Vorgaben:
Zeit: Mittelalter
Handlung: eine Magd will auf eigene Faust einen Kriminalfall lösen
Bleich und fahl kroch die nebelgeschwängerte Luft über diesen unheimlichen Ort. Genauso bleich und fahl, wie die Gebeine derer, die hier ruhten.
Marie schritt als Einzige Augusts Sarg hinterher, in welchem der viel zu früh verblichene Freund seinen Frieden finden sollte.
Das kleine, liebenswerte Kerlchen mit der engelsgleichen Stimme war nur einer von insgesamt 23 Verstorbenen einer riesigen Tragödie. Doch Marie kannte von all diesen Getöteten nur den Chorknaben August.
Sie hatten gemeinsam im Haus des Barons Olaf gedient, bis vor vier Tagen.
Nun war Marie wieder ganz allein auf dieser Welt.
August war ihr Freund und Weggefährte gewesen. Mit seinem Frohsinn und seiner Lebenslust hatte er Marie die Knechtschaft im Hause Olaf erträglich gemacht.
Für wenige Groschen hatten ihre Eltern sie, im Jahre 1443 des Herrn, als Fünfjährige hergegeben, nur um die anderen Kinder der Familie ein weiteres Jahr versorgen zu können.
Manchmal fragte sich Marie, ob ihre Mutter nur Kinder gebar, um sie zu verhökern. Doch dann schalt sie sich selber dieser unchristlichen Gedanken.
Der Edelmann war kein schlechter Herr, nur Baronin Walburga führte den Hausstand mit penibelster Ordentlichkeit und härtesten Strafen. Die Freifrau war gefürchtet für ihre Züchtigungen.
Der Wagen mit Augusts Sarg hielt an.
Mehr als ein paar Worte brachte der Geistliche für die drei Heller Maries nicht auf.
Die Beerdigung selbst hatte der Baron bezahlt, denn er mochte den Knaben gern singen hören. Der Adlige war den feinen Künsten zugewandt und ein Unterstützer des Knabenchores.
Die Baronin keifte deswegen gern herum, hatte der Kantor nicht ihren Sohn unlängst abgelehnt, als sie um dessen Aufnahme im Knabenchor ersucht hatte. Wenn Friedrich Gustav Wilhelm, ältester Sohn des Baron Olaf, sang, nahmen selbst die Krähen reis aus.
Marie blieb noch eine kleine Weile am Grab ihres Freundes stehen. Dann schaute sie auf und gewahrte, wie sich über ihr die Nebelschwaden in kleine Fetzen auflösten.
Es war ihr fast, als würde sie August singen hören.
Sie trocknete sich resolut die Tränen und begab sich zurück in das Haus ihrer Herrschaften.
„Du dumme Dirne, wo hast du dich schon wieder herumgetrieben?“, keifte die Baronin Marie an. Als sie die Hand erhob, um das junge Mädchen zu schlagen, hielt ihr Gatte sie auf.
„Madame, sie war in meinem Namen unterwegs.“, erklärte er seinem zornigen Weib und senkte Walburga resolut den Arm, welchen er umklammert hielt. „Sie gab in meinem Namen August das letzte Geleit.“
Marie dankte ihrem Herren im Stillen und entschwand in das Ankleidezimmer der Hausherrin.
Schnell richtete sie die Badewanne her, welche die feine Dame am Morgen zu nehmen pflegte, entgegen aller Gewohnheiten des Adelsstandes. Während andere Edelleute das Wasser scheuten wie streunende Katzen, gebot Walburga sich selbst und dem Personal höchste Reinheit.
Jeder musste sich täglich gründlich waschen. Die Kleidung der Dienerschaft aus dem robusten Nesselstoff hatte die Dame des Hauses durch helle Leinenkleider ersetzen lassen. Nur August musste Kleidung aus Nesseln tragen.
Während Marie das Feuer schürte und die Badelaken zurecht legte, hörte sie kleine Bruchstücke des Streites, in welchen die hochherrschaftlichen Eheleute geraten waren.
„August …“. „Bastard Eures Bruders!“ „Neid und Missgunst!“
Es war ein offenes Geheimnis im Hause des Barons, dass August der illegitime Sohn von Baronin Walburgas Bruder gewesen war. Graf Stephan war einst zu Gast im Hause Olaf gewesen, Marie war erst wenige Monate im Haushalt. Augusts Mutter war von berauschender Schönheit und als niedere Dienstmagd leider auch Freiwild für den Grafen gewesen.
