Ich

Oh Gott hatte ich einen Kater. Mein Schädel dröhnte und mir war speiübel.
Verdammt, wir hatten uns gestern Abend, oder so, in den Weinkeller meines kürzlich verstorbenen Vaters verkrochen und Flasche um Flasche leer getrunken. Kann auch vorgestern oder vor eine Woche gewesen sein. Jedenfalls war ich irgendwann in die Küche gegangen und habe uns etwas zu essen geholt.
Naja, wenn ich mir die Überreste so anschaute, waren wir wohl eher eine Woche hier gewesen.
Aber wir hatten auch geduscht, denn Bilder von uns überschwemmten mein nüchtern werdendes Gehirn.
Ich drehte mich zu dem hinter mir liegenden Körper um.
Jupp, mein bester Freund lag neben mir. Nackt wie der liebe Herrgott ihn geschaffen hatte und sein Wahnsinnskörper war mit beachtlichen Kratzspuren meiner Nägel versehen.
Verdammt, verdammt, verdammt.
Trauer und obsessiver Alkoholgenuss führten zu so einem Blödsinn!
Ich taumelte zur Treppe und stieß gegen irgendetwas.
Scheiße, warum war das Licht aus?
Bei Anton brannten Kerzen, aber hier vorn müssten eigentlich die Deckenlampen brennen.
Moment, ich hatte meine Armbanduhr noch um, so hätte ich wenigstens eine Zeit und ein Datum.
Was? Seit wann können Digitaluhren einfach ausgehen?
Völlig egal, ich brauchte was gegen diese Scheißkopfschmerzen.

Ich habe so oft davon geträumt, morgens aufzuwachen in einer Welt, in welcher nichts mehr so ist wie es am Tag zuvor war.
Wie dumm ich doch war.

Fast mit Wehmut denke ich an diesen Morgen zurück.
Unterdessen war die Welt, wie ich sie kannte, verschwunden.
Anton hatte es Armageddon genannt. Ich nenne es eher unsere Ragnarök, unsere Götterdämmerung, aber ich glaube Anton ist nicht so bewandert in altnordischen Mythen.
Doch der Reihe nach. Ich schreibe diese Geschichte für die Zukunft, für unsere Kinder oder für die, die uns einst finden werden.
Nach jenem verkatertem Erwachen hatten wir festgestellt, dass kein elektrisches Gerät im Haus meines Vaters mehr funktionierte und wir versuchten in die Stadt zu fahren. Wir lebten in einer Stadt mit etwas mehr als 550.000 Einwohnern und hofften, in den Straßen ein paar Antworten zu finden. Doch die eigenartigen Umstände wurden immer verwirrender.
Kein Auto funktionierte, und wir fanden viele, welche teils mitten auf der Straße und mit offenen Türen standen. Die Schlüssel steckten, doch wir bekamen sie nicht zum Laufen, ja nicht einmal ein Klicken war zu hören.
Wir passierten Dutzende von Reklametafeln. Nicht eine brannte oder bewegte sich. Wir liefen an hunderten Häusern vorbei. Nirgendwo brannte ein Licht. In einer der beliebtesten Einkaufsstraßen war weder ein Ton zu hören, noch ein Licht zu sehen und nach dem Stand der Sonne musste es mindestens um 12 Uhr mittags sein.
Irgendwann übermannte uns der Hunger und wir gingen in eine Bäckerei. Das Brot war steinhart, mindestens 3 Tage alt. Kuchen und Torten begannen bereits zu verschimmeln.
Zwei Läden weiter trafen wir nach Stunden den ersten Menschen. Es war Gabriel, ein 55jähriger Mann.
Zuerst hatte er Angst vor uns, doch dann umarmte er uns herzlich und brach in bittere Tränen aus.
Er erzählte, dass es vor 5 Nächten passiert wäre, aber er wisse nicht was. Nach einem Streit mit seiner Frau hatte er sich in seinem Hobbykeller eingeschlossen und werkelte an verschiedenen Dingen herum. Irgendwann legte er sich im Keller schlafen und als er am nächsten Morgen erwachte, waren alle weg. Seine Frau, seine Kinder, seine Nachbarn.
Wir waren seit 4 Tagen die ersten Menschen, die er getroffen hat.
Anton begann Gabriel mit Fragen zu bombardieren. Irgendwann reichte es mir und ich bat die beiden zu schweigen.
Typisch Mann redeten die beiden natürlich weiter. Daher erhob ich meine Stimme und gebot beiden zu schweigen.
Ich glaube, dies war der Augenblick, in welchem ich zum Anführer wurde, denn beide Männer waren augenblicklich still.
Wir mussten nach weiteren Überlebenden suchen und wir mussten herausfinden, was passiert war. Doch am allerwichtigsten war es, einen sicheren Unterschlupf zu finden und Nahrung.
Da sowohl ich und Anton als auch Gabriel in einem Keller geschlafen hatten, als was auch immer passiert war, musste es eine unterirdische Unterkunft werden. Daher schlug ich vor, dass wir uns zu den alten Bunkeranlagen am Rande des Stadtzentrums begaben. Innerhalb der nächsten Tage und Wochen begannen wir aus diesem Museum unser neues Zuhause zu bauen. Wir gingen Tag für Tag durch die Straßen und trafen auf immer mehr Überlebende. Jeder Gerettete war ein Hoffnungsschimmer, doch ergaben sich durch jeden einzelnen auch neue Probleme. Bald waren wir über 50 Leute. Die galt es unterzubringen und zu versorgen.
Ich begann jeden Tag damit, Teams zusammenzustellen. Ein Team grub die zugeschütteten Räume des Bunkers aus, um weitere Wohn- und Lagerräume zu schaffen. Das zweite Team zog durch die Straßen und suchte nach weiteren Überlebenden. Das dritte Team durchsuchte Wohnungen nach nützlichen Dingen, wie Bettzeug, Hausrat und Hygieneartikeln. Das vierte Team suchte Apotheken und nahm alle Medikamente und Gerätschaften mit. Das fünfte Team folgte mir in die Lebensmittelläden und Drogerien. Wir nahmen alles mit, was verwertbar schien, denn sogar Parfüm konnten wir aufgrund des Alkoholgehalts zur Desinfektion kleinerer Wunden verwenden.
Das sechste Team, als dessen Anführer ich Gabriel bestimmt hatte, sollte heute Baumaterial und Glas organisieren. Unser größtes Problem würde im Laufe der Zeit die Beschaffung von genügend Nahrung und Wasser darstellen.
Wasser gewannen wir momentan vom Regen und konnten es dank diverser Reinigungstabletten und Trinkwassersprudler für alle trinkbar machen. Doch uns gingen langsam auch die haltbarsten Brotsorten zur Neige, wie das Brot in Dosen, welche wir in einem Army-Shop gefunden hatten. Noch verfügten wir über Backmischungen, die wir in einem alten Holzofen backen konnten. Aber wir würden Getreide und Gemüse anbauen müssen, wenn wir uns weiter verpflegen wollten. Gabriel und ein paar Männer wollten eine Art Gewächshaus bauen, so dass wir zu jeder Jahreszeit Getreide und Gemüse bekamen.
So ging es immer weiter und letztlich wurden aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate.
Wir fanden fast täglich Überlebende, manche fast verhungert, andere wiederum selbst zu Gruppen zusammengeschlossen. Doch fast alle folgten mir, Gabriel und Anton, ohne größere Diskussionen.
Wir begannen überall in der Stadt neue Bunkeranlagen zu bauen und suchten auch außerhalb der Stadt, in einem immer größer werdenden Radius, nach sicheren Verstecken. So konnten die brachliegenden Felder um die Stadt herum bewirtschaftet werden.

