Kinderlein kommet – Sherlys elftes Abenteuer

Alles im Leben hatte Konsequenzen, oder um es mit den Wort von Sir Isaac Newton zu sagen: Actio et Reactio. Gegenüber jeder Aktion steht eine Reaktion.
Niemals würde Lord Anthony Gadwington den ersten Kuss seiner Gemahlin vergessen.
Er hatte ihr den Brief seiner ersten Gattin gegeben, damit sie verstand, wer er war und wen sie gedachte zu ehelichen. Lord Anthony wollte seiner damals noch zukünftigen Gemahlin zu verstehen geben, wie wichtig bedingungslose Ehrlichkeit in ihrer Zukunft sein würde.
Nach der Entführung von ihm und Lady Sherly und der demütigenden Art und Weise, wie sie aufgefunden worden waren, hatten die beiden viel Zeit mit Gesprächen verbracht.
Natürlich hatten seine Schwester Lady Gretchen, sein Schwager Lord Miles und seine Schwiegereltern auf einen Heiratsantrag seinerseits gedrängt. Als Ehrenmann sprach Lord Anthony ihn auch umgehend nach der Befreiung von den Fesseln und der notdürftigen Bedeckung ihrer Körper aus. Jedoch wollte Lady Sherly ihn nicht zu einer Ehe zwingen, in welcher sie beide betreffenden Parteien als gefangen wähnte.
Er benötigte mehrere Wochen Überzeugungsarbeit, bevor die Dame ihm letztlich ihre Zuneigung gestand. An diesem Tag wähnte er sich glücklich und unglücklich zugleich. Er bat Lady Sherly zuerst den Brief von Lady Larissa Gadwington, seiner ersten Gattin, zu lesen und ihm dann ihre endgültige Antwort zu geben.
Lady Sherly hatte es sich im heimatlichen Salon auf einem chintz bezogenen Sesselchen gemütlich gemacht, während er auf der schweren Ottomane Platz nahm.
Nachdem sie den Brief gelesen hatte, sah sie zu ihm und fragte: „Euer Jugendfreund Edward gilt endgültig als verschollen?“
„Ja, endgültig.“, bestätigte er mit einem knappen Nicken und versteinertem Gesicht.
„Gut.“, antwortete Lady Sherly, dann erhob sie sich und stellte sich direkt vor ihn. Langsam und unendlich sanft nahm sie sein Gesicht in ihre warmen Hände. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn beruhigend und zärtlich auf seine Lippen.
Damit war ihr beider Schicksal besiegelt.
Den ersten leidenschaftlichen Kuss hatte er ihr allerdings gegeben. Ein feines Lächeln huschte über Lord Anthonys Gesicht. Niemals hätte er gedacht, dass seine Madame Blaustrumpf-Naseweis so eine leidenschaftliche Lady sein konnte.
„Lord Gadwington, verzeiht bitte die Störung.“, Detektiv Hill trat regelrecht gram gebeugt in das Büro seiner Lordschaft.
Der junge Mann hatte sich als hervorragender Ermittler mit viel Empathie und feiner Spürnase entpuppt. Lord Anthony arbeitete am liebsten mit diesem akribischen Beobachter.
„Was kann ich für Euch tun, Detektiv Hill?“, von den gerade noch wohligen Gedanken des Lords war nichts mehr auf seinem Gesicht zu sehen.
„Wir haben wieder eine.“, der junge Detektiv schüttelte verzweifelt den Kopf. „Diesmal handelt es sich um ein kleines Mädchen, kaum älter als 3 Monate.“
Entsetzen spiegelte sich nun auch auf dem Gesicht von Lord Gadwington. Seit mehreren Monaten wurden immer mehr Kinderleichen gefunden. Manche waren bereits vor einigen Jahren getötet worden, manche erst vor Wochen oder Tagen. Es schien keinerlei Gemeinsamkeiten zu geben, denn die Kinder waren von unterschiedlichem Alter und Geschlecht. Manche schienen wohlgenährt, andere halbverhungert. Auch die Kleidung schien keinerlei Ermittlungsansätze zu bieten. Die Kinder waren fast alle in Lumpen gekleidet oder gar gänzlich unbekleidet.
„Die wievielte…“, Lord Gadwingtons Stimme versagte regelrecht.
