Vorgaben
ein Junge mit einem Blitz auf der Stirn und der kann zaubern
„Papa, erzähl mir eine Gute-Nacht-Geschichte, büüüüüüüüüüüüüüüüdddddddddddddddddeeeeeeeeeeeee.“, bettelte Matteo seinen Vater Ben an. Ein Spiel, das jeden Abend für Matteo von Erfolg gekrönt schien, denn Papa gab immer nach und erzählte die tollsten selbsterfundenen Geschichten.
„Owei, heute weiß ich wirklich keine neue!“, Ben hob wie jeden Abend die Hände.
Er liebte diese halbe Stunde, die er ganz allein mit seinem zwölfjährigen Sohn verbringen konnte.
„Och büdde, büdde, büdde!“, versuchte es Matteo erneut.
Nach einigem Hin und Her meinte Ben, ihm wäre doch etwas eingefallen. „Es war einmal ein Junge, der trug einen Blitz auf der Stirn und dieser Junge konnte zaubern…“, begann er sogleich mit leiser, tiefer Erzählstimme.
„Papa, ich bin doch kein kleines Kind mehr! Harry Potter kenne ich seit ich sieben bin!“, unterbrach Matteo ihn wirsch. „Das ist keine neue Geschichte!“
„Harry Potter? Nein, hier geht es nicht um Harry Potter, sondern um Gerry Schotter! Den kennst du bestimmt nicht!“, rief Ben im Brustton der Überzeugung.
„Gerry Schotter? Ich bin doch nicht doof! Bestimmt heißen seine Freunde Hermine Granger und Ron Weasley…“ schimpfte Matteo.
„Gar nicht!“, bestritt Ben. „Sie heißen Gesine Danger und Don Misley!“
„Papa! Nicht dein Ernst!“, rief Matteo entrüstet und warf sich wütend im Bett auf die andere Seite.
Ben betrachtete schmunzelnd den Rücken seines Sohnes.
„Der Schnee begann langsam zu schmelzen.“, begann Ben leise lachend zu erzählen. „Die strahlende Wintersonne gewann langsam an Kraft und ließ den wolkenlosen blauen Himmel noch heller leuchten. Eine missmutige Gestalt stapfte durch die Schneefelder.“
Ein klein wenig begann sich Matteo zu seinem Vater zu drehen, tat aber immer noch desinteressiert und beleidigt.
„Die Gestalt war zwar in warme Kleider gehüllt, doch sein Schuhwerk war bereits seit vielen Kilometern durchnässt.“, sprach Ben einfach weiter. Bald würde Matteo seine starre Haltung aufgeben, sich umdrehen und gespannt zuhörend in seine Arme kuscheln. „Er wusste um die Aufgabe, die ihm bevorstand, und so stapfte er immer weiter. Sein Ziel war ein Häuschen, welches weit abseits aller Pfade stand. Dort wohnte eine Familie, welche zwei Söhne hatte. Der Älteste war der Liebling der Eltern und ein rechter Nichtsnutz. Er glaubte mit seinen fünfzehn Jahren, dass sein Lieblingsessen, gebratene Tauben, auf einem Baum wuchsen und jeder Zeit für ihn verfügbar wären. Und auch, dass seine Kleider sich über Nacht selbst reinigten, egal wie verschmutzt er sie am Vortag hinterließ. Derart verwöhnt und verzogen wurde er von seinen Eltern, dass man seinen richtigen Namen vergessen hatte und ihn nur noch Schätzchen rief.
Der Jüngere war im Gegensatz zu seinem Bruder ein schmächtiger Geselle, der sich den ganzen Tag um den Haushalt und die Wünsche seiner launigen Eltern kümmerte. Essen kochen, putzen, fegen, Feuerholz besorgen und derlei Dinge füllten des jüngeren Sohn Tage. Doch trotzdem wurde er weder von seinen Eltern noch seinem Bruder geachtet. Und so vergaß man im Laufe der Jahre auch seinen wahren Namen, denn aller Seiten nannte ihn nur Dummerjan.
Die Gestalt stand nun vor dem Haus und beobachtete, wie der Dummerjan die Veranda fegte und versuchte von dem Schnee zu befreien, welchen es vom Grundstück immer wieder dorthin wehte. Er kannte den wahren Namen des zwölfjährigen Knaben, doch ward es nicht seine Aufgabe ihm diesen zu nennen.