Als sie neun Monate später mit August niederkam, starb die liebe Maid. Ihr Geist war in der Nacht der Empfängnis und ihr Körper an einer schweren Geburt zerbrochen. Drei Tage dauerte die Niederkunft und stürmische Winde brachten in diesen Tagen eisige Kälte und meterhohe Schneewehen mit sich. Doch als August seinen ersten Schrei tat, brach die Sonne durch die düsteren Wolken und verbannte den Frost aus den Straßen der Stadt. Die Dienstboten glaubten, dass August deswegen so einer feiner Knabe geworden war, da seine Mutter ihn als geschändete Jungfrau empfangen hatte und ihr Leben für seines gab.
Soviel Aberglaube beherrschte Augusts Geburt, dass Baron Olaf den Allmächtigen nicht herausfordern wollte und ihn in seinen Haushalt aufnahm. Als August alt genug war, gab ihn der Baron in die Schola pauperum St. Thomas. Dort entdeckte der Kantor Schurnagel sein musikalisches Talent und übernahm ihn mit in den Knabenchor.
Ein jeder, der August kannte, wusste das die Baronin neidisch auf die schöne Gestalt, das liebe Gemüt und die reine Stimme des Chorknaben war. Die Vorsehung hatte sie mit einem ungehobelten, grobgliedrigen, tumben Sohn geschlagen, dessen musikalisches Talent nicht vorhanden war.
„Der Kantor und dieses Balg haben die gerechte Bestrafung erhalten!“, kreischte Walburga gerade auf, als Marie sich zum Wasser holen wandte. Die leise Antwort des Barons indes konnte sie nicht verstehen.
Als Marie mit den ersten beiden Holzeimern voller heißem Wasser in das Ankleidezimmer zurückkam und das edle Nass in den Badezuber schütten wollte, erwarteten sie die adligen Eheleute bereits.
„Während Madame Ihr Bad genießt, wirst du ihre Sachen einpacken, Marie!“, befahl der Baron mit eisernem Ton. „Pack die Garderobe für ein Jahr, die Baronin wird sich in diesem Zeitraum auf unserem Landsitz in Wegefarth erholen.“
Als die Baronin Einspruch erheben wollte, gebot ihr der Herr mit einer Handbewegung zu schweigen. Mit donnernder, keinen Widerspruch duldenden Stimme fügte er hinzu: „Und Marie wird sich in dieser Zeit um Friedrich kümmern, denn er bleibt hier, bei mir in Leipzig! Keinerlei Diskussion, Weib, keinerlei Diskussion!“
So echauffiert hatte Marie ihren Herren noch nie gesehen und tat geschwind wie ihr geheißen.
Wenige Tage später begleitete Marie ihren Schützling Friedrich auf den Markt.
Indes hatte sie den unbeholfenen Knaben etwas lieb gewonnen, nicht zuletzt da sein sanftes Wesen sie an August erinnerte.
Wehmütig schritt sie an der Gastwirtschaft vorbei, in welcher der Chorknaben mit seinen Mitschülern und dem Kantor am Abend ihres Todes ihr letztes Mahl eingenommen hatten. Dreiundzwanzig Menschen, einschließlich August und der Kantor, starben kurz darauf.
Marie und Friedrich wandelten über den Markt. Hier war es laut und schrecklich schmutzig, doch der Knabe hatte seine Freude an dem bunten Treiben.
Nach einiger Zeit kamen sie an einen Fleischstand, an welchem eigenartig anmutende Tiere hingen. „Bestes Fleisch, junge Maid, bestes Fleisch!“, sprach sie ein zahnloses, schmutzstarrendes Wesen an.
„Was ist das?“, fragte Friedrich arglos.
„Katze, feinste Katze.“, feixte die Gestalt. „Fragt den Koch der Gastwirtschaft, beliebt ist es allemal!“
Marie zog den erschrockenen Knaben zurück. „Ich danke Euch, aber unser Geld reicht dafür nicht aus!“ Und so schnell sie mit dem Knaben an der Hand laufen konnte, rannte die Magd in Richtung Ausgang.
Ihr Herz begann heftig zu klopfen, aber nicht wegen ihrem Laufen. Katzenfleisch war in Leipzig verboten! Und der Koch der Gastwirtschaft verwendete es? Das Fleisch hatte schon der viele Menschen qualvoll getötet! Was wenn der Koch diese grausige Zutat auch an dem Abend als August und seine Mitschüler…
„Marie, Marie, ich kann nicht so schnell!“, Friedrich wand sich aus dem Griff der Magd und blieb stehen. „Außerdem hätte ich Geld gehabt für das Fleisch! Mein Herr Vater hat mir welches gegeben, falls ich etwas zu kaufen wünsche!“
Die Magd unterbrach ihre Gedanken und konzentrierte sich ganz auf ihren Schützling.
Mit wenigen, ruhigen Worten erklärte sie ihm, dass sie viel besseres Fleisch erwerben könnten und sie lieber nach etwas anderem Ausschau halten sollten, für den Knaben.