„Die wievielte Kinderleiche ist dies jetzt?“, erklang von der Tür die feste, klare Stimme von Lady Sherly Gadwington-Holmes.
Lady Sherly hatte ihren Gemahl überraschen und ihn zu einer kleinen Lunchpause überreden wollen.
Selbst wenn Detektiv Hill über Lady Gadwington-Holmes Erscheinen verwundert gewesen wäre, hätte er dies nicht gezeigt. Er hatte erleben dürfen, wie verbunden sich diese beiden von ihm so geschätzten Menschen einander waren. Lord Gadwington schüttelte kaum merklich den Kopf, dieser Fall war nichts für seine Lady.


“Ich kann ja verstehen, dass du mich schützen wolltest, aber du hast mir gesagt, wir müssen immer ehrlich zueinander sein.”, sprach Lady Sherly wütend auf ihren nicht minder wütenden Gemahl ein, während sie über den orientalischen Teppichboden in ihrem Schlafzimmer auf und ab lief.
“Meine Arbeit geht dich aber nun mal nichts an!”, echauffierte sich Lord Anthony, welcher Zeitung lesend auf dem ehelichen Bett lag.
Lady Sherly stoppte mitten in ihrer Bewegung. Langsam drehte sie sich zu ihrem Gatten. Sie wusste, dass sie ihn gleich um ein Vielfaches erzürnen würde. Jedoch waren ihr die Worte entflohen, bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte.
“Dann gehen dich meine Fälle auch nichts mehr an! Ganz besonders der Fall Lady M.!”
Bedächtig legte der Lord die Zeitung zuerst zusammen und danach auf die freie Bettseite. Er erhob sich äußerlich völlig ruhig, stellte sich direkt vor seine Frau, umarmte sie sanft und legte ihren Kopf, wie zum Schutz, an seine Brust.
Das Gewitter an Flüchen, welches er nun direkt von sich gab, kannte Lady Sherly zum Großteil. Einige interessante neue Redewendungen hörte sie jedoch trotzdem. Vermutlich kannte Lord Anthony dieses Repertoire aus seiner Armeezeit.
„Ich habe doch solche Angst um dich, Liebster.“, flüsterte Lady Sherly, nachdem Lord Anthony seine Tiraden beendet hatte. „Wer solch zarte Wesen umbringt, macht auch vor gestandenen Polizeibeamten nicht halt!“
Lord Anthony Gadwington holte regelrecht verzweifelnd Luft.
Nachdem Lady Sherly und er sich in einer wunderschönen kleinen Zeremonie, mit wenigen engen Angehörigen und Freunden, das Ja-Wort gegeben hatten, entwickelte sich aus ihrer beider Zuneigung rasch eine tiefe Liebe. Diese Lady war sein Lebenselixier, der Mittelpunkt seines Universums.
Er verstand seinen geliebten Blaustrumpf besser, als ihm lieb war.
„Gut, jedoch berichtest du ausschließlich mir und du schüttelst auch nicht wieder Jack und meine Agenten ab, wenn du recherchierst.“, Lady M. war auch fast 18 Monate nach ihrer beider Entführung noch nicht ihrer gerechten Strafe zugeführt.
Zum einen lag das an den aufsehenerregenden Fällen, die er hatte bearbeiten müssen und zum anderen hatte Sherly viele, teils delikate, Aufträge aus der höheren Gesellschaft erhalten. Außerdem führten alle Spuren von Lady M.s Aufenthaltsort nach Bristol und Sherly durfte laut deren Aussage London nicht verlassen.
„Dieser Fall noch und dann holen wir uns dieses vermaledeite Weibsstück!“
Lady Sherly hob dankbar ihren Kopf und küsste ihren Gatten, allerdings nicht unbedingt dankbar…


Vier Stunden nach ihrem Disput saß Lady Sherly Gadwington-Holmes im Büro ihres Gemahls und studierte die Fallakten der toten Babys. Nach der fünften Akte begann sie gezielt nach einem speziellen Detail zu suchen. Alle Kinder schienen stranguliert worden zu sein, mit einem weißen Kantenband. Die meisten Opfer trugen es noch bei ihrem Auffinden um den Hals gewickelt.