„He Junge,“, rief er dem Knaben zu. „wo ist dein Bruder, dieses Schätzchen?“
Der Knabe hielt in seiner Arbeit inne. „Guten Tag, mein Herr!“, begann er sogleich. „Mein Bruder pflegt zu ruhen. Das Frühstück liegt ihm schwer im Magen, so muss er nun schlafen.“
Der Fremde lachte leise auf. ‚Hat er sich seinen fetten Wanst wieder vollgeschlagen.‘, dachte er, doch laut sagte er sogleich: „Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Tag und danke dir für die Auskunft. Doch wenn dein Bruder nicht verfügbar ist, wo sind deine Eltern?“
„Diese ruhen ebenfalls. Mein Bruder klagte darüber, dass ihm kalt wäre im Bett und so wärmen meine Eltern ihn beim Schlafen.“
Diesmal lachte der Fremde laut auf. „Dann mein Junge, musst du mir helfen. Denn Eile tut Not.“
Der Junge schaute kurz zur Eingangstür und zu den Fenstern, welche in Richtung der Veranda wiesen, ganz so als wolle er prüfen, ob die Eltern oder der Bruder lauschten. Als er niemanden sah, von dem Schelte zu erwarten war, weil er nicht arbeitete, kam er die Verandastufen hinab. „Wie kann ich Euch helfen, mein Herr?“, fragte er, als er vor dem Fremden stand.
„Ein Drache zieht durch die Lande und verwüstet alles, auf was er trifft.“, antwortete der Fremde sofort. „Du musst ihn mit mir bekämpfen.“
„Ich, mein Herr?“, fragte der Knabe ungläubig. „Wie sollte ich, der Dummerjan, Euch helfen können?“
„Als erstes einmal nennen wir dich anders! Was hältst du davon dich einfach nur Jan zu nennen?“, der Fremde sprach einfach weiter, ohne die Antwort des Jungen abzuwarten. „Und dann nimmst du deinen Besen und kommst mit mir mit. Der Besen kann eine kräftige Waffe sein, wenn man damit richtig umzugehen weiß. Und wenn ich mir so die Veranda anschaue, weißt du das. Unterwegs zeige ich dir die Kampftechniken, die du für den Drachen brauchen wirst. Hilfst du mir nicht, wird das Ungeheuer in fünf Tagen deine Heimat erreichen und in sechs Tagen dein Heim zerstört haben.“
Der Knabe ließ sich die Worte des Fremden durch den Kopf gehen.“
Matteo hatte sich unterdessen vollständig umgedreht und lag in die Arme seines Vaters gekuschelt. Seine Augenlider sanken bereits langsam hinab, doch er zwang sich nicht einzuschlafen. Immerhin wollte er wissen, ob Jan mitging!
„Er ging wieder auf die Veranda, nahm dort seinen abgestellten Besen und meinte: „Ja, mein Herr, der Name Jan gefällt mir.“
Der Fremde schmunzelte nur kurz und schritt dann mit dem Jungen ordentlich schnell über Stock und Stein, um den Drachen zu suchen.
Zwei lange Tage stapften sie nebeneinander durch den tauenden Schnee.
Der Fremde unterrichtete Jan darin, wie er den Besen im Kampf schwingen und auch, wie er ohne Besen kämpfen konnte. Während der Übungen murmelte der Fremde immer wieder Worte, in einer Sprache, die Jan zwar nie zuvor gehört hatte, jedoch erstaunlicherweise verstand.
Als Jan diese Worte bei seinen Übungen dann selbst sprach, glaubte er, dass seine Schläge kraftvoller und seine Hiebe zielgenauer wurden. Nur was es mit „Besen, Besen, flieg hinauf.“ und „Besen, Besen flieg hinab.“ auf sich hatte, das konnte Jan nicht nachvollziehen. Auch gab es zwei Worte, welche der Fremde immer sagte, deren Übersetzung kannte er nicht.
Am späten Vormittag des dritten Tages erreichten die beiden Suchenden dann einen grausigen Ort.
Die Erde, die Bäume, die Wiese, alles war verbrannt. Von ehemaligen Häusern standen nur noch rußgeschwärzte Skelette. Kein Laut war zu vernehmen, ganz so als ob jegliches Leben, jeglicher Frohsinn erloschen wäre. Selbst der Wind streifte lautlos, aber heftig, über die zerstörte Landschaft. Keine Schneeflocke, kein Grashalm, keine Blume waren an diesem tiefschwarzen Flecken zu finden.
Je weiter die zwei Suchenden durch diese Finsternis schritten, desto erschöpfter wurden sie. Der Fremde hörte auf zu sprechen, ganz so als wollte er die Stille nicht gegen sich aufbringen und Jan wagte es nicht, einen Laut von sich zu geben.
An dem verbrannten Stamm eines vormals riesigen Baumes hielt der Fremde inne.
„Wir werden für den bevorstehenden Kampf Kraft benötigen.“, sprach er leise zu Jan. „Lass uns hier rasten und ein wenig schlafen.“
Der Junge tat, wie ihm geheißen. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich an den verkohlten Stamm. Und während Jan darüber grübelte, was dies wohl einst für ein Baum gewesen war, schlief er ein. In seinen Träumen saß Jan unter einer mächtigen Eiche, deren dichtes Laubwerk ihn vor der starken Sonneneinstrahlung des klaren Hochsommertages schützte. Genau hier sprach er mit zwei anderen jungen Menschen. Sie scherzten und lachten und nannten ihn bei seinem wahren Namen, sie nannten ihn…
„Komm Junge, wir müssen weiter.“, unterbrach der Fremde Jans Traum abrupt.
