Der Tag nach der Hochzeit war vergangen und geschehen war nichts.
Lady Sherly glaubte nicht daran, dass Lady M. leere Drohungen ausstieß. Sie informierte letztlich doch Lord Anthony Gadwington über diese neuerliche Bedrohung. Und der Lord beauftragte sofort Personenschutz für sie.
Die beiden kamen allerdings überein, dass sie Lord Miles Saundersburgh und Lady Gretchen Gadwington nichts von dem zweiten Brief von Lady M. berichten würden. Die beiden Verlobten planten ihre Hochzeit und hatten sich genügend mit den jeweils angehenden Schwiegermüttern herumzuschlagen.
Lady Sherly hatte Jack und Melissa eine lange Hochzeitsreise auf das Festland schenken wollen. Diese jedoch hatten gebeten, auf das Holmesche Landgut nach Wales reisen zu dürfen.
Wenn Isabell, Jacks verwitwete Schwägerin, darnieder kam, wollten die beiden ihr die ersten Wochen zur Hand gehen. Natürlich waren auch die Frischvermählten nicht eingeweiht, sonst wären sie um jeden Preis in London geblieben.
Gewiss liebte Lady Sherly das Leben und ein wenig fürchtete sie sich vor Lady M.‘s Rache. Jedoch war ihr das Glück ihrer Freunde wichtiger als alles andere. Sie war ja allein, nur ein Blaustrumpf.
Ihre Freunde hatten einen Menschen, den sie beschützen und behüten mussten.
Außer Lord Anthony, dieser war auch allein…
Seit wann zählte sie Lord Anthony eigentlich zu ihren Freunden?
Sei es drum.
Heute würde sie mit Lady Gretchen zur Schneiderin Gisela gehen und ihr das schönste Brautkleid von allen herstellen lassen!
Dazu würden sie zu Ede & Ravenscroft in der Chancery Lane fahren.
Das Damengeschäft befand sich nur einen Eingang neben dem wundervollen neogotischen roten Backsteinhaus, welches das Herrengeschäft beherbergte.
Jeder von Rang und Namen in London ließ bei Ede & Ravenscroft schneidern. Seit 1689 trugen alle englischen Monarchen die traumhaften Roben der Schneiderei.
Wenn man nur überlegte, dass die Liebe von Joseph Ede und Rosanna Ravenscroft solch ein Imperium geschaffen hatten! Selbst Oscar Wilde hätte keine schönere Liebesgeschichte schreiben können!
Oh, wie Lady Sherly auf Post von ihrem geliebten Schriftsteller hoffte. Dieser begnadete Wortakrobat, welcher derart leicht Prosa mit schlüpfrigen Metaphern verknüpfen konnte. Ein Meister seines Faches und in Lady Sherlys Augen zutiefst unterschätzt.
Oscar Wilde hatte ihr ein neues Manuskript in Aussicht gestellt, er wollte es „The Importance of Being Earnest“ nennen.
Lady Sherly fieberte regelrecht dem Tag entgegen, an welchem sie wieder Spitzfindigkeiten und Wortwitze mit Mr. Wilde austauschen konnte. Der gemeine Adel war für derlei Finessen entweder zu blasiert oder zu borniert.
Lady Sherly hegte einen tiefen Glauben zu Gott und vertraute sich diesem oftmals im Zwiegespräch an. Sie verstand jedoch nicht, wie weltliche Vertreter Gottes Geschöpfe ablehnen konnten, wenn sie dem vermeintlich falschen Geschlecht zugewandt waren. Sie selbst glaubte viel mehr, dass Gott jedes Geschöpf aus einem tieferen Sinn geschaffen und mit genau den Fähigkeiten und Vorlieben ausgestattet hatte, welche in dieser Welt benötigt wurden.
Ihre Amme hatte sie einst den Respekt vor jedem Wesen gelehrt. Und ihr Hauslehrer Dr. Michael gab ihr zu verstehen, dass Ethnie, Religionszugehörigkeit, Geschlecht und sexuelle Orientierung keinerlei Diskussionsgrundlage wären. Man solle sich nur immer bewusst machen, einem selbst gegenüber befindet sich ein Mensch.