Die Bevölkerungszahl unserer Stadt beträgt momentan 872 Menschen.
Ich selbst werde in den nächsten Stunden für Nummer 873 sorgen, das einzig Gute, was von dieser unglückseligen Nacht geblieben ist.
Bis zum heutigen Tag funktionierte kein technisches Gerät, welches elektrisch betrieben wird, ebenso kein Auto, auch keine Dieselmaschinen. Wir vermuten eine Art EMP-Feld dahinter, denn wir können immer noch keinen Strom erzeugen.
Wir sind auch weiterhin abgeschnitten von anderen Ortschaften und wissen nicht, wie es dort aussieht.
Was wir immerhin feststellen konnten, ist die Gemeinsamkeit der Hiergebliebenen. Wir vermuten auch, dass dies der Grund ist, warum wir noch da sind.
Jeder von uns ist auf irgendeine Art und Weise krank oder geschädigt. Ich selbst z.B. habe nach einem Autounfall zwei Metallplatten in meine rechte Schulter bekommen, Anton fehlen aufgrund desselben Unfalls mehrere Zehen, Gabriel hat von Geburt an nur eine Niere und so geht es bei allen anderen Übriggebliebenen weiter.
Die Entdeckung dieser Tatsache kostete allerdings uns drei Babys. Erin, Petra und Yvi waren hochschwanger, als wir sie fanden. Manchmal direkt nach der Entbindung, manchmal später verschwanden die kerngesunden Babys, wie all die anderen Menschen zuvor. Doch keiner sah wohin oder durch wen. Tatsache ist, alle drei Frauen waren mit den Babys in der Nacht draußen und hatten sie kurz aus den Augen gelassen. Bei Erin waren wir noch ahnungslos. Bis zum Tag der Entbindung war keiner mehr, auch im Dunklen nicht, verschwunden und wir wurden leichtsinnig. Petra entband im Freien in der Nacht und bei Yvi`s kleinem Sohn war es eher eine Art Lagerkoller, der sie nachts ins Freie rennen ließ. Yvi wurde Stunden später bewusstlos gefunden, doch ihr Sohn war und blieb verschwunden.

Was mich nun zurück zu mir selbst bringt. Wir wissen, dass eine Behinderung oder eine schwerere Verletzung ein Verschwinden verhindert. Von der Welt der Anderen wir wissen jedoch nichts.
Waren sie zusammen? Waren sie glücklich? Lebten sie überhaupt noch?
Das einzige was ich weiß, dass mein Baby bei mir leben soll.
Doch was werde ich als Mutter bereit sein, meinem perfekten kleinen Baby dafür anzutun?

Ich habe so oft davon geträumt, morgens aufzuwachen in einer Welt, in welcher nichts mehr so ist wie es am Tag zuvor war.
Wie dumm ich doch war.

Ein Gedanke zu „Ich

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