Jan wischte sich vorsichtig den Schlaf aus den Augen.
Der Tag schien sich bereits dem Ende zuzuneigen.
„Ja, mein Herr.“, flüsterte der Knabe leise und sprang kraftvoll, gestärkt von seinem Nickerchen, auf.
Die beiden Suchenden liefen nur wenige Minuten, bis sie ein in allen möglichen Farben schimmernder, riesiger Drachenleib regelrecht blendete.
Der Kontrast zwischen dem dunkelschwarzen, zerstörten Land und der Farbenpracht des Ungeheuers hätte nicht größer sein können.
Für den Bruchteil einer Sekunde grübelte der Knabe, wie etwas so Schönes so zerstörerisch sein konnte.“
Ben merkte an Matteos gleichmäßigen ruhigen Atemzügen, dass dieser gerade in sein eigenes Traumland hinabgeglitten war. Vorsichtig zog er seinen Arm unter dem Kopf seines Jungen hervor, deckte ihn sorgsam zu und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.
An der Tür angelangt drückte er fast lautlos die Klinke herunter und wollte gerade die Tür aufziehen, als er Matteos leise Stimme vernahm.
„Papa, wie geht es weiter?“
Aufseufzend schloss Ben die Tür wieder und setzte sich zurück aufs Bett.
„Wo war ich gleich?“, begann der Vater mit leiser Stimme weiterzusprechen. „Ach ja: ‚Wie konnte etwas so Schönes so zerstörerisch sein!‘, dachte Jan.
Im selben Augenblick bemerkte der Knabe, wie ein anderes Kind um den Drachen herumschwirrte. Der Drache versuchte es mit seinem Feuerstrahl zu treffen, aber das Kind wendete so schnell in der Luft, dass
der Drache es immer verfehlte.
Das Kind saß auf einem Besen und flog
durch die Luft!
Jetzt verstand Jan die Worte des
Fremden!
Er setzte sich auf den Besen und
flüsterte: „Besen, Besen, flieg hinauf.“.
Sofort erhoben sich beide und
sausten durch die Lüfte. Instinktiv
wusste Jan den Besen zu lenken,
gerade so, als hätte er sein Leben nichts Anderes getan.
Der Drache gewahrte den neuen Angreifer sofort.
„So, so, noch so ein Wichtlein!“, spottete er sofort. „Ein Dummerjan, wie mich gar deucht!“
„Ich bin kein Dummerjan!“, rief der Knabe sogleich. Aus dem Augenwinkel sah er, dass das andere Kind auf dem Besen ein Mädchen war, ungefähr in seinem Alter. Sie murmelte Worte in derselben Sprache, wie der Fremde und der Knabe begann sie mit ihr zu wiederholen.
„Licht werde, wo Licht sein soll. Licht werde, wo Licht sein soll.“
Zufrieden besah sich der Fremde die Entwicklung des Geschehens. Seine Arbeit ward nun getan. Endlich konnte er sich trockenes Schuhwerk besorgen!
Die Besen mit den Kindern tanzten um den Kopf des Drachens, als sich noch ein dritter Besen erhob, auf welchem ein weiterer Junge saß.
Zu dritt riefen sie die Worte, von Mal zu Mal lauter werdend, bis sie sie förmlich herausschrien.
„Licht werde, wo Licht sein soll. Licht werde, wo Licht sein soll.“
Der Drache krümmte sich und spie weiter Feuer. Letztlich traf er den Besen des Mädchens, welche sich gerade noch rechtzeitig mit einem beherzten Sprung in Sicherheit bringen konnte. Genauso erging es wenig später dem anderen Jungen.
So blieb Jan allein und mit all seiner Kraft rief er die Worte ein letztes Mal.
Nachdem die Worte verklungen waren, durchzog ein gleisend heller Blitz, welcher aus Jans Stirn geschossen kam, das karge Land und teilte den Drachen in zwei Teile.
Der Knabe senkte seinen Besen zu den anderen beiden. Diese tanzten vor Freude, dass sie das Ungeheuer gestoppt hatten.
Und als sie den Knaben sahen, sprachen sie zeitgleich auf ihn ein.
„Du bist der Beste!“
„So ein Held!“
Der Knabe wehrte bescheiden und stillschweigend ab.
„Wie heißt du eigentlich?“, wollte etwas später der andere Junge wissen.
Und nun verstand der Knabe, der Dummerjan genannt wurde, auch die letzten Worte des Fremden.
„Ich heiße Gerry Schotter.“, sagte er leise. Und ein Blitz flackerte auf seiner Stirn.“
Matteo war bereits wieder kurz vorm Einschlafen.
Lächelnd kuschelte er sich in sein Kissen und murmelte: „Gerry Schotter und Don und Gesine.“