Natürlich durfte ihre Frau Mutter über solch fortschrittliche Gedanken nichts erfahren! Doch zur Zufriedenheit aller beschränkten sich die Besuche von Lady Eugenia Holmes im Klassenraum lediglich auf die Zeiten des Kunstunterrichtes.
„Lady Gretchen Gadwington bittet darum, Euch Ihre Aufwartung machen zu dürfen.“, unterbrach die monotone Stimme ihres Dieners Edward Lady Sherlys springende Gedanken.
So begaben sich die Damen Holmes und Gadwington wenig später in die Chancery Lane. Begleitet wurden sie von zwei Zofen, dem Kutscher und zwei Dienern. Und wie immer war Lady Gretchen besonders von der Front aus Glas und Messing des Damengeschäftes von Ede & Ravenscroft angetan.
Lord Gadwington und Lord Saundersburgh stapften wütend durch Lady Sherlys Salon.
„Es waren sechs Spitzel, lieber Lord Gadwington.“, erklärte die junge Lady Holmes gerade dem aufgebrachten Herren. „Ihr wart doch zugegen.“
Lord Anthony Gadwington wusste nicht, ob er Lady Sherly übers Knie legen, schütteln oder beglückwünschen sollte.
Er hatte die beiden Damen selbstverständlich überwacht, verkleidet als einfacher Bursche, der ein Pferdegespann bewachte. Und dass Madame Blaustrumpf-Naseweis ihn erkannt hatte, bewies selbstverständlich ihr detektivisches Geschick. Jedoch hatte er selbst nur drei weitere Agenten zu Lady Sherlys Schutz mit vor Ort genommen. Die beiden weiteren Männer waren als Bettler und Marktfrau verkleidet gewesen, die gehörten aber nicht zum Yard!
Ganz so, als wären Lady Sherly und Lady Gretchen nicht zugegen, begannen Lord Anthony und Lord Miles eine Diskussion über die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der beiden Damen.
Sie wogen jedes Für und Wider ab, beratschlagten ein Verbringen der Damen auf diverse Landsitze oder in ein durch das Scotland Yard gesicherte Anwesen. Ein, zwei harsche Sätze von Lord Miles waren ebenfalls zu vernehmen, dass man ihn und Lady Gretchen über die drohende Gefahr im Dunkeln gelassen hatte.
Irgendwann platzte Lady Sherly dann doch der Kragen und sie meinte, keiner würde ihr irgendetwas vorschreiben.
„Lady Sherly,“, mit ruhiger, gelassener Stimme antwortete Lord Anthony. „Wir vom Scotland Yard waren nur zu viert vor Ort. Das bedeutet, die anderen beiden Spitzel können nur zu Lady M. gehören. Ihr habt keinerlei Mitspracherecht bei den Sicherheitsvorkehrungen für Euch. Oder möchtet Ihr, dass Eure Frau Mutter den Verlust eines weiteren Kindes zu beklagen hat?“
Die Eiseskälte, welche vom Blick von Lord Gadwington ausging, brachte Lady Sherly zum Verstummen.
Letztlich einigten sich die Herren, dass Jack aus Wales zurückgeholt und beide Damen nur noch von absolut zuverlässigem Personal bewacht werden sollte.
„Jack, wir fahren nur in die Chancery Lane zu Ede & Ravenscroft! Da genügen die vier Agenten und du!“, versuchte Lady Sherly einige Wochen später ihren Freund und Butler zu überreden, Lady Gretchen und sie zu begleiten. Sie selbst wollte zu The Chancery Lane Safe Deposit. In deren Silberwarenabteilung konnte sie ein, zwei Kostbarkeiten für Lady Gretchen und Lord Miles als Brautgeschenk zu deren Vermählung auswählen.
Jack war immer noch etwas verschnupft, dass Lady Sherly ihn hatte in die Flitterwochen fahren lassen, ohne etwas über die erneute Bedrohung durch Lady M. zu berichten. So schnell würde er sich vermutlich zu keinem Ausflug ohne dieses leidige Sicherheitspersonal überreden lassen.
Letztlich einigten sich Lady Holmes und Jack auf die beiden Zofen, vier Agenten, zwei Diener, den Kutscher und Jack als Begleitung. Außerdem durften die Damen nur in der geschlossenen Kutsche reisen. Und dass ausgerechnet an einem Septembertag, welcher die üblichen Temperaturen von um die 20 Grad Celsius bei weitem überschritt!
