Einstecktuch – Sherlys fünftes Abenteuer

„Und wieso steht jetzt diese unscheinbare, graue Maus neben ihm und nicht du?“, echauffierte Lady Eugenia Holmes sich gegenüber ihrer Tochter Lady Sherly.
„Mutter! Wie könnt Ihr es wagen!“, schoss Lady Sherly sofort zurück. „Lady Gretchen ist eine Schönheit im Antlitz und im Herzen!“
Die beiden Damen befanden sich auf der Verlobungsfeier von Lord Miles Saundersburgh und Lady Gretchen Gadwington.
Natürlich hatten es sich Lord Miles‘ Eltern nicht nehmen lassen, eine noch wesentlich üppigere Feier als bei der Verlobung mit Lady Catherine Pimberbrooke, nunmehr verehelichte Furthing, auszurichten.
Lady Sherly taten regelrecht die Augen weh, von diesem überladenen Prunk und den hellen Lichtern. Auch die ausschweifenden Blumenbuketts, deren schwerer Duft einen kaum atmen ließen, verursachten bei der jungen Lady Holmes Unbehagen. Doch am schlimmsten war das gefühllose Geplapper ihrer Frau Mutter.
Lady Gretchen sah an diesem Abend so hinreißend und wunderschön aus!
Lady Sherlys Zofe Melissa hatte bei der jungen Braut eine hervorragende Arbeit geleistet, denn diese wusste sehr wohl, wie man Vorzüge herausstellte und kleine Rauheiten ausmerzte.
Die junge Lady Holmes wollte ihrer Mutter noch für eine kleine Weile einige Freiheiten zugestehen. Es hatte Lady Eugenia hatte zutiefst getroffen, dass sie über Lady Sherlys Vergiftung und dem darauffolgenden Überlebenskampf erst nach der Genesung ihrer Tochter informiert worden war. Lord Oswald Holmes, Lady Sherlys Vater, hatte dies angeordnet, um das angegriffene Nervenkostüm seiner Frau zu schützen.
So vergab Lady Sherly ihrer Mutter diese Indiskretionen, wohl wissend, dass ihre Grenzen bald erreicht sein würden.
Lady Eugenia Holmes mochte gern die kränkelnde, bedauernswerte Dame spielen, doch Lady Sherly wusste sehr gut, wessen Nervenstärke sie tatsächlich geerbt hatte.
„Lady Sherly, diesen Tanz hattet Ihr wohl mir versprochen.“, galant reichte Lord Anthony Gadwington der Angesprochenen die Hand und führte diese umgehend zur Tanzfläche.
„Ihr rettet mich also erneut!“, dankte Lady Sherly Lord Anthony mit einem feinen Lächeln während der Verbeugung, welche den folgenden Cotillion einleitete.
„Jederzeit, Mylady, jederzeit!“, gab dieser gutgelaunt zurück. Lord Gadwington hatte die unverschämten Worte der älteren Lady Holmes und Lady Sherlys Entgegnung gehört.
Er kannte Lady Eugenia Holmes‘ scharfen Verstand und hatte deren spitze Zunge bereits selbst bei verschiedenen Anlässen zu spüren bekommen. Wenn Lord Anthony es recht bedachte, war Lady Sherly in diesen Belangen sehr nach ihrer Frau Mama geraten, nur fehlte es ihr an deren Boshaftigkeit…
„Einen Penny für Eure Gedanken!“, unterbrach seine Tanzpartnerin dann alsbald seine Grübeleien.
Lord Anthony lachte herzlich. „Nur einen Penny sind Sie Euch wert?“ Er bemerkte gar nicht, dass die anwesenden Adligen zu tuscheln begannen.
Es war so ungewöhnlich den grüblerischen, ja meist mürrischen Lord derart herzhaft lachen zu sehen und dann auch noch mit dieser von ihm angeblich verhassten Person?
