Everose

„Everose, was soll das?“ fuhr Alex seine kleine Schwester an. „In fünf Minuten wollen wir den größten Bruch unseres Lebens machen und du schmierst wie blöd auf dem Blatt rum?!“ Wütend versuchte er der jungen Frau den Block aus der Hand zu reißen.
„Aber…“ begann Everose eingeschüchtert.
‚Ruhig, ganz ruhig, nur nicht den Plan gefährden!‘ versuchte Alex sich herunter zu touren. ‚Kleine Schwestern sind so nervig. Warum wurden sie nicht einfach bei der Geburt ertränkt?‘ Dieser Gedanke brachte ihn dazu, seinen Mund zu einem schmierigen Grinsen zu verziehen.
Everose glaubte darin eine Milderung seiner Laune und begann plappernd ihre Aufzeichnung zu kommentieren.
„Diese Zeichen, dort auf dem Dach, verändern sich immer dann, wenn du nicht hinsiehst und ich hoffe, du erkennst sie, wenn ich sie dir aufmale. Sonst sind sie ja weiß, aber dann werden sie richtig stechend rot und es sieht warnend aus und …“
„Genug!“ knurrte Alex leise und das siebzehnjährige Mädchen erstarrte vor Angst und Ehrfurcht.
‚Sie plappert nur.‘ flüsterte eine sanfte Stimme in seinem Kopf.
‚Du brauchst sie noch, bleib ganz der liebe Bruder.‘ hob eine zweite an.
‚Sie sollte lieber den Plan durchgehen, die dämliche Kuh.‘ maulte eine andere.
‚Ersäufen, erhängen oder …‘ begann eine vierte.
Sein leises „Genug“ galt mehr diesen Stimmen in seinem Kopf als der brünetten jungen Frau, die mit ihm im hinteren Teil des gestohlenen Transporters hockte.
Links von ihm lagen zwei Maschinengewehre und vier Pistolen, dazu diverse Messer und ein Lageplan der Bank, welche sie in wenigen Minuten ausrauben wollten. Rechts lag ein Laptop, der alle Daten zum Überfall gespeichert hatte und in dem Everose eindeutig als Täterin belastet wurde. Alex hatte alles genauestens geplant. Dieses dämliche Kind hatte eigentlich keine Chance. Als erstes würde sie die Bank überfallen. Ihr einzureden, dass sie das nur alleine konnte, war einfach gewesen.
„Für eine Frau bist du sehr groß und daher werden die Bullen nicht wissen, ob ein Mann oder eine Frau den Überfall durchgezogen hat. Mich würden die sofort als Mann verdächtigen. Aber dich? Du gehst auch als Junge durch. Du musst nur zusehen, dass du deine Stimme tiefer machst. Und schneller laufen kannst du auch als ich!“
Dann noch ein paar Schmeicheleien und versteckte Drohungen, was die Bullen mit ihm machen würden, wenn sie ihn noch mal erwischen, und fertig war seine Überredung.
‚Dieser dämliche Wanst hat echt alles geglaubt, was ich ihr erzählt habe!‘
Sein Grinsen vertiefte sich immer mehr.
Nach dem Überfall würde sie hierher zum Transporter kommen. Er würde sie niederschlagen und samt dem Transporter und ein paar Geldscheinen in die Schlucht stürzen, die er sich schon vor Wochen ausgesucht hatte. Dort würde ihn keiner stören und er konnte den Wagen so präparieren, dass er auch wirklich beim Absturz explodieren würde. Und die Bullen würden glauben, der Täter und die Kohle sind verbrannt. Die kleine Wunde am Hinterkopf würde man für Folgen des Unfalls halten.
‚Gott, das ist fast zu einfach!‘ lachte eine der Stimmen auf.
‚Mann, das macht mich richtig an…‘ säuselte eine andere.
‚Reich, reich, reich, wir sind reich!‘ sang die nächste. ‚Und den Balg sind wir bald los…‘
Everose starrte fasziniert auf das Gesicht ihres 10 Jahre älteren Bruders.