Bis auf fünf Fälle wiederholte sich das Muster. Diese fünf Fälle wichen stark von den anderen ab. Wenn man diese ignorierte, bildete sich eine gewisse Struktur in den Vorkommnissen. Irgendwo hatte sie so etwas schon einmal gesehen.
Lady Sherly war übel, sie konnte kaum ihre Nerven im Zaum halten. All dieses wunderbare Leben sinnlos ausgelöscht. Zwei Tränen lösten sich aus ihren Augen, ohne dass sie dies verhindern konnte.
Detektive Hill kam mit weiteren Akten herein. „Diese Fälle sind in den letzten Jahren passiert und bis heute ungelöst.“, erklärte er sich sogleich.
Weitere sechs Stunden später fand Lord Anthony seine Gemahlin hinter drei verschiedenen Aktenstapeln, welche unterschiedlich hoch waren.
Lady Sherly und Detektive Hill besprachen gerade die Merkmale der verschiedenen Mordserien.
Alle drei Mörder schienen sogenannte Babyfarmer zu sein.
Ledige Mütter gaben ihre Kinder bei Privatleuten ab und zahlten entweder einen hohen einmaligen Betrag oder jeden Monat eine Apanage. Oftmals handelte es sich um Dienstmädchen, welches von den Herrschaften geschwängert und danach im Stich gelassen wurden. Doch auch manch Adlige musste solche Dienste in Anspruch nehmen. Entweder um die Folgen einer Liaison einer unverheirateten Lady zu vertuschen und damit ihren guten Ruf zu wahren oder die Affäre einer verheirateten Frau mit einem Partner, welcher nicht der eigene war.
In allen großen Zeitungen Englands waren Annoncen für Adoptionsangebote oder allerlei Kinderpflegeeinrichtungen zu finden.
Die sogenannten Babyfarmer versicherten sich stets gut um die Kinder zu kümmern. Manche schickten regelmäßig Berichte an die Mütter und manche stellten die Kinder mit Opium oder anderen Opiaten ruhig. Durch Zweiteres verhungerten die Kinder meist, da sie kaum noch Nahrung aufnahmen.
Manch Babyfarmer ließ dies bei Ärzten dokumentieren und andere entsorgten die Babys und Kleinkinder auf illegalem Weg. Die Legitimation der Todesfälle durch die Ärzte sprach die Babyfarmer von jedweder Schuld frei. Nur die wenigsten Ärzte zeigten eine zu hohe Sterblichkeitsrate bei Babyfarmern an.
In den vorliegenden Fällen waren beim ersten, dem kleinsten, Stapel Ermittlungsakten die Kinder wohlgenährt. Ihr Tod war ausschließlich durch Messerstiche verursacht. Detektiv Hill würde auch bald Beamte entsenden, welche eine Tatverdächtige dingfest machen würden. Lady Sherly hatte die zerlumpten Kleidungsstücke der Opfer untersucht und eine Kennzeichnung gefunden, welche zu einem Fachgeschäft für Kinderbekleidung gehörte. Ein Konstabler konnte in der letzten Stunde in Erfahrung bringen, dass das Geschäft jede Menge solcher Kleidungsstücke an immer ein und dieselbe Adresse geliefert hatte.
Der zweite Stapel Ermittlungsakten, nur wenig höher als der erste, handelte ausschließlich von verhungerten Kindern. Hier hegte Lady Sherly den Verdacht von Missbrauch mit Opiaten.
Die Opfer dieser Mordserie waren in einem Radius von zwei Meilen gefunden worden. Daher würden sich die Straßenbeamten von Scotland Yard umhören müssen, ob in diesen Londoner Gegenden jemand vermehrt Opium oder ähnliches kaufte. Auch die Apotheken dort sollten geprüft werden, denn es könnte sich auch um Laudanum als Mordwaffe handeln.
Der dritte Stapel, höher als beide anderen zusammen, war der grausigste.
Kinder jedweden Alters waren mit weißem Kantenband stranguliert worden. Und ganz als wäre es eine Markierung, hatte der Täter das Kantenband um den Hals gewickelt gelassen.
„Aber warum werden diese Kinder getötet?“, wollte der entsetzte Detektiv Hill letztlich wissen.
