Freundschaft bezeichnet ein auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander – Sherlys sechstes Abenteuer

„Scha, Scha…!“, Marie wies mit ihren Fingerchen auf die Tiere, welche sie durch das Stangenholz des Pferchs beobachtete.
„Schaf heißt das, meine Süße.“, verbesserte Lady Sherly lachend ihr Patenkind. „Sag mal Schaf!“
Ernst schaute Marie zu der Lady auf, welche sie fest hielt, damit das Mädchen nicht durch die Holzlatten in das Gehege eindrang. Die etwas mehr als zwei Jahre alte Marie grübelte kurz und sagte dann im tiefsten Ernst: „Scha?“
Lady Sherly lachte herzhaft auf und lockerte dabei ihren Griff.
Diese kleine Unachtsamkeit genügte dem wieseligen kleinen Mädchen und sie löste sich vollständig aus der Umarmung, huschte durch die Holzlatten und rannte zu den Tieren.
„Marie! Marie!“, rief Lady Sherly erschrocken und versuchte so schnell wie möglich über die Einzäunung zu klettern, um zu der kleinen Ausreißerin zu gelangen. Mit den vielen Röcken der damenhaften Begleitung war dies jedoch ein äußerst schwieriges Unterfangen.
Das Kind interessierte die Sorge ihrer Patentante nicht, sie wollte einfach nur zu den Tieren. Sobald sie das erste Schaf erreichte, fasste sie dieses auch beherzt an den Kopf.
Das weibliche Schaf war mitten beim Fressen und dachte gar nicht daran zu reagieren.
Marie zog nun fester am Kopf des Tieres, denn sie wollte das Gesicht der Au sehen.
Leicht genervt von dem menschlichen Störenfried, welcher dem Schaf gerade bis zur Schulter reichte, versuchte dieses Marie wegzuschieben.
Diesen Angriff hatte das Mädchen nicht erwartet und landete prompt unsanft auf ihrem Po.
Ob ein spitzer Stein auf der Wiese lag oder der Schreck das Kleinkind zum Weinen animierte, konnte niemand wirklich sagen. Doch Marie begann herzerweichend zu schluchzen.
Unterdessen hatte Lady Sherly das Mädchen erreicht und nahm es auf die Arme.
Mit sanften, tröstenden Worten versuchte die Lady ihr Patenkind zu beruhigen, während sie sich durch die Schafherde zum Gatter kämpfte.
Außerhalb des Pferchs setze Lady Sherly Marie ab und untersuchte die Kleine in Ruhe.
„Ich habe da eine Salbe, die könnte helfen.“, sprach ein junger Mann in zerschlissenen Kleidern die Lady an.
Lady Sherly erschrak, sie hatte den Fremden nicht bemerkt. Als sie ihn genauer betrachtete, sah sie, dass der Mann eher ein Jüngling war. Sie schätzte ihn höchstens auf 15 Jahre.
„Eine Salbe, die helfen könnte?“, hakte Lady Sherly nach.
„Na eher eine Tinktur.“, verbesserte der Junge sich. „Aber ich habe sie ist extra für Kleinkinder hergestellt!“
„Glauben Sie diesem Scharlatan kein Wort, Lady!“, echauffierte sich ein zweiter Jüngling. „Seine Tinktur enthält Belladonna, dass ist nichts für so kleine Kinder! Nehmen Sie lieber meine!“
„Wer von uns beiden ist hier der Scharlatan?“, schoss der erste Junge sofort zurück.
Lady Sherly war fasziniert.
Zwillinge, welche für ein ungeübteres Auge sicher kaum zu unterscheiden waren.
Natürlich gewahrte sie die etwas helleren Haare, die vollere Oberlippe, die breitere Nase sowie das leicht verkleinerte linke Ohr des zweiten Jungen. Auch die Wangenknochen waren nur nahezu identisch. Während der erste Junge etwas Ruhiges und Gesetztes im Blick hatte, sprach eindeutig Schalk und Aberwitz aus den Augen des Zweiten. Ja, Lady Sherly würde sie gut unterscheiden können.
Marie besah sich die beiden zerlumpten, aber sauberen Gestalten interessiert, deren Auseinandersetzung immer heftiger wurde, und vergaß darüber zu weinen.
Die zwei Jungen stritten zwar mit einem Sprachgebrauch, welcher zwei alten Kutschern gleich kam, doch war ihr Tonfall heiter und nicht bösartig. Außerdem schnitten sie Grimassen und rissen allerlei Posen.