Binnen weniger Sekunden wurden die unmöglichsten Schlüsse gezogen und die verwerflichsten Gerüchte geäußert.
Lady Eugenia Holmes bekam die bösartigen Gerüchte über ihre Tochter zu Ohren und reagierte auf ihre eigene Art und Weise. Sie streute neue Gerüchte, Gerüchte über andere Personen, Gerüchte, die noch bösartiger waren als die über Lady Sherly.
Als Lord Gadwington Lady Sherly von der Tanzfläche zurückbrachte, wurde ihm ein Billett übergeben. Nachdem er dies überflogen hatte, entschuldigte er sich formvollendet bei den Damen Holmes‘ und begab sich schnellstmöglich zum Brautpaar.
Diesem erklärte Lord Anthony, dass eine dringende Angelegenheit seine Aufmerksamkeit erforderte.
Mit einem bedauernden Kuss auf Lady Gretchens Wange und einem brüderlichen Schlag auf den Rücken seines zukünftigen Schwagers musste Lord Anthony diesen amüsanten Abend beenden.
Zu seinem eigenen Erstaunen hatte er sich in Lady Sherlys Gesellschaft wohl gefühlt, vor allem, nachdem sie so um die Ehre seiner Schwester gerungen hatte.
Doch sei es, wie es sei, nun wurde seine Anwesenheit bei Scotland Yard benötigt und binnen weniger Sekunden wurde aus dem fast ausgelassenen Lord wieder der in sich gekehrte, grüblerische Commander des Scotland Yard.


„Lady Sherly darf nichts davon erfahren! Versprich es mir!“, flehte Sophia Melissa an.
„Aber…“, weiter kam die Zofe Lady Sherlys nicht.
„Sie wird ihn dafür umbringen!“, rief Sophia völlig verzweifelt. „Sie würde ihr Leben zerstören und ich bin doch… nichts…“, Sophia verfiel in ein heftiges Schluchzen. Ihre Stimme wurde immer tonloser. „Ich… bin… doch… ein… Nichts…!“
„Sophia, Liebes…!“, Melissa murmelte dem Dienstmädchen von Lady Sherly beruhigende Worte zu.
Fassungslos stand Lord Anthony Gadwington in der Tür und beobachtete das Szenario.
Die Zofe Melissa, mit zerrissenen Kleidern, welche mit Blutflecken regelrecht übersät waren, versuchte mit ihren zerschundenen Händen das wimmernde Bündel Mensch, welches vor ihr lag, zu beruhigen.
Sophia war weit schlimmer zugerichtet als Melissa. Das zerschlagene Gesicht, als ein solches kaum mehr erkennbar, kahle Stellen am Kopf zeugten von büschelweise ausgerissenen Haaren, ein halbnackter blaugeschlagener weiblicher Leib, notdürftig mit einer rauen Decke verhüllt.
Den beiden Mädchen musste Grässliches widerfahren sein.
Detektiv Thompson, der zuständige Ermittler, war bis jetzt keine große Hilfe gewesen.
Gerade eben quetschte dieser sich an Lord Gadwington vorbei in den Raum. „So, ihr Weiber, runter mit den Kleidern, wir müssen die Verletzungen aufnehmen!“, brüllte Thompson regelrecht.
Bevor der zusammenzuckende Lord Gadwington reagieren konnte, schob sich eine weitere Person an ihm vorbei und baute sich vor dem gefühllosen Detektiv auf.
„Dies sind Damen, Sie Holzkopf, also behandeln Sie sie auch entsprechend!“, Lady Sherly Holmes konnte durchaus imposant sein, wenn sie wütend wurde.
„Ich mache nur meine Arbeit, Mam‘.“, knurrte der zurechtgewiesene Polizist.
Nun griff Lord Anthony ein. Er befahl den beiden Streithähnen mit in den Nebenraum zu kommen und bevor Lady Sherly Einwände erheben konnte, ergänzte er, dass die beiden Damen Ruhe benötigen würden.
