Julian

Sie fühlte, wie die Tränen ihr die Seele verbrannten.
Doch sie konnte nicht mehr weinen. Das hatte sie viel zu oft getan in der letzten Zeit.
Sie war verzweifelt, sie wußte nicht, was sie machen sollte. Die Wunden waren noch zu neu, die Erinnerung war noch zu frisch.
Wie in Trance ging sie durch die Straßen. Ihr war es egal, wohin, nur fort, weit fort. Aber keine Entfernung war weit genug, kein Ort auf dieser Erde beschützte sie vor dem Schmerz. Was sie auch tat, wohin sie auch flüchtete, der Kummer, der Haß, das verlorene Glück würden ihr folgen. Nichts würde sie vor der Enttäuschung und dem zerbrochenen Herzen retten. Doch das war egal.
Alles war sinnlos. Ihr Leben, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft. Sie würde niemals wieder jemanden vertrauen können oder gar lieben. Wäre es nicht vielleicht besser alles …
Erschrocken blieb sie stehen. Sie war bei Rot über die Straße gegangen und der Fahrer des Wagens, der direkt neben ihr stand, hatte gerade noch bremsen können.
Bleich und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Fahrer an, der auf sie zukam.
Noch eben hatte sie daran gedacht ihr Leben …
„He, Lady, alles okay?“ eine sanfte, tiefe Stimme klang weit von ihr entfernt. „Haben Sie sich verletzt? He, Lady?!“
Ulrika hob den Kopf. „Entschuldigen Sie! Ich war in Gedanken …“ antwortete sie leise.
„Sie waren was? Sie waren in Gedanken?“ fragte der junge Mann Ulrika wütend. „Verdammt, ich hätte Sie fast überfahren.“
Julian sah wie das Mädchen zusammenzuckte. Er sah den traurigen Glanz in ihren Augen, die von Tränen gerötet waren.
„Kommen Sie.“ Er nahm Ulrika beim Arm und zog sie sanft zum Wagen. „Wir werden erst mal einen Kaffee auf den Schreck trinken.“
Als Ulrika versuchte sich zu wehren, sagte er: „Sehen Sie, wie Sie zittern. Sie haben bestimmt einen Schock.“
Wortlos ließ sich Ulrika zum Wagen führen.
Sie spürte weder, wie der Fremde den Gurt um sie legte, noch das ihr Tränen übers Gesicht rannen. Sie war tief in ihre Gedanken versunken. Es hatte sie sehr erschrocken, dass sie sich hatte töten wollen, ausgerechnet wegen ihm. Nur wegen ihm.
Irgendwann hielt der fremde Mann und führte sie in ein Café. Am Anfang antwortete sie ihm kaum, doch dann begann sie zu erzählen. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie vertraute diesem Julian, der ihr Leben sicherlich genauso plötzlich wieder verlassen würde, wie er aufgetaucht war.
Eigenartigerweise tat ihr ausgerechnet diese Tatsache leid.
Julian hörte zu. Er erfuhr, dass Ulrikas Freund sie betrogen und sie ihn dabei erwischt hatte. Er erfuhr alles über ihre Beziehung zu Michael. Wie sie sich kennengelernt hatten, der erste Kuß, die erste Nacht. Einfach alles …
Und Julian hörte zu. Ihn faszinierte dieses Mädchen. Er spürte ihren Schmerz, teilte ihr Leid. Er begann diesen Michael zu verachten. Er konnte diesen Kerl nicht verstehen, so ein Mädchen zu betrügen. Er, Julian, würde so etwas niemals tun.
Als er auf die Uhr schaute, merkte er, dass die Zeit verflogen war. Er brachte sie nach Haus. Bevor er ging, versprachen sie sich wieder zu sehen.
Ulrika war wieder allein. Nein, das stimmte nicht ganz. Julian war bei ihr. In ihren Gedanken, in ihrem verwirrten Herz.
Sie schloß die Augen und sah ihn. Sein verständnisvolles Lächeln, seine warmen, wissenden Augen. Auch er hatte schon diese Art von Schmerzen erlebt.
Ulrika schreckte hoch. Ein Geräusch lies sie ihre Augen öffnen. Dieses Geräusch war ihr nur allzu bekannt. Es war Michael. Sie kannte seinen leicht schleppenden Gang gut genug, um zu wissen, dass er es war.
„Liebling,“ rief er ihr zu, als sie die Treppen hoch rannte, „Liebling, es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass es passiert, es kam einfach über mich …“
Ulrika war schon kurz vor ihrer Wohnungstür, als Michael sie erreichte. Er drehte sie zu sich herum und begann sie zu schütteln, als er auf sie einredete.
„Es tut dir leid?!“, schrie sie ihn an. „Mir auch Michael, mir auch!“
Er sah sie fragend an. Bisher hatte er tun können, was er wollte. Er hatte sie immer nur benutzt. Und deswegen brauchte er sie, um sie auszunutzen, seine Freiheit zu genießen. Er ließ nicht zu, dass sie ein anderer bekam.
„Aber Ulrika, es war das erstemal …!“ Er schüttelte sie, und ihre Oberarme begannen unter seinem harten Griff zu schmerzen. Doch sie konnte sich nicht befreien.
„Laß mich los!“ schrie sie heiser. „Laß mich los!“
Mit einemmal war sie frei.
Es war Julian. Er hatte Michael am linken Arm gepackt und drehte diesen auf den Rücken.
„So sehen wir uns also wieder, Mister Michael Patrick!“ zischte er gefährlich leise. In seinen Augen stand Haß und Trauer.
„Tut mir leid, ich kenne Sie nicht, das muß eine Verwechslung sein …!“ stotterte Michael erschrocken. Er kannte Julian, er kannte ihn nur zu gut. Eine Zeitlang war er mit seiner Schwester zusammen gewesen, und als er ihrer überdrüssig geworden war, hatte er sie fallen lassen.
Janice versuchte sich zwei Tage später umzubringen, doch Julian fand sie noch rechtzeitig.
„Ulrika ist eine Freundin, also lassen Sie sie in Frieden, ist das klar!“ fuhr Julian fort.
„Ja, alles klar!“ antwortete Michael ängstlich. In der gepressten Stimme des Anderen schwang ein Ton mit, der ihm einfach nur Angst machte. Und als Julian ihn freiließ, rannte er wie um sein Leben.
Ulrika erfuhr die Geschichte um Janice und Michael, und sie verstand nicht mehr, wie sie jemals diesen Kerl hatte lieben können.
Julian und sie wurden gute Freunde. Bald nannte Julian Ulrika seine zweite kleine Schwester, denn ihre Freundschaft wurde zu einer geschwisterlichen Liebe. Sanft, behütend, respektierend.
Denn Julian war da, einfach nur da …

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