Letztlich folgten Lady Gretchen ihre Zofe, zwei Agenten, ein Diener und der Kutscher.
Immerhin ging es um die letzte Anprobe für das atemberaubende Brautkleid von Lady Gretchen.
Die verbliebene Entourage folgte Lady Sherly zu The Chancery Lane Safe Deposit.
„Siehst du Jack, es ist alles gut gegangen. Du hast dir umsonst Sorgen gemacht!“, versuchte Lady Sherly ein wenig später die Stimmung aufzulockern. Sie waren kurz vor der Ladentür von Ede & Ravenscroft, als Lady Sherly eine Bewegung im Augenwinkel gewahrte. Abrupt blieb sie stehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie einen Mann. Dieser hob seinen rechten Zeigefinger an seine Kehle und fuhr über dieselbe, ganz als wölle er sie aufschlitzen.
Sofort drängte Jack Lady Sherly in das Ladengeschäft von Ede & Ravenscroft.
„Es war eindeutig Detektiv Thompson.“, erklärte Lady Sherly dem herbeigerufenen Lord Gadwington in ihrem Salon.
„Nur noch Thompson, wir haben ihn aus dem Yard entfernt!“, knurrte der äußerst ungehaltene Lord Anthony.
Eine neue Bedrohung! Diesmal war sie nicht von Lady M.!
Lord Gadwington hatte Thompson nach dem Ermittlungsdesaster bei dem Überfall der Zofe Melissa und der Dienstmagd Sophia noch eine Chance gegeben. Thompson bewies leider erneut seine absolute Dummheit und vollkommene Unfähigkeit. So war Lord Anthony gezwungen gewesen, den ehemaligen Detektiv von seinem Dienst zu entbinden.
Die Verwünschungen, welche dieser Kretin dabei ausstieß, waren so niveaulos, dass sie sich Lord Anthony lieber nicht zurück ins Gedächtnis rief. Das meiste davon richtete sich gegen Lady Sherly. Thompson hatte sie als Hauptschuldige an seinem Unglück ausgemacht.
Heute war es nur noch eine Woche bis zur Hochzeit von Lady Gretchen und Lord Miles.
Lord Anthony hoffte, dass danach Lady Sherly wieder all ihre Energie und ihr detektivisches Geschick auf die Jagd von Lady M. richten konnte. Dieser Kriminellen musste unbedingt das Handwerk gelegt werden.
Natürlich würde der Lord es niemals offen zugeben, aber er traute lediglich Sherly oder Sherlock Holmes zu, diese weibliche Moriarty zu stellen und unschädlich zu machen.
Sherly, nicht Lady Sherly? Diesen Gedanken wollte Lord Anthony lieber nicht vertiefen!
Um Thompson würde er selbst sich kümmern!
Nach Rücksprache mit Jack und seinen Agenten ordnete er die weitere Verfahrensweise an und geleitete danach höchstselbst seine Schwester nach Hause.
„Weiß! Ernsthaft? Weiß?“, echauffierte sich Lady Eugenia Holmes gerade vor ihrer Tochter Lady Sherly Holmes. „Das haben wir Queen Victoria und diesem furchtbaren von Sachsen-Gotha zu verdanken! Von wegen: ich gebe nur mich in diese Ehe und keinerlei finanzielle Werte!“
Die junge Lady Holmes schaltete, ob dieser Tirade ihrer Frau Mama, ihre Ohren auf Durchzug. Sie genoss den Anblick ihrer besten Freundin Lady Gretchen, noch Gadwington. Diese schritt gerade in einer traumhaften weißen Seidenrobe, besetzt mit zartgewirkter Spitze, den Kirchgang am Arm ihres Vaters entlang. Lady Gretchen wirkte so zart und anmutig, so überirdisch schön in ihrem Brautkleid, das einem jeden Anwesenden der Atem stockte.
Melissa hatte der Braut eine kunstvolle, aber einfache Frisur gerichtet und kaum Schminke verwendet, so dass ein jeder die natürliche Schönheit der Braut bemerkte. Nun gut, außer vielleicht ihre Frau Mutter, die ältere Lady Holmes schimpfte immer noch.
Ganz nach dem von Queen Victoria eingeführten Brauch heiratete Lady Gretchen in Weiß. Und das nicht nur, weil dies ihren wundervollen Teint hervorhob. Nein, es sollte bedeuten: ich besitze nichts Kostbares, nur mich.
Als Lord Miles von der Farbwahl seiner Braut erfuhr, strahlte er vor Freude. Er meinte, es gäbe auch nichts Kostbareres als sein geliebtes Gretchen.
Lord Miles stand in einem feinen blauen Anzug vor dem Altar und sah mit leuchtendem Gesicht seiner Braut entgegen. Ein hervorragender Anblick, der junge Lord.
Ein, zwei Tränchen musste Lady Sherly sich dann während der Zeremonie doch aus den Augenwinkeln tupfen.
Die Liebe der Brautleute war so herzerwärmend, so berührend! Ach verflixt, neue Tränen stiegen Lady Sherly in die Augen.
Nach der Zeremonie wurde von Lord und Lady Miles Saundersburgh ein Ball gegeben, welcher bis tief in die Nacht reichte.
Diesmal fing allerdings nicht Lady Sherly den Brautstrauß, sondern irgendeine snobistische Großcousine 3. Grades von Lady Gretchen.
„Jack!“, Melissa war froh, ihren Ehemann gleich gefunden zu haben. Sie wollte Lady Sherly beim Ankleiden helfen, doch diese war verschwunden!
Das Bett war zerwühlt, ganz so, als habe die Lady darin geschlafen. Es fehlte außer dem Morgenrock und den Pantoffeln keinerlei Kleidung. Das hatte Melissa sofort geprüft.
Auch waren die Agenten, welche Lord Gadwington seit Wochen vor dem Haus postiert hatte, spurlos verschwunden. Nach längerem Suchen fand man sie leblos und mit durchgeschnittener Kehle in der hinteren Ecke des Parks, welcher das Holmsche Stadthaus umschloss.
Mit den schlimmsten Befürchtungen begaben sich Melissa und Jack gemeinsam zum Anwesen von Lord Anthony Gadwington.
Dort erfuhren sie von seinem völlig aufgelösten Adjutanten, dass auch dieser spurlos verschwunden war!
Nun blieben nur noch Lord und Lady Saundersburgh, um zu helfen!
Jack und Melissa trugen gerade ihr Anliegen vor, als Lady Eugenia Holmes um eine Audienz ersuchte. Lord Oswald Holmes begleitete seine Frau.
„Wo ist Euer Gartenhaus?“, wollte Lady Eugenia in einem fürchterlich herablassenden Ton wissen.
„Madame, und darf ich wissen, warum Euch ausgerechnet das interessiert?“, antwortete Lord Miles in ähnlichem Ton, wie sein Gast.
„Als ob Euch dies etwas anginge!“, antwortete Lady Holmes, keinerlei Höflichkeitsfloskeln beachtend.
„Eugenia.“, mahnte Lord Oswald leise seine Frau. Diese schien nun regelrecht in sich zusammenzusinken, bevor sie mit brechender Stimme erneut anhob zu sprechen. „Ich erhielt heute Nacht einen Brief und darin stand, dass meine Tochter Sherly entführt wurde und dass ich jede Stunde ein neues Detail zu Ihrem Verbleib erfahre.“ Lady Holmes holte tief Luft und beschrieb mit immer leiser werdender Stimme die zugesendeten Details. „…und in jedem Brief war eine Locke von ihrem Haar…“, damit brach die Stimme von Lady Eugenia vollends.
Lord Miles ließ keine weitere Sekunde vergehen. Er eilte sofort, gefolgt von Lord und Lady Holmes, Lady Gretchen sowie Jack und Melissa, zu seinem Gartenhaus.
Der Anblick, der sich beim Öffnen der verschlossenen Eingangstür bot, ließ alle Anwesenden in ihrer Bewegung erstarren.
Mitten im Raum lag eine quicklebendige Lady Sherly nackt und gefesselt auf dem ebenfalls quicklebendigen, nackten und gefesselten Lord Anthony. Außer das Lady Sherly einige Haarsträhnen fehlten und beide leicht unterkühlt waren, schien ihnen niemand ein weiteres Leid angetan zu haben.
Aus der Ferne war ein schrilles Frauenlachen zu hören.
Später erzählte Jack, er vermeinte eine ihm unbekannte Frau sagen gehört zu haben: „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!“.