„Ich muss die Verletzungen von den Weibsbildern aufnehmen!“, knurrte Thompson in dem anderen Zimmer sofort wieder los.
„Sie Kreatin machen hier gar nichts!“, schoss Lady Sherly zurück.
„Is doch aber für die Akten…“, versuchte sich der tumbe Ermittler zu rechtfertigen.
„Wir geben den Damen erst einmal Zeit, bis der Arzt nach ihnen gesehen hat.“, versuchte Lord Anthony zu vermitteln. „Vielleicht kann er die Verletzungen erfassen.“
Lady Sherly ließ ein äußerst undamenhaftes Schnauben ertönen.
„Lord Anthony, man hat ihnen Gewalt angetan. Ein Mann hat ihnen Gewalt angetan. Und jetzt soll ein Mann sie untersuchen?“
„Diese Dirnen habens ja vielleicht…“, Lady Sherly rammte ihre Faust derart schnell in den Magen von Detektiv Thompson, dass Lord Anthony den Schlag kaum sah.
„Erstens: den haben Sie verdient!“, zählte eine erstaunlich ruhige Lady Sherly dem sich vor Schmerzen krümmenden Ermittler auf. „Und zweitens: wenn das Ihre Frau oder Ihre Tochter wären? Denn das sind die beiden Damen, sie sind Töchter und Frauen.“
Nun wandte sich Lady Sherly Lord Anthony zu. „Verzeihen Sie mir, eigentlich verabscheue ich jegliche Art von Gewalt!“
Ihr besorgter Blick glitt zu der Tür, hinter welcher sich Sophia und Melissa befanden.
Lord Anthony hatte bereits erlebt, wie verbunden Melissa ihrer Herrin gegenüber war, als sie diese nach ihrer Vergiftung pflegte. Nun begriff er, dass diese Zuneigung von beiden Seiten gleich groß war. Dies hätte er seiner Lady Blaustrumpf gar nicht zugetraut. Fast hätte sich ein Lächeln auf sein Gesicht geschlichen, aber nur fast.
„Lord Gadwington, könntet Ihr mir einige Sachen besorgen lassen?“, fragte Lady Sherly mit angespannter Miene.
Sie bat um eine Schüssel warmes Wasser und Lappen zum Reinigen, Verbandsmaterial zur Versorgung der Wunden sowie Zettel und Stift zum Erfassen der Verletzungen.
„Schickt den Arzt bitte weg, sobald er erscheint. Sophia und Melissa mussten heute schon genug von einem fremden Mann erdulden. Und Lord Gadwington, lasst freundlicherweise nach Jack rufen.“, war Lady Sherlys letzte Bitte, als sie letztlich mit den gewünschten Hilfsmitteln in den Nebenraum entschwand.
Der Ermittler Thompson, welcher bis dahin nur noch grimmig schweigend dagestanden hatte, versuchte nun die Gunst der Stunde zu nutzen und sich mit seinem Vorgesetzten gegen diese dummen Weibsbilder zu verbrüdern.
„Commander, Sie sind Zeuge, wie Lady Holmes, diese Schlampe…“, weiter kam Detektiv Thompson nicht. Lord Anthony streckte diesen unverschämten Burschen mit einer schnellen Rechten darnieder.
Es war schwer in diesen Tagen, ordentliches Personal zu finden, selbst bei Scotland Yard.


Lady Sherly blieb fast drei Stunden bei Sophia und Melissa. Totenbleich kehrte sie dann zu Lord Gadwington zurück. Dieser war in der Zwischenzeit ebenfalls nicht untätig gewesen.
Detektiv Thompson hatte er von Detektiv Hill ablösen lassen. Gemeinsam mit dem neuen Ermittler war er die spärlichen Aufzeichnungen über den Tathergang durchgegangen. Nachdem die beiden allerdings noch nicht einmal eine Skizze vom Tatort vorfanden, begab sich Detektiv Hill unverzüglich zurück an den Ort des Geschehens.
