„Hallo Großvater,“ sprach Fleur ins Telefon. „Ich habe gerade an dich gedacht. Was machst du zurzeit?“
„Ich komme eben vom Einkaufen.“ antwortete der 77jährige in sein Handy. Im Gegensatz zu vielen seiner Alterskameraden, hatte er Zeit seines Lebens zu den aufgeschlossenen, neugierigen Menschen gehört, die Technik nicht verdammten sondern als evolutionären Vorschritt sahen. Natürlich dauerte es Wochen, bevor er auch nur eine verflixte Telefonnummer in dieses vermaledeite Handyverzeichnis hatte speichern können und dieses Simsen bereitete ihm auch nach Jahren noch arge Kopfschmerzen. Doch er verließ niemals ohne Handy seine Wohnung.
„Im Lebensmittelladen war ich. Sag mal, Fleur, mein Schatz, du kommst doch nächste Woche zu mir, wie verabredet?“
„Natürlich! Was zauberst du mir dieses Mal Leckeres zum Mittagessen?“
Das dunkle, dröhnende Lachen des Großvaters schallte aus dem Hörer. „Kind, wann denkst du mal an was anderes als Essen? Ich glaube, diesen Tag werde ich nicht mehr erleben. Und nun erzähl, weshalb du anrufst.“
Fleur konnte nicht benennen warum, aber sie hatte wie unter Zwang den Telefonhörer aufgenommen und die Handynummer ihres Großvaters eingedrückt. „Ich wollte nur deine Stimme hören, ich hatte so ein ungutes Gefühl…“
Noch während sie sprach, sah sie es. Der alte Mann steuerte direkt auf die Straße zu, um sie zu überqueren und bemerkte aufgrund des Telefonates mit seiner Enkelin den heranrasenden Bus nicht.
„Nein, pass auf!“ schrie die junge Frau in das Telefon, nur um im selben Moment zu sehen, wie der Körper ihres Großvaters erfasst wurde. Er wurde durch die Luft geschleudert und blieb blutüberströmt am Straßenrand liegen…
Schreiend schrak Fleur in ihrem Bett auf.
‚Tief durchatmen! Ganz tief durchatmen!‘ dachte sie. ‚Es war nur ein Traum, nur ein Traum!‘
Sie konnte später nicht sagen, wie lange sie auf ihrem Bett saß und versuchte sich die grausigen Bilder ihres Traumes aus dem Gedächtnis zu schütteln. Die Zeit schien endlos und doch nicht existent gewesen zu sein. Eine dunkle Leere spülte durch ihren Kopf und ihr Herz.
‚Es war so…‘, ihr Gehirn weigerte sich auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Irgendwann erhob sie sich und ging zum Telefon.
„Mama?“ erleichtert hörte sie die vertraute Stimme. „wenn ich dir erzähle, was ich gerade geträumt habe … Was, wo bist du? Aber wieso gehst du jetzt einholen? Mama? Mama…“
Noch während sie sprach, sah sie es. Ihre Mutter steuerte direkt auf die Straße zu, um sie zu überqueren und bemerkte aufgrund des Telefonates mit ihrer Tochter den heranrasenden Bus nicht.
„Nein, pass auf!“ schrie die junge Frau in das Telefon, nur um im selben Moment zu sehen, wie der Körper ihrer Mutter erfasst wurde. Sie wurde durch die Luft geschleudert und blieb blutüberströmt am Straßenrand liegen…
Schreiend schrak Fleur in ihrem Bett auf. Entsetzt kniff sie sich in den linken Oberarm. Der Schmerz, welcher fast augenblicklich einsetzte, zeigte ihr, dass sie wach war. Dieses Mal war sie wirklich wach.
‚Ein Traum im Traum‘, diese vier Worte hämmerten wie ein unheilvoller Rhythmus in ihrem Kopf.
‚Ein Traum im Traum‘ … ‚Ein Traum im Traum‘ … ‚Ein Traum im Traum’…
Fleur wusste mit glasklarer Gewissheit um deren Bedeutung.
Sie musste eine Entscheidung treffen, wieder einmal.
Und wenn es erneut die falsche sein würde, welches Leben war wertvoller, als das andere?
Welcher der beiden Menschen sollte geopfert werden, damit der andere leben konnte?
Und wie sollte sie mit dieser Schuld leben?
All diese Jahre in denen sie hatte vergessen können, welche schreckliche Gabe ihr das Schicksal zu Eigen gemacht hatte.
Es gab einen Augenblick ihres Lebens, den sie zutiefst bereute. Sie würde alles geben, diesen Augenblick rückgängig zu machen und die richtige Entscheidung zu treffen.
Sie hatte einst versucht, sich dieser Last mit ihrem eigenen Leben zu entledigen und nun trug sie diese Gabe, diesen Fluch auf die vom Schicksal bestimmte Ewigkeit.
Doch wen sollte sie nun opfern?
Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie bereits entschieden hatte.
Sie nahm mit bebenden Fingern den Hörer vom Telefon und begann die Nummer einzutippen. Jeder Wählton schallte mit tausendfachem Echo durch ihren Kopf.
„Hallo?“ flüsterte sie leise, sich der tödlichen Konsequenz ihres Tuns bewusst.
„Ich hatte denselben Traum, Kind.“ hörte Fleur am anderen Ende. „Glaubst du wirklich, ich lasse dich diese Qualen noch einmal durchstehen?“
„Nein, tue es nicht, nein …“ doch die einzigen Geräusche, die Fleur vernehmen konnte, waren als der Bus ihre Mutter erfasste, mit dem Handy ihres Großvaters in der Hand.