Der grimmige Ausdruck begann einem süffisanten Grinsen zu weichen, was seinem bübchenhaften Gesicht einen verwegenen Touch gab. Eigentlich hätte er bei diesem Aussehen und diesem Körper alles werden können, Model, Schauspieler, Callboy. Aber er war ein Dieb geworden, besser gesagt ein Bankräuber. Sie verstand nicht, warum der Ältere sein Leben verschwendete. Das er sie für seine Pläne missbrauchte, stellte sie nicht in Frage. Schließlich war er ihr Bruder und er hatte ihr immer viele Geschenke gemacht, für die tausend kleinen Dienste, die sie ihm erwiesen hatte. Nur mit diesem fetten Schwein von Bankdirektor schlafen, das war etwas, was sie ihm nicht so schnell verzeihen würde. Den Plan hätte sie auch anders bekommen können, ihr fiel zwar nicht gleich ein wie, aber irgendwie hätte sie das schon hingebogen. Nun gut, als sie jünger war, konnte sie einfach so in die Banken und mit Hilfe einer Kamera alles auskundschaften. Die Angestellten zeigten dem süßen Fratz, der sie gewesen war, gern auch mal „verbotene“ Bereiche. Heute fiel sie dagegen auf. Brünett, schlank und hoch gewachsen, grüne, fast stechende Augen und verdammt große Brüste. Ach ja, die musste sie ja noch abbinden.
„Ähm, Alex, kannst du dich bitte umdrehen?“ begann sie leise.
Der Bruder, aus seinen angenehmen Träumen gerissen, fragte wütend warum.
„Ich … ähm … ich …“ verzweifelt nach Worten suchend hielt sie ihm die Binde vor Augen, mit denen sie ihre Brüste verstecken wollte.
‚Schieb doch noch eine Nummer mit ihr, wäre doch schade, wenn der letzte Typ, der sie vernascht hat, dieser alte Bankfuzi wäre…‘ flüsterte eine der Stimmen und er hatte alle Mühe sich nicht verleiten zu lassen. Doch er musste an den Plan denken, an das Geld, also drehte er sich um.
Als Everose fertig war, sah sie wieder zu den Leuchtzeichen auf dem Dach. Sie waren scheinbar noch röter und warnender. Und sie blinkten. Hastig malte sie sie auf ihren Block.
„Bist du fertig?“ fragte Alex.
„Ja, aber die Zeichen…“
„Egal, komm, wir müssen den Zeitplan einhalten.“ er begann die Waffen zu sortieren und seiner Schwester an die entsprechenden Stellen zu stecken.
„Bitte, schau sie dir wenigstens an…“ Sie wusste selbst nicht, warum sie auf einmal so hartnäckig war.
Alex nahm ihren Kopf zwischen beide Hände. „Gleich, wenn du weg bist, Kleines, versprochen. Aber sieh auf die Uhr, wir haben noch zwei Minuten…“
„Es ist doch nur…“
„Sonst müssen wir noch einen ganzen Monat warten und du weißt, was dann mit mir passiert?“
„Aber du siehst sie gleich an, wenn ich weg bin, versprochen?“ beharrte die junge Frau zum ersten Mal in ihrem Leben.
„Versprochen, Kleines.“ Nach einem kurzen Kuss auf die Stirn drehte Alex sich um, öffnete die hintere Transportertür und schob seine Schwester auf die Straße. Ein Klapser auf den Hintern gab für Everose das Startzeichen.
Als Alex alles für den Überfall auf seine Schwester vorbereitete, fielen ihm die Zeichnungen in die Hände.
Hastig überflog er die Blätter. Lachend sah er zur Leuchtreklame auf dem Dach und warf das Papier auf den Stapel, der das Auto, in Benzin getränkt, entzünden sollte.
„Tue es nicht!“, „Er will dich töten!“, „NEIN!“ war auf den Blättern zu lesen.
Alex setzte sich in Position, denn die Sirenen der Bank kündigten die baldige Rückkehr Everose‘ an.
Die letzten Worte, die Everose hörte, bevor Alex sie niederschlug und in den Transporter zerrte waren: „Tja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil!“

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