Lord Gadwington gab Hill noch weitere Beamte mit, damit diese das Umfeld des Tatortes nach Spuren durchsuchen konnten und eventuelle Zeugen befragen.
Lady Sherly setzte sich auf den dargebotenen Stuhl und war dankbar über den bereitgestellten Whisky.
Sie legte Lord Anthony wortlos die beschriebenen Blätter hin und begann an ihrem Glas zu nippen.
Lady Sherly hatte bereits vieles an Verbrechen gesehen und selbst das eine oder andere erlebt. Doch nicht einmal der Tod ihres Bruders Mycroft hatte ihr so zugesetzt, wie der Anblick ihrer Zofe und ihres Dienstmädchens.
Bevor sich Lord Anthony in die Schriftstücke vertiefte, fragte er nur: „Auch Melissa?“
„Nein, aber Sophia.“
Lady Sherly hatte beide Zeugenaussagen mit akribisch feiner Handschrift erfasst. Ihr scheinbar wichtige Details hatte sie am Rand des jeweiligen Blattes markiert.
Verschiedentlich fand Lord Gadwington zittrig geschriebene Buchstaben, doch alles in allem war dies hervorragende, nüchterne Ermittlungsarbeit.
Die letzten beiden Blätter trafen den erfahrenen Commander dann umso mehr.
Lady Sherly hatte jeweils die Silhouette einer Frau auf die Blätter gemalt und die verletzten Stellen durch Kreise gekennzeichnet. Daneben hatte sie Notizen gemacht, über die vermutete Schwere der jeweiligen Verletzung.
‚Wenn das Ihre Frau oder Ihre Tochter wären?‘, glaubte Lord Anthony Lady Sherly erneut fragen zu hören. ‚Oder Gretchen…‘, der Commander benötigte einige Augenblicke um sich zu fassen.
„Jack ist jetzt bei Sophia und Melissa. Sie vertrauen ihm.“, bemerkte Lady Sherly leise, gerade so, als wollte sie Lord Anthony von seinen grässlichen Gedanken erlösen. „Wie Sie sicherlich gelesen haben, befürchte ich mehrere Knochenbrüche und diese kann er besser behandeln.“
Die folgenden Stunden waren von Warten geprägt.
Jack war gerade mit seiner Untersuchung fertig und ergänzte mit versteinerter Miene die Zeichnungen von Lady Holmes um die Knochenbrüche von Sophia sowie die ausgerenkten Fingergelenke von Melissa.
„Gut, dass ich Melissa Kampftraining gegeben habe.“, versuchte Jack Lady Holmes abzulenken. „Sonst hätte dies noch viel schlimmer enden können.“
Jack war so erleichtert, dass Melissa überlebt hatte. Selbstverständlich dauerte ihn Sophias Schicksal sehr, doch wenn Melissa…
„Aber Sophia…“, Lady Sherlys Stimme versagte.
“Wird mit viel Pflege, Gottes Hilfe und Eurer liebevollen Zuwendung, Mylady, wieder heilen. Sie ist jung und stark, das kommt ihr jetzt zugute.“, erwiderte Jack.
„Sie ist gerade einmal 15 Jahre! Und was, wenn er…, wenn er…“, Lady Holmes konnte es nicht in Worte fassen.
„Sollte Sophia empfangen haben, so werden wir eine Lösung finden.“, schaltete sich nun Lord Anthony ein. Er war schockiert und überaus zornig. Doch seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, würde jetzt keinem helfen. „Vielleicht solltet Ihr Euch ebenfalls ein wenig ausruhen, mir scheint es, als hättet Ihr einen leichten Schock erlitten.“ Jack und Lord Gadwington sahen besorgt zu der äußerst blassen Lady Holmes.
Ganz so, als würde Lord Anthonys kleine Ansprache Lady Sherlys Lebensgeister wiederherstellen, begann die Dame den Abtransport von Sophia und Melissa nach Hause zu organisieren. Immerhin mussten die beiden Verletzten mit äußerster Vorsicht in Lady Sherlys Haus verbracht werden.
Lady Sherly versprach Melissa und Sophia schnellstmöglich zu folgen. Jack sollte zu Hause dafür sorgen, dass die beiden jungen Frauen erst einmal Ruhe fanden und von niemanden mit dummen Fragereien behelligt wurden. Widerwillig ließ Jack Lady Sherly allein, jedoch wusste er sie in Lord Gadwingtons Obhut und wähnte sie dort absolut sicher.

„Hier ist die Skizze vom Tatort.“, hob Detektiv Hill gerade an Lord Gadwington zu erklären, als Lady Holmes erneut dessen Büro betrat. Der Detektiv war inzwischen von der Tatortbegehung zurückgekehrt.
Gemeinsam begannen die Drei nun die Geschehnisse zu rekonstruieren.
Sophia war mittags auf dem Markt einkaufen und hatte da bereits das Gefühl, beobachtet zu werden. Daher lief sie schnell zum Haus ihrer Herrin.
Lady Sherly verließ mit Melissa und Jack am späten Nachmittag das Haus, um zum Verlobungsball von Lady Gadwington und Lord Saundersburgh zu fahren. Melissa sollte Lady Gretchen herrichten und Jack war als Kutscher und Beschützer anwesend.
Am frühen Abend ging Sophia wie immer in den Stall und versorgte die Katze und deren drei Junge.
Danach gab sie Kaspar, einem alten Hengst, der im Stall sein Gnadenbrot fristete, einen Apfel.
Als sie rückwärts aus dessen Box trat, Kaspar hätte sonst gescheut, wurde sie überfallen.
Einer der zwei Täter hielt ihr den Mund zu und umschlang ihre Taille mit seinem freien Arm. Er stieß sie in die benachbarte, leere Pferdebox.
Der andere Täter schloss das Gatter von Kaspers Box und folgte den beiden dann.
Sophia versuchte sich zu wehren, trat um sich und biss den Fremden in die Hand. Es musste eine tiefe Wunde entstanden sein, denn Sophia schmeckte Blut.
Doch leider machte dies ihren Angreifer wütend und er begann sie zu schlagen.
„Zachary, hör auf, du beschädigst die Ware!“, muss der zweite Mann daraufhin versucht haben, den Schläger zu stoppen.
Dieser ließ kurz von Sophia ab, riss dann ihren Kopf herum und brüllte: „Dann testen wir dieses kleine Nichts doch erst mal, ob sie sich als Ware eignet!“
Die folgenden Sätze konnte Detektiv Hill nur mit stockender Stimme wiedergeben.
Beide Männer schändeten und schlugen Sophia, und gerade als diese glaubte, ihr letztes Stündlein wäre angebrochen, kam Melissa in die Box geschossen und begann die Männer auszupeitschen.
Melissa war mit Lady Sherly zu Lady Gadwington gefahren und nachdem sie diese für ihren großen Auftritt hergerichtet hatte, schickte Lady Sherly sie nach Hause. Eigentlich hatte sie eine Mietdroschke nehmen sollen, doch Melissa wollte den lauen Spätsommerabend genießen und ging zu Fuß. Die junge Zofe haderte mit sich, denn mit der Droschke wäre sie viel früher zu Hause eingetroffen. Allerdings hätte sie dann nicht den Seiteneingang der Gartenanlage, welche zur Holmeschen Residenz gehört, benutzt und wäre nicht am Stall vorbeigekommen.
So hörte sie Sophias panischen Schreie und rannte hinein.