Letztlich waren sowohl Lady Sherly als auch Marie derart in Lachen ausgebrochen, dass ihnen förmlich Tränen über die Wangen rannen.
„Sehen Sie Lady Holmes, wir brauchten nicht einmal unsere Tinktur für Marie.“, sprach der erste Junge sanft die vor ihm stehende Dame an.
„Oh, dann wisst Ihr, wer ich bin, aber ich weiß nichts über Euch!“, antwortete Lady Sherly.
Ein eigenartiger Ausdruck huschte über das Gesicht des Jungen. Vermutlich war er von der vornehmen Anrede der Lady überrascht. Doch Lady Holmes wusste selbst aus schmerzhafter Erfahrung, dass man niemals ein Buch nach seinem Einband beurteilen sollte und Höflichkeit und Respekt zueinander nichts mit dem Stand des Gegenübers zu tun hatten.
Der zweite Junge, der etwas Offenere der beiden, übernahm das Antworten. „Ich bin Philipp Lewis und das ist mein zehn Minuten jüngerer Bruder Jakob. Wir leben auf dem Nachbargut und sind die „Quacksalber“ der Gegend. Also wir kümmern uns um krankes Vieh und kranke Menschen. Nun ja, manchmal bekommen Herr und Tier dasselbe Extrakt, aber die unterscheiden sich dann auch sonst nicht in ihrer Art und Lebensweise. Aber keine Sorge, Mylady. Ich kann super mit Eurem Vieh und Jakob super mit Eurer Dirn!“
„Bitte? Was meint Ihr mit Dirn?“, bis eben noch war Lady Sherly amüsiert über den dreisten Jungen, doch das ging ihr zu weit! Marie war doch keine Dirne! Sie war nur etwas älter als zwei Jahre!
„Verzeiht meinem Bruder, Mylady!“, mischte sich jetzt der ruhigere Jakob ein. „Dirn ist ein Begriff der Küste und heißt so viel wie kleines Mädchen.“
„Ihr scheint mir sehr gebildet, Mister Lewis.“, nun kam sich Lady Sherly zum ersten Mal seit langer Zeit sehr albern vor. Natürlich wusste sie, dass es hier an der rauen walisischen Küste andere Begriffe als im vornehmen London gab. Die Waliser waren sogar sehr stolz auf ihre Sprache und pflegten ihren Gebrauch. Lady Sherly kannte selbst ein paar Worte.
Doch bei Maries Vorgeschichte oder besser der ihrer Mutter, Lady Olivia August, welche einst als Mörderin hingerichtet worden war, reagierte sie auf jegliche abwertende Äußerung außerordentlich empfindlich.
„Nun ja,“, übernahm wieder Philipp die Ausführungen. „Oftmals entlohnt man uns nicht mit Lebensmitteln oder Kleidung, sondern mit Schriften. In denen geht es dann um Benimmregeln, Kochbücher oder es sind Veröffentlichungen von Ärzten und Wissenschaftlern.“
Jakob hockte sich derweil vor Marie und sprach leise mit dem Mädchen. Vertrauensvoll legte diese daraufhin ihre Hand in Jakobs und sie gingen beide zurück ans Gatter und beobachteten die Schafherde. Andächtig lauschte die kleine Maid dem Jüngling, als er ihr verschiedene Dinge über die Tiere zu erklären schien. Und wie durch ein Wunder versuchte Marie nicht wieder in den Pferch zu entschlüpfen.
„Ja, diese Wirkung hat mein Bruder auf alle Menschen. Ich habe die bei Tieren.“, schnatterte Philipp unverdrossen weiter. „Deswegen sind wir auch hier. Mister Williams hat uns gebeten, uns eine schwangere Stute anzusehen.“
„Jack ließ euch rufen?“, wenn ihr Butler den Jungen vertraute, so konnte sie, Lady Sherly, dies auch ruhigen Gewissens tun.
„Ja, Mister Williams. Die Stute wird bald niederkommen und er macht sich Sorgen um sie.“, bestätigte Philipp. Dann begann er wieder einen langen Monolog.
Nach nicht einmal fünf Minuten kannte Lady Sherly die Lebensgeschichte der Zwillinge.
Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und ihr Vater hatte drei Jahre später bei einer Seenotrettung vor der Küste Wales` sein Leben verloren. So kamen die Jungen zur Großmutter, welche als altes Kräuterweib ihren Unterhalt verdiente. Schon sehr früh lernten die Jungen die alten Heilmittel der Waliser kennen. Ihre Nain, wie Großmutter auf walisisch hieß, brachte den Zwillingen lesen und schreiben bei. Was in dieser Zeit schon als äußerst fortschrittlich galt. Immerhin konnten Dreiviertel der Waliser Landbevölkerung noch nicht einmal richtig englisch sprechen, geschweige denn lesen oder schreiben. Nain brachte ihnen sogar Latein bei, also so hatte sie es ihnen gesagt. Beweisen konnten die Jungen es nicht, immerhin kannte in dieser Gegend keiner diese Sprache.
Als ihre Nain dann vor zwei Jahren starb, mussten die Jungen sich selbst ihren Unterhalt verdienen.
Lord Martin, Lady Sherlys direkter Nachbar, ließ sie einer Scheune schlafen, wenn sie sich um sein Vieh kümmerten. Leider gab es keine Lebensmittel von ihrem Herrn, so hatten sie angefangen, dass Wissen ihrer Nain zu nutzen und Tinkturen und Salben für allerlei Gebrechen zu verkaufen.
„Wisst Ihr, Mylady, kümmert der Mensch sich um das Land, so kümmert sich das Land auch um den Menschen und wir Cymry, das heißt übrigens Waliser in unserer Sprache, leben und handeln nach diesem Motto!“, beendete Philipp gerade seinen altklugen Vortrag.
Unterdessen waren die beiden am Stall angelangt, um nach Jacks erkrankten Stute zu sehen.
„Belästigt der Kleine Sie, Mylady?“, knurrte Jack aus dem Stallinneren.
„Nein, mein Lieber. Er war äußerst reizend.“, antwortete Lady Sherly sogleich, um ihren Butler zu beruhigen. „Wir wollten nach Eurer Stute sehen, Jack.“
Philipp untersuchte das Tier mit sanften, liebevollen Händen und sprach mit leisen, beruhigenden Worte auf die werdende Mutter ein.
„Tut mir leid, Mister Williams.“, begann Philipp etwas später mit gesenktem Blick. „Ich kann nur die Stute oder das Fohlen retten. Für eine normale Geburt ist die Stute zu schwach.“
Jack nickte zustimmend, ganz so, als würde er diese fürchterliche Diagnose bereits selbst gestellt haben.
„Aber du kannst es ihr erträglicher machen?“
Philipp schaute dem älteren Mann nun direkt in die Augen. „Ich hasse es, wenn ich ein Tier sterben lassen muss.“
„Ich auch, Kleiner.“, versuchte Jack den Jungen zu beruhigen. „Ich auch. Aber sie soll nicht sinnlose Qualen leiden.“
Nachdem Philipp in den Augen seines Gegenübers dieselbe Sorge und Anspannung gelesen hatte, antwortete er nach einiger Überlegung: „Ja, ich hätte da ein Tonikum…“
Lady Sherly ließ die beiden Männer mit dem Tier allein und kehrte zurück zu ihrer Patentochter.
Später am Abend sprach sie dann noch einmal mit ihrem Butler über die Lewis–Jungen. Jack war voller Lobes über Philipp und wusste auch zu berichten, dass ein Tonikum von Jakob ihre Köchin Mrs. Willers von Koliken befreit hatte und eine Salbe eine schwere Brandverletzung fast ohne Narbe geheilt.
Nachdem Lady Sherly in den kommenden Tagen weitere ihrer Bediensteten nach den Zwillingen befragt hatte, fasste sie schließlich einen Plan. Sie würde die Zwillinge auf ihrem Anwesen unterbringen und für Kost, Logis und ein ordentliches Einkommen sollten sie die Tiere und Menschen des Gutes behandeln.
Jakob und Philipp Lewis waren überwältigt, denn sie erhielten nicht nur eigene Räumlichkeiten und einen Lohn, sondern durften auch noch zusätzlich jederzeit Lady Sherlys enorm umfangreiche Bibliothek nutzen.


„Das erzählst du mir doch nur, Philipp!“, lachte Sophia leise. „Das kann unmöglich stimmen!“
Seit die Jungen im Haushalt untergekommen waren, hatten diese sich auf ihre liebe und einfühlsame Art um Sophia und Melissa gekümmert. Am Anfang noch mit den Argusaugen von Jack und Lady Sherly bewacht, doch nach nicht einmal drei Tagen, ließen diese sie beruhigt allein.
Während Melissa in Jakob eine Art jüngeren Bruder gefunden zu haben glaubte, war Sophia schon etwas vernarrt in Philipp und er augenscheinlich auch in sie.
Sophia hatte den hübschen Jungen am Anfang vertreiben wollen und ihm ihr grausames Schicksal direkt ins Gesicht geschleudert. Doch Philipp war genau der ehrenwerte junge Mann, auf den jede Mutter stolz sein würde. Sanft und unaufdringlich gewann er Sophias Freundschaft und als bald auch ihr Herz.
Die Damen und Jack waren nun etwas mehr als zwei Monate in Wales, auf dem Holmeschen Landsitz.
Die wundervolle Natur, die saubere Luft und die ungezwungene Gesellschaft hatten nicht nur die körperlichen Wunden heilen lassen.
Melissa fühlte sich bereits wieder stark genug für London. Allmählich begann sie auch das quirlige Leben der Großstadt zu vermissen.
Sophia hatte bereits wieder begonnen zu lachen. Die Schatten unter ihren Augen waren verschwunden. Und nur noch in manchen Nächten holten die Gespenster ihrer Vergangenheit sie ein.
„Ihr Waliser behauptet lieber Unzucht mit den Schafen zu treiben, wenn ihr beim Stehlen von ihnen erwischt werdet? Das kann nur erfunden sein!“, fragte Sophia leise kichernd nach.
„Natürlich ist das erfunden, aber wenn man uns beim Diebstahl erwischen würde, verlören wir eine Hand und für Unzucht mit dem Schaf muss man nur eine Geldstrafe bezahlen! Also stehlen wir die Schafe offiziell niemals!“
Nun bog sich die junge Dienstmagd vor Lachen.
„Philipp?“, rief Jakob seinen Bruder.
Rasch entschuldigte der Angesprochene sich bei Sophia und ging zu seinem Bruder.
„Ich glaube, ein Sturm kommt auf.“, erklärte Jakob Philipp leise. „Ein schwerer Sturm!“
Philipp nickte verstehend. Sein Bruder litt häufig an leichtem Kopfweh, wenn das Wetter umschlug. Doch dieses Mal konnte er Jakob die Qualen, welche dieser litt, ansehen. Sie beide wussten, was das bedeutete. So hieß Philipp seinem Bruder auf sein Zimmer zu gehen und sein spezielles Tonikum zu nehmen. Er würde dann zwar viele Stunden schlafen, aber ohne oder nur mit leichten Schmerzen erwachen.
Philipp begab sich nun umgehend zu Jack und Lady Sherly, welche sich gerade um das neugeborene Fohlen kümmerten, um sie zu warnen.
Er wusste aufgrund Jakobs Zustand, dass dies nicht nur ein Sturm sein würde, solche Dinge kannten die Waliser allemal. Jakob war wie ein Kompass für schwere Unwetter. Wenn es so schlimm war, stand meist ein schwerer Wind, Eiseskälte und sinnflutartige Regenfälle bevor. Diese Anfälle hatten am Todestag des Vaters der Zwillinge begonnen und selbst ihre Nain hatte Jakob nicht zu heilen vermocht.
Aufgrund Philipps eindringlicher Worte über den Zustand des Bruders und dessen Bedeutung entsandte Lady Sherly sofort Dienstboten, welche die umgebenden Landgüter und Dörfer warnen sollten.
Zu Lord Martin, ihrem direkten Nachbarn und dem vorherigen Herren der Lewis-Jungen, beschloss sie selbst zu reiten. Jack würde sie begleiten.
„Spätestens morgen Vormittag wird der Wind kommen und ich befürchte auch Eis und Kälte.“, sagte Philipp gerade zu den Dienern, als Lady Sherly in den Stall zurück kam. Sie hatte sich gegen den Reitrock entschieden und alte Beinkleider ihres älteren Bruders angezogen. Heute mussten sie schnell wie der Wind reiten, da war ein Damensattel nur hinderlich.
„Die Dorfbewohner sollen sich auf mehrere Tage Unwetter einrichten!“, mit diesen Worten entließ Philipp die Reiter, welche augenblicklich in alle Himmelsrichtungen zerstoben.
An der Nordküste Wales war der Zusammenhalt der Einwohner so eng wie überall in Wales. So würden die anderen Anwesen ebenfalls Reiter aussenden, um weitere Gehöfte und Dörfer zu warnen.
Philipp beschwor Lady Sherly und ihren Begleiter vor Tagesanbruch zurück zu sein und versprach sich derweil um die Tiere zu kümmern.