„Geld.“, schaltete sich nun Lord Gadwington in die Unterhaltung. Er sah seine Gemahlin an, wie sehr sie bei diesem Fall litt. „Wenn die alten Kinder entsorgt sind, können sie neue aufnehmen und bekommen noch mehr Geld.“ Das darauffolgende Schweigen zerrte an den Nerven aller drei Anwesenden.
Irgendwann räusperte sich Detektive Hill. „Und wo sollen wir den dritten Täter suchen?“
Lady Sherly schüttelte den Kopf. „Weißes Kantenband ist in jedem Haushalt im Überfluss vorhanden. Das hilft uns nicht weiter. Weder Kleidung noch Zustand der Kinder zeigt uns neue Ermittlungsansätze auf.“
„Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen.“, schaltete Lord Anthony sich erneut ein.
Und so trennten sich die Ermittler mit dem Wissen, dass ein Täter von Dreien bald seiner gerechten Strafe zugeführt werden würde. Auch wenn dies ein Erfolg war, so wogen die zwei ungelösten Fälle doch schwer auf ihren Schultern.


„Möchtest du darüber sprechen?“, Lord Anthony streichelte behutsam seiner Lady über das Haar. Sie waren heute sehr zeitig zu Bett gegangen, denn der vergangene Tag hatte sie sehr stark mitgenommen. Lady Sherly hatte sich auch gerade selbst gewährt, in den schützenden Armen ihres geliebten Gemahls zu weinen.
Letztlich sprachen sie leise über ihre Gefühle, ob der kleinen Opfer und ihre Wut, über solche Monster von Tätern.
Lady Sherly schlief in dieser Nacht extrem unruhig und schreckte einige Male aus dem Schlaf. Das letzte bange Erwachen aus einem besonders grässlichen Alptraum gab ihr aber immerhin auf eine Antwort auf die brennende Frage, woher sie die Tötung der Babys mit weißem Kantenband kannte.
Bristol lautete die Antwort.
Sie hatte einst für eine Landadlige das illegitime Kind gesucht, welches nun doch anerkannt werden sollte. Nach dem Fund der Kinderleiche suchte sie nach der angeblichen Adoptivmutter, einer Mrs. Thompson. Diese Frau war an der im Adoptionsvertrag genannten Adresse nicht auffindbar, als Lady Sherly bei dieser vorstellig werden wollte. Lady Sherly konnte vermutete, dass der Name Thompson falsch war. Gerüchteweise hatte man diese Dame in ein Sanatorium für Geisteskrankheiten eingewiesen. Dort waren jedoch nur drei Frauen mit anderen Namen zur entsprechenden Zeit registriert worden.
Mrs. Miller war weit über sechzig Jahre und passte nicht zur Beschreibung der Tatverdächtigen. Mrs. Myers hätte zwar vom Alter gepasst, war jedoch blond und nicht schwarzhaarig, wie die Tatverdächtige sein sollte. Mrs. Amal war bei Lady Sherlys Eintreffen gerade in einer Art Isolationshaft, da ihr Zustand als äußerst bedenklich galt. Bei einer erneuten Vorsprache Lady Sherlys, eine Woche später, hatte man die betreffende Dame allerdings bereits wieder entlassen. Eine Krankenschwester des Sanatoriums meinte, Mrs. Amal wäre eine Bilderbuch- Patientin gewesen, gerade so, als wüsste sie, wie sie sich zu benehmen hätte, um sowohl in Isolationshaft zu kommen als auch vorzeitig entlassen zu werden. Kein Patient hätte beides jemals in einem Zeitraum von weniger als einer Woche geschafft.
Lady Sherly suchte nun an der im Krankenhaus hinterlegten Adresse weiter, wie zu erwarten, kannte hier niemand eine Mrs. Amal. Es lebte wohl eine Amalie vor geraumer Zeit in diesem Haus, aber niemand wusste noch um den vollständigen Namen. Nach Reading wäre sie gegangen, wusste noch eine sehr alte, sehr hagere Dame, welche sich die Nase an ihrer Fensterscheibe platt gedrückt hatte, beim Beobachten ihrer Nachbarschaft.
„Wenn der Wachhund es nicht weiß, dann weiß es niemand hier in der Gegend!“, schimpfte ein Herr in schrecklich verschmutzter Kleidung. Er stank auch arg nach Alkohol und noch weniger gut riechenden Dingen. Diese Aussage erhielt Lady Sherly noch von weiteren Befragten in der Gegend. So verlief ihre Ermittlung damals im Sande. Einer der fünf ungelösten Fälle ihrer Laufbahn als Detektiv…
Unter normalen Umständen wäre Lady Sherly nach dem Aufstehen sofort nach Bristol gereist und hätte direkt vor Ort recherchiert. Doch bei ihrer letzten Zuwiderhandlung von Lady M.s Festlegung hatte dies leider sehr schmerzliche Konsequenzen für sie selbst gehabt. Lady M. hatte ihr Lieblingspferd vergiftet.
Erschrocken darüber, wie Lady M. ihr unbemerkt so nahekommen konnte, hielt sich Lady Sherly nun akribisch an deren Anweisung.
Ein weiterer Leidtragender von Lady M. war ihr geschätzter Autor und Freund Oscar Wilde gewesen. Durch die Eheschließung mit Lord Anthony konnte Lady Sherly ihm nicht beistehen, bei seiner Gerichtsverhandlung. Dabei hatte sie ihn mehrfach gebeten, diesem Verfahren zu entfliehen und England zu veranlassen. Auch eine Zuflucht in Indien hatte sie ihm angeboten. Mr. Wilde lehnte dies strikt ab.
Die Art des angezeigten Verbrechens und seine irische Herkunft hinderten die neue Lady Gadwington-Holmes daran ihm in aller Öffentlichkeit beizustehen.
Niemals würde Lady Sherly den Besuch im Gefängnis vergessen. Ihr Gemahl hatte dies ermöglicht, sie selbst war selbstverständlich als Mann verkleidet.
Letztlich aufgrund seiner eigenen Eitelkeit und des Drängens seines angeblichen Geliebten war Mr. Wilde zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurden.
Lady Sherly hatte Oscar Wilde direkt in die Augen geschaut und gefragt, ob er wirklich Unzucht mit minderjährigen Jungen getrieben hatte. Zuerst errötete Mr. Wilde und erbleichte sogleich.
Einmal hatte er sich an einem jungen Mann vergangen, gestand er stockend. Jedoch wähnte er ihn volljährig, weil dieser dies behauptet hatte. Aber es fehlten noch 5 Monate und drei Tage bis zur Volljährigkeit als Mann. Danach gab er sich nur noch der käuflichen Liebe hin und der platonischen Zuneigung, was die jungen Männer ihm teilweise äußerst übelnahmen.
Lady Sherly glaubte ihm in diesem Moment und zehrte auch während der Gerichtsverhandlung und deren Berichterstattung von dem ehrlichen Gesichtsausdruck von Mr. Wilde. Doch freilich wusste es niemand genau, außer er selbst, die vermeintlichen Opfer und Gott.
In wenigen Wochen würde Mr. Wilde nun entlassen werden, Lady Sherly würde ihm eine Zuflucht in Indonesien anbieten, natürlich nicht unter seinem Namen. Darüber hinaus würde sie noch ein Double engagieren, welches nach einigen Jahren des Darbens „verarmt sterben“ sollte. Sie hatte eine kleine Wohnung in Paris gemietet und würde das Double fürstlich entlohnen.
Das Erwachen ihres Gattens holte Lady Sherly in die Gegenwart zurück.


„Bristol hat sich gemeldet und Reading ebenfalls!“, leider brachte Detektiv Hill keine wirklich freudigen Botschaften zu Lord und Lady Gadwington.
Auch in Bristol und Reading waren Kinderleichen mit weißem Kantenband erdrosselt aufgefunden worden. Allerdings hatten die dortigen Ermittler keine weiteren Informationen zu bieten. Erst heute, in den frühesten Morgenstunden, war in Reading erneut eine Leiche aus der Themse gefischt worden. Man brachte diese und alles dazugehörige Material gerade zu Scotland Yard.
Lord und Lady Gadwington eilten sich mit dem Frühstück und kamen zur selben Zeit bei Scotland Yard an, wie die beiden jungen Konstabler der Reading Borough Police, welche die kleine Leiche sowie alle Akten und Beweismittel mitführten. Außerdem waren noch mehrere einfache Polizisten aus Reading mitgereist, da es sich um sehr umfangreiches Material handelte.