Die Kutsche bog in das Landgut Wegefarth ein.
So etwas hatte die Welt noch nie zuvor gesehen. Eine Dienstmagd fuhr in einer hoheitlichen Kutsche vor!
Baronin Walburga hatte nach Marie schicken lassen, sie solle schnellstmöglich auf das Anwesen kommen.
Selbst wenn die Dienstboten beim Baron Olaf ein gutes Leben genossen, getratscht wurde auch in diesem Haushalt nicht zu knapp. So wusste Marie bereits, warum sie so schnell wie möglich nach Wegefarth verbracht wurde.
Die Baronin hatte in den letzten Monaten auf dem einsam gelegenen Landgut nicht nur den Verstand verloren, sondern sie stand auch dem Tod näher als dem Leben.
Eine schwere Geisteskrankheit hatte sich ihrer bemächtigt und es sollte sich nunmehr eher um Stunden, den um Tage des Überlebens handeln. Walburga schrie und tobte nach der Magd, bis man endlich nach Marie schickte. Und so saß diese in der schnellsten Kutsche, über die der Baron verfügte.
„Da bist du, treues Kind!“, die Baronin setzte sich in ihrem Bett auf, sobald sie der Magd gewahr wurde.
Marie erschrak. Die feine Dame war nicht einmal mehr ein Schatten ihrer selbst. Aus einem schmutzstarrendem Bett starrte ihr ein totenkopfähnliches Antlitz entgegen, mit wirrem Haar und wilden Augen.
„Du musst es ihm sagen, ihm erklären!“, kraftlos sank der dürre Leib Walburgas auf die Kissen. „Ich wollte das doch nicht! Er sollte doch nur verschwinden!“
Marie gebot einer der anwesenden Dienerinnen ihr frische Laken, Wasser und Tücher zu bringen.
„Die merkts doch eh nicht, die Durchgeknallte!“, schimpfte das Dorfkind und trollte sich dann trotzdem das Gewünschte zu holen.
„Stephan wollte ihn anerkennen, wusstest du das?“, ein heiseres, irres Kichern erklang. „Nein, woher sollte eine Dienstmagd wie du das wissen?“ Danach versank die Baronin in unverständliches Gebrabbel.
Marie ließ weitere Mägde kommen und das Bett der hohen Dame neu beziehen. In der Zwischenzeit wusch sie ihre, auf einer Chaiselongue liegende, Herrin mehr schlecht als recht, kämmte die wirren Strähnen aus und formte einen langen geflochtenen Zopf.
Nachdem Walburga wieder in ihrem Bett lag, scheuchte sie das restliche Personal aus dem Raum. Um dieses faule Pack würde sie sich später kümmern. Egal, was dieses boshafte, zänkische, adlige Weibsbild angerichtet hatte, Friedrich liebte seine Mutter und für ihn würde Marie sich um Walburga kümmern.
„Er sollte alles erben, mein Friedrich. Nicht August, der Bankert.“, der Blick Walburgas war nun mehr klar und unendlich traurig. „Ich wollte August doch nur verjagen! Ein bisschen Übelkeit hatte der Koch geschworen und das er nur dem Kantor und August davon zu Essen geben würde!“
In Maries Kopf begann sich ein grässliches Bild zu formen.
„Sie verfolgen mich, weißt du. Jede Nacht erheben sich die Dreiundzwanzig aus ihren Gräbern und suchen mich mit ihren vermodernden Körper heim. Sie wollen mich zu sich holen!“, der Blick der Adligen wurde wieder wirr. „Du musst es August erklären. Ich wollte ihm nichts tun! Du musst mich erlösen!“
Marie wusste später nicht mehr zu sagen, wie viele Stunden und Tage oder gar Wochen sie am Bett ihrer Herrin verbracht hatte. Sie kühlte ihre Stirn, wusch die wundgelegenen Glieder, beruhigte das zermarterte Gemüt, wenn es wieder dem Wahnsinn anheimfiel.
„So mein lieber Freund, jetzt weißt du alles!“, flüsterte Marie am Grab ihres besten Freundes, während der restliche Hausstand die Baronin zu Grabe trug. „Sie wollte dich nicht ermorden, auch wenn sie manchmal grausam war. Die letzte Zeit auf dem Gut bei ihr hat mich das erkennen lassen. Vielleicht kannst du ihr ja vergeben, wenn ihr euch bei den Englein trefft…“
Und wieder schien es ihr, als würde sie August singen hören. Da wusste sie, ihr Freund fand nun endlich seinen Frieden.
– Ende –
Anmerkungen:
Die Geschichte und die Namen sind fast frei erfunden. Den Mord selbst gab es nicht, so allerdings ein Unglück im Jahre 1523, dem der Thomaskantor Scharnagel, zwanzig Chorknaben und zