! Niemals wieder würde sie zulassen, dass er ohne sie einen Auftrag annahm und dann auch noch in der Wildnis Afrikas.
Immerhin hatte sie ihr Versprechen gehalten, denn der Drucker spuckte gerade die letzten Seiten aus, als der bärtige, schmutzige und unendlich süße Typ durch die Tür kam. Er hatte baute in zwei Jahren diese verdammte Brücke und sie vollendete ihr Erstlingswerk daheim, so hatten sie es sich ausgemacht.
Ihr Mann Joachim grinste sie verschmitzt an, als er die Arme um sie schlang.
Ihr erstes Buch lesen, konnte er auch noch morgen…