Greta

„Ich habe es! Keiner wird mir glauben. Sie werden mich auslachen, verspotten, verhöhnen, aber ich habe es!“ Greta sprang aufgeregt vor ihrem Mann hin und her. In ihrer Hand schwenkte sie eine ihrer schmalen Labormappen. „Oh mein Gott, nein, er versteht mich ja nicht. Wie könnte er auch?“ Ihr anfängliches Kichern schwoll zu einem herzhaften Lachen an, der ihren ganzen Körper ergriff.
Andre sah seine Frau erschüttert an. Was plapperte sie da? Sie, die fast fanatische Religiöse, glaubte plötzlich nicht mehr an das Allerheiligste und lachte auch noch wie eine hysterische Irre.
„Ich… ha… be… es… den… ul… ti… den ulti… mat… den ulti… mativen Beweis!“ völlig außer Atem vor Lachen und ihren, an einen Schamanentanz erinnernden, Bewegungen setzte sie sich neben ihren Mann. Erwartungsvoll auf seine Reaktion schaute sie ihn an.
„Was für einen Beweis? Was ist nur in dich gefahren?“ begann Andre.
„Oh Liebling! Ich bin fertig. Nie wieder Überstunden wegen dem Job. Wenn die Welt das hier erfährt, dann werde ich entweder zu einer absoluten Koryphäe auf meinem Gebiet oder man lässt mich nie wieder in ein Labor!“ mit freudig zitternden Händen hielt sie ihrem Mann ihre Forschungsergebnisse unter die Nase. „Lies und dann werde ich dir alles, was du eventuell nicht verstehst, erklären!“
Seufzend nahm Andre die Mappe. ‚Warum kann sie nicht Schriftstellerin sein, da würde ich eher etwas begreifen. Sie dürfte sogar Schnulzen…‘ Aber er wusste, sie würde keine Ruhe geben, bis er sich nicht auch die letzte Eintragung genauestens durchgelesen hatte.
Die erste Seite benannte normalerweise das Thema und den Wissenschaftler, der diese Dissertation verfasst hatte, doch diesmal stand nur, quer über die ganze Seite, ‚Wo ist Gott?‘.
Seine linke Augenbraue fragend erhoben sah Andre seine Frau an.
„Lies und dann reden wir.“
Die folgende Seite begann nochmals mit der Frage: Wo ist Gott? und dann kam der Name seiner Frau. Erstaunt stellte er fest, dass sie diesmal eine Aufsatzform gewählt hatte, die von ihren sonstigen Arbeiten völlig abwich. Sie erzählte eine Geschichte über Viren. Sie nannte sie Weiße, Braune, Gelbe oder Rote. Diese Krankheitserreger schienen ein lebenswichtiges Organ befallen zu haben. Am Anfang war alles strikt aufgeteilt. Jeder Virus durfte nur einen ganz speziellen Teil des Organs befallen und zu einem geringen Teil ausbeuten, zur Ernährung benutzen. So lebte dieses scheinbar im Gleichgewicht. Dann gab es eine ungeheure Expansion der Viren und das Organ wehrte sich mit kleineren Aktionen. Es erschütterte seinen Mantel, spie Bruchstücke seiner inneren Flüssigkeit aus oder brachte die äußere, teilweise auf dem Mantel befindliche, Flüssigkeit in Bewegung. Dadurch starben viele Viren und es hätte alles wieder wie früher sein können, doch die Viren begannen nach Abwehrmöglichkeiten zu suchen, gleich den Grippeviren, die immer neue Formen annahmen und gegen Penizillin resistent wurden. Im Zuge dieser Weiterentwicklung begannen sich die Viren auf dem ganzen Organ zu vermischen und selbst einst entlegene Bereiche zu besiedeln. Sie wurden schneller und begannen ihrerseits das Organ immer stärker zu schädigen, so das sie, gleich einem Krebsgeschwür, ihren Wirt an den Rand des Todes trieben. Das Organ begann sich immer heftiger zu wehren, es schickte seinerseits Bakterien und andere Krankheitserreger als Abwehrstoffe. Doch die Viren schienen stärker. Sie versuchten sogar zu anderen Organen zu gelangen, um mehr Nahrung zu finden. Das eigenartigste an den Viren war aber, dass sie, seitdem sie sich begonnen hatten zu vermischen, auch gegeneinander kämpften. Die Geschichte der Viren endete abrupt. Es kam weder zu einer Katastrophe noch zu einem Happyend.
Auf der folgenden Seite war ein Artikel aufgeklebt wurden. Im Großen und Ganzen war dieser für den Laien verständlich verfasst. Es ging um einen Metamenschen und die Entwicklung der Menschheit im Allgemeinen dazu. Der Wissenschaftler stellte die gewagte These auf, dass wir Menschen eines Tages dank unserer, noch nicht einmal im Ansatz angewendeten, Psi – Kräfte zu einem geistigen Wesen verschmelzen werden. Es folgten Berichte und Forschungsergebnisse bisheriger Tests und Aussichtsprognosen auf die folgenden Jahrtausende.
Bis jetzt konnte Andre folgen. Er blickte kurz zu Greta auf. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
Dann kam der typische Greta-Bericht. Voll gestopft mit Analysen, Diagrammen, Auswertungen und jeglichen anderen Möglichkeiten, mit dem Forscher den „normalen“ Menschen vollständig zu verwirren pflegten. Bedauernd kämpfte sich Andre durch diese Seiten und wie befürchtet, verstand er nichts.
„Überblätter den wissenschaftlichen Textteil! Lies den letzten Abschnitt!“ rief Greta ihrem Mann zu, und wie er nach einem kurzen Blick erkannte, war sie schon vor einiger Zeit aus dem Zimmer gegangen. Dampf stieg unter der Badezimmertür hervor, also war sie mindestens eine halbe Stunde dort drinnen.
Aufatmend blätterte Andre weiter.
Der letzte Teil war wieder eine Art Geschichte. Es ging diesmal um das Weltall, darum das kein Beweis über dessen Endlichkeit oder gar dessen Unendlichkeit existierte. Dann kam ein neuer Absatz und Greta stellte die These auf, wie sich z.B. ein rotes Blutkörperchen im Menschen vorkommen musste. Wenn es die Möglichkeit des Denkens, was ja weithin als eines der Merkmale für Intelligenz galt, besaß, was würde es über den Menschen denken? Wie würde der Mensch sich für dieses kleine, aber ungeheuer wichtige, Geschöpf darstellen? Erschien er ihm dann nicht auch unendlich? Und wenn das rote Blutkörperchen nun versuchen würde mit dem Menschen zu kommunizieren, was würde geschehen? Würde einer von beiden den anderen verstehen? Und wenn dieses Blutkörperchen den Menschen verstehen würde, wie würde es auf seine Artgenossen wirken, wenn es davon berichtet…
„Du bist verrückt!“ rief er plötzlich seiner Frau lachend zu. „Du bist brillant und trotzdem total verrückt!“
„Du hast es also verstanden.“ stellte Greta schmunzelnd fest, als sie aus dem Badezimmer kam. Erwartungsvoll sah sie zu ihrem Mann.
„Die Erde ist also ein Organ Gottes und ich bin ein rotes Blutkörperchen…“

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