„So Gott will!“, rief Lady Sherly und gab ihrem Hengst die Sporen.
„So Gott und meine Lady wollen!“, rief Jack und preschte hinterher.


Lord Martin war genauso ein stocksteifer, bornierter und herablassender alter Mann, wie Lady Sherly ihn in Erinnerung hatte. Sein Geiz war legendär und vermutlich war er das Vorbild, welches Charles Dickens für seinen Ebenezer Scrooge genommen hatte! Nur das Lord Martin nicht geläutert war!
Er beschimpfte die beiden Reiter gerade auf das Schlimmste. Im Augenblick verlangte er von Lady Sherly, dieser dreckigen Sklavendiebin, sein Land zu verlassen! Als ob Jakob und Philipp Sklaven wären!
Lady Sherly holte tief Luft, um diesem Kreatin nicht sofort zu antworten. Doch anstatt sich zu besinnen, wurden die verbalen Angriffe des weißhaarigen alten Lords immer gemeiner und dreister.
Jack ritt unterdessen zu den Bediensteten, um diese wenigstens über die drohende Gefahr zu informieren.
„Ihr seid eine Schlampe, nein, eine Hure, wenn Ihr allein mit einem Mann reist!“, brüllte der Lord gerade.
Das genügte!
Lady Sherly, welche noch hoch zu Pferd saß, sprang mit einem eleganten Sprung von ihrem Hengst.
Mit einer fließenden Bewegung schnappte sie sich die Reitgerte und zog diese dem völlig verdutzten Lord über die Brust.
„Wie könnt Ihr es wagen, so mit einer Lady zu sprechen!“, brüllte Lady Sherly nun nicht minder laut zurück.
Sie hatte bewusst ihren Schlag milder geführt, als sie es gern getan und gekonnt hätte. So war lediglich der Samt von Lord Martins abgewetzten Wams zersprungen, aber dessen Haut nicht getroffen.
Der Lord dachte aber gar nicht daran Milde oder Vernunft walten zu lassen. „In Hosen? Das kann nur eine Hure sein! Eine Lady würde dies niemals wagen! Eine Hure und eine gemeine Diebin seid Ihr!“
Lady Sherly wusste nicht, was sie getan hätte, wenn Jack ihr nicht in den Arm gefallen wäre, welcher bereits erneut zum Schlag angesetzt hatte.
„Mylady, er ist es nicht wert!“, versuchte der Butler seine Herrin mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Nicht wert.“
„Ha, lässt sie sich auch noch von ihrem Liebchen Befehle geben, dass hochwohlgeborene Flittchen!“, spottete Lord Martin sofort.
Jack sprang auf den Lord zu und baute sich in seiner ganzen Körpergröße vor ihm auf. „Ihr werdet meiner Herrin den Respekt zollen, den sie verdient!“, knurrte er leise. „Wenn Ihr die Dame, die nur herkam, um Euer wertloses Leben zu retten, noch mal beleidigt, werde ich Euch finden und Eurer gerechten Strafe zuführen!“
Auch wenn es sehr undamenhaft war, Lady Sherly kicherte als sie den zusammenzuckenden Lord sah.
Gut, Jack war in voller Körpergröße eine Hüne und niemand, wirklich niemand würde sich freiwillig, mit ihm anlegen. Wer den gutmütigen Menschen dahinter nicht kannte, dem konnten vor Angst schon die Kniee schlottern und Lord Martin hatte genau das verdient!
Als Jack und sie das Gut verließen, spie der alte Mann ihnen weitere unschöne Beschimpfungen hinterher. So drehte Lady Sherly letztlich noch einmal um, ritt im vollen Galopp auf den Lord zu und brachte ihren Hengst direkt vor dem versteinerten Mann zum Stehen.
„Nicht Jack wird Euch strafen, sondern Gott!“, mit diesen Worten wendete Lady Sherly ihren Hengst erneut und gab diesem die Sporen.


Philipp, Jakob und der verbliebende Haushalt hatten sich in der großen Halle versammelt.
Sie warteten auf den Tagesanbruch und ihre Lady.
Jakob, bleich wie die Laken des hoheitlichen Bettes, schwankte leicht. Er spürte den Wind, er wusste, dieser war nicht mehr weit.
Lady Sherly und Jack waren noch nicht heimgekehrt, als schwere Tropfen eisigen Regens begannen die Wege zu durchfeuchten.
Philipp scheuchte daraufhin die Bediensteten los, sie sollten das Kaminfeuer in Lady Sherlys Gemächern schüren und für die beiden Reisenden ein heißes Bad bereiten, auch ein wenig Tee und die wundervollen Butterscones von Mrs. Willers, der Köchin.
Als alle Vorkehrungen getroffen waren, versammelten sich die Bediensteten wieder in der großen Halle. Genau in diesem Augenblick ritten Lady Sherly und Jack am Haupteingang vor.
Völlig durchnässt und durchgefroren erreichten die beiden die große Halle.
Rasch begaben sie sich in ihre Gemächer, um sich der nassen Kleider zu entledigen und in dem heißen Bad wieder zu erwärmen. Philipp kümmerte sich derweil um die Pferde.
Die Sonne hatte sich an diesem Freitag erst wenige Zentimeter über den Horizont erhoben, als ein Sturm losbrach, wie man ihn Hunderte von Jahren nicht erlebt hatte.
In die anliegenden Wälder wurden riesige Schneisen geschlagen, durch die mächtigen Windböen. Dächer wurden abgedeckt, Vieh, Gerätschaften und Menschen durch die Luft gewirbelt.
Fast vier Tage wütete dieser Orkan und brachte, wie befürchtet, die Eiseskälte des Winters mit sich.
Der Frost blieb und manch Mensch und manch Tier erfroren im kältesten Winter seit gut 170 Jahren.
Lady Sherly hatte ihr Patenkind Marie und deren Eltern auf ihr Anwesen bringen lassen, um diese vor den Unbillen der kommenden Monate zu schützen.
So verbrachten alle das Weihnachtsfest im Jahre 1893 des Herren gemeinsam.
Und mit frostklirrender Hand begann der Winter das Jahr 1894.
Im Februar zog ein weiterer Eissturm durch England, doch verschonte dieser Wales und brachte Tod und Verderben in das restliche England und Schottland.
Am Endes dieses frostigen Monats erreichte ein Diener von Lord Martin nur mit knapper Not das Anwesen von Lady Sherly.
Sein Herr wäre krank, aber zu geizig, Hilfe aus der Stadt holen zu lassen, daher bitte er, der Diener wenigstens um die Hilfe Jakobs.
Natürlich ließ Lady Sherly den Jungen ziehen, aber nicht ohne ihm Jack und einen weiteren Diener als Schutz mitzugeben. Lady Holmes traute ihrem Nachbarn alles zu, auch eine List hinter solch einer Bitte.
Wenige Tage später kamen die Drei zurück. Jakob war auf das Äußerste betrübt, hatte er dem alten Lord nicht mehr helfen können. Seine Kräuterkunde hatte für die Behandlung der Lungenkrankheit des Lords nicht ausgereicht. Er hätte die Künste und Heilmittel eines Arztes benötigt und darüber verfügte Jakob leider nicht.
Die Trauer um den alten Lord Martin hielt sich jedoch auch auf dessen Anwesen in Grenzen. Nur Jakob trug schwer an dem Verlust des Patienten, denn genauso wie sein Bruder gab er ein Leben ungern dem Tode preis.
Die langen Winterwochen hatten Lady Sherly genug Zeit gegeben, sich selbst ein Bild von den Lewis-Zwillingen zu machen. So entschied sie nach diesem Unglück, die beiden Jungen richtig ausbilden zu lassen. Sie kontaktierte die Londoner Schule für Veterinärmedizin, das Royal Veterinary College und die medizinische Fakultät der Cambridge Universität.
Die Finanzierung war dank ihres unlängst verstorbenen älterem Bruder Mycroft kein Problem. Hatte dieser ihr doch ein ansehnliches Vermögen hinterlassen, weil er glaubte, sie würde sonst als alte verarmte Jungfer enden.
Dank der klugen Ratschläge ihres Freundes Lord Miles Saundersburgh hatte sie Mycrofts Hinterlassenschaft in den vergangenen zwei Jahren mehr als verdoppeln können. So hatte Lady Sherly nicht nur bis an ihr Lebensende ausgesorgt, sondern konnte sich derlei Extravaganzen ohne Weiteres leisten.
Lord Miles würde sie zwar wieder schimpfen, doch Lady Sherly hatte ein gutes Gefühl bei Jakob und Philipp. Sie würde die beiden nach ihren Studien auf Lebenszeit anstellen.
Nachdem Lady Sherly alles organisiert hatte, informierte sie Jakob und Philipp. Diese freuten sich ungemein, auch wenn ihr Leben an der Universität sie nun gute 60 Meilen voneinander trennen würde.

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