Einer der Konstabler und die einfachen Polizisten reisten nach dem Mittagessen zurück nach Reading.
Konstabler Peterson blieb zur Unterstützung der Ermittlungen in London. Er kannte die Akten in- und auswendig. Als er den vollständigen Namen der anwesenden Lady hörte, wunderte sich Peterson auch nicht mehr wegen ihrer Anwesenheit. Er verehrte Lady Gadwington-Holmes schon lange. Vor einigen Jahren, er hatte gerade bei der Polizei in Reading begonnen, hatte er sie eine Veruntreuung von Bankgeldern aufklären erleben dürfen. Nur anhand einer Schreibfeder und der Tinte hatte sie den korrupten Bankdirektor überführt. Ihre Beweisführung war so brillant, dass der feiste Kerl trotz der geringen Beweislast sofort gestand.
„In wie vielen der Fälle konntet Ihr weißes Kantenband finden?“, die fragende Lady Sherly, Lord Gadwington, Detektiv Hill und der Konstabler Peterson waren dabei ihre Beweise abzugleichen und erneut zu sichten.
„Einschließlich dem heutigen? Bei allen, bis auf einen.“, antwortete Peterson umgehend.
„Und der eine? Warum rechnet Ihr diesen der Mordserie zu?“, hakte Lady Sherly sogleich nach.
„Der Junge und das Mädchen sind gemeinsam in eine Decke eingewickelt wurden. Sie sind beide erwürgt wurden und das Mädchen hatte das Band noch um den Hals. Danach hatte man sie wie ein Paket verschnürt und mit Steine beschwert in der Themse versenkt.“
„Das Verpacken in eine Decke oder ähnliches ist neu.“, stellte Lady Sherly sogleich fest. „Das könnte zum Problem werden.“
Solche Abweichungen mochten Richter und Geschworene gar nicht. Mit dem Kind von heute Morgen waren dies gerade einmal vier Fälle, welche mit derselben Schnur und den identischen Knoten verschnürt worden waren.
„Aber selbst vier Fälle sind dem Gericht die Todesstrafe wert!“, äußerte sich Detektiv Hill. Seine Beklemmung bei diesen Fällen war ihm anzumerken.
„Ja!“, antworteten die drei weiteren Anwesenden zeitgleich.
Als nächsten Schritt teilten sich die vier Ermittler auf.
Lord Gadwington und Detektiv Hill würden die heute gefundene Leiche untersuchen und Lady Sherly und Konstabler Peterson würden die weiteren mitgebrachten Beweise sichten.
Keine Stunde später verfügte die Londoner Polizei über eine neue heiße Spur.
Beim Überprüfen des Packpapiers, in welchem das heute gefundene Mädchen eingewickelt worden war, hatte Lady Sherly unter dem Mikroskop eine verblichene Adresse sichtbar machen können, eine Adresse in Bristol.
Sechs Tage später konnte die vermutlich grausamste Serienmörderin aller Zeiten verhaftet werden.
Wie bereits befürchtet konnten nicht alle Fälle mit ihr in Verbindung gebracht werden, so dass lediglich die letzten Kindermorde offiziell aufgeklärt und gesühnt wurden.
Die Geschworenen benötigten trotz allem keine fünf Minuten um die Angeklagte schuldig zu sprechen und die Höchststrafe, Tod durch den Strang, festzulegen.
Nach ihrer Verurteilung gestand die Frau in diversen Zeitungsinterviews, dass sie das Kantenband als ihr Markenzeichen verwendet hätte. So würde sie immer wissen, wenn eines „ihrer“ Kinder gefunden wurde. Sie gestand auch, dass sie auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert hatte, denn sie war immerhin zweimal in Bristol in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden. Dank der geistigen Erkrankung ihrer Mutter, wusste sie dort auch, wie sie sich hatte verhalten müssen.
Diese Interviews fanden aufgrund eines nicht genauer genannten Lords lediglich den Weg in die Archive der Zeitungen und wurden niemals veröffentlicht.
Nun fehlte nur noch der dritte Täter der mordenden Babyfarmer.

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