Als Waffe wählte sie die Peitsche, die am Eingang der Box hing. Mit geübter Hand konnte sie mehrere Schläge so platzieren, dass die Männer von Sophia abließen und für einige Tage Striemen auf der Haut mit sich herumtrügen.
Leider teilten die Männer sich auf und jeder begann auf eine der Frauen einzuprügeln.
Doch Melissa ließ die Peitsche nicht los und traf ihren Angreifer sogar im Gesicht. Die Peitsche zerriss die Haut an dessen rechter Wange.
Irgendwann gaben die Männer auf und verschwanden über die Gartenanlage. Weder Sophia noch Melissa wussten zu sagen, wie lange sie gekämpft hatten.
So konnte Melissa letztlich zum Haus humpeln, denn schneller konnte sie aufgrund ihrer Verletzungen nicht laufen, und Hilfe holen.
Daraufhin brachte man die beiden umgehend zu Scotland Yard.
Diese Reaktion des Hauspersonals war äußerst ungewöhnlich, doch die Dienerschaft hoffte, dass sich Lord Gadwington der Sache annehme. Immerhin kannte er Melissa und hatte sie, nach deren eigener Aussage, für ihre aufopferungsvolle Pflege von Lady Sherly gelobt.
Die Beamten von Scotland Yard informierten den Commander umgehend mit einem Billett, welches er in seiner Rocktasche wähnte. Doch in seiner Eile hatte er es verloren und die neugierige Lady Sherly hob es auf und wurde so von den Geschehnissen informiert.
Detektiv Hill konnte die Aussagen der beiden Frauen nach seiner Untersuchung des Tatortes bestätigen. Am Ort des Geschehens hatte er ein Kavalierstuch gefunden. Entgegen der gängigen Tradition war das Einstecktuch blütenweiß und lediglich mit den Initialen C.H. bestickt. Leider brachte das die Ermittler vorerst nicht weiter.
Lady Holmes begab sich nach Hause, um nach Melissa und Sophia zu sehen.
Lord Gadwington instruierte noch einige Beamte und begab sich dann ebenfalls nach Hause. Er hoffte, dass einige Stunden Schlaf vielleicht halfen, neue Ansätze bei der Ermittlung zu finden.


Trotz der Arnika-Umschläge für Sophias Wunden heilten die Verletzungen nur langsam. Mancher Bluterguss färbte sich erst lila, mancher bereits gelblich. Wenigstens waren die Schwellungen im Gesicht und am Leib am Abklingen.
Für Melissas Finger hatte Lady Sherly Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um wilden Kohl zu besorgen. Die Lady walkte die geeigneten Kohlblätter persönlich so weich, dass sie als Umschläge Verwendung finden konnten.
Lady Sherly hatte den beiden Dienerinnen ein Zimmer direkt neben dem ihrigen herrichten lassen und schlief nachts nur mit offener Verbindungstür. So konnte sie sofort eingreifen, wenn die beiden Frauen von Alpträumen heimgesucht wurden.
Nach vier Tagen erlaubte sich Lady Sherly für eine kleine Weile das Haus zu verlassen. Natürlich nicht, ohne vorher mehrere Diener zur Sicherheit in alle möglichen Ecken des Hauses postiert zu haben.
Jack begleitete Lady Sherly zu Scotland Yard.
Leider hatten Detektiv Hill und Lord Gadwington keine weiteren Erkenntnisse für Lady Sherly.
„Ich grübele die ganze Zeit, warum mir der Name Zachary so bekannt vorkommt.“, Lady Sherly hatte sich eigentlich gerade zum Gehen erhoben. „Es ist wie ein dunkler Schatten, der sich nicht greifen lässt.“
„Nun ja, die Männer wollten Sophia kidnappen. Das dürfte dann eigentlich nichts mit Euch zu tun haben.“, wandte Detektiv Hill ein.
„Ja, Sophia. Warum wollten sie Sophia kidnappen? Als Dienstmädchen wird man für sie kein Lösegeld zahlen…“, grübelte Lady Sherly nach. „Aber wenn sie sie verkaufen würden…“
„Zachary Woolfurth!“, riefen Lord Anthony und Lady Sherly plötzlich einstimmig.
Detektiv Hill verstand kein Wort, daher bat Lord Gadwington ihn die Akte vom Mordfall von Lady Forehand zu bringen.
„Woolfurth ist doch aber nach Übersee geflüchtet.“, meinte Lady Sherly.
„Das mag sein, aber vielleicht ist er wieder zurückgekehrt.“, antwortete Lord Anthony.
Als Detektiv Hill die Akte von Lady Forehand brachte und sie diese gemeinsam durcharbeiteten, ergab sich ein erschreckendes Bild für die Anwesenden.
Lord Woolfurth und Lady Forehand hatten einen Menschenhändlerring betrieben.
Lady Olivia August hatte mit Hilfe von Lady Anastasia Weserly und Lady M. Lady Forehand umgebracht.
Lord Woolfurth war direkt nach dem Mord verschwunden, man glaubte ihn in Übersee oder irgendwo auf dem Kontinent.
Den restlichen Menschenhändlerring konnte man, so nahmen die damaligen Ermittler an, alle inhaftieren.
„Doch wofür stehen dann die Initialen C.H.?“, fragte Lady Sherly. „Nicht für Zachary Woolfurth.“
„Hatte Woolfurth nicht einen ehemaligen Kameraden von der Marine in Brighton? Dieser konnte damals jedoch glaubhaft versichern, nichts von Woolfurths Taten gewusst zu haben. Wie war dessen Name gleich noch?“, hakte Lord Anthony nach.
Detektiv Hill durchstöberte den hinteren Teil der Akte und hielt letztlich triumphierend ein Blatt Papier hoch. „Callum Hughes! Jetzt haben wir diesen Drecksack!“
Noah Hill errötete, dass er sich einer Dame gegenüber so hatte hinreißen lassen. „Verzeihen Sie, Lady Holmes!“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Detektiv Hill. Jetzt haben wir diesen Drecksack!“, antwortete Lady Sherly lächelnd.


Zugern hätte Lady Sherly diese, wie Detektiv Hill sie genannt hatte, Drecksäcke in die Finger bekommen. Doch erneut war Lady M. schneller gewesen.
Lord Gadwington hatte einen Polizeitrupp zusammengestellt und war auf dem schnellsten Wege nach Brighton zu Mister Hughes‘ Landgut gefahren. Ob er wollte oder nicht, Lady Holmes begleitete ihn selbstverständlich.
Was sie dort vorfanden, waren die beiden Männer, am höchsten Baum aufgeknüpft und mit einem riesigen Schild auf der Brust. Darauf stand: „Für meine geliebte Schwester Anastasia! Lady M.“
„Und warum hat sie diese Drecksäcke erst jetzt gerichtet?“, schimpfte Lady Sherly vor sich hin. Sophia und Melissa wären so viel Leid erspart geblieben, wenn…
„So hat zumindest dieses Kapitel ein Ende.“, beruhigend legte Lord Anthony den Arm auf Lady Sherlys Schulter. Er konnte sie nur zu gut verstehen.
Für einige Augenblicke ließ sie Lord Gadwington gewähren. Dann straffte sie ihren Rücken und wandte sich zu ihm um. „Ich bringe Sophia und Melissa auf das Holmesche Landgut nach Wales.“
Lord Anthony nickte.
„Auch wenn ihre Körper genesen, sie müssen fort aus London. Es kann lange dauern, bis der Geist heilt.“
„Werdet Ihr so lange bei ihnen bleiben, Lady Sherly?“, fragte Lord Anthony nach.
„Ja, denn sie sind Familie.“, entgegnete Lady Sherly, und etwas verspätet fügte sie hinzu: „Wir müssen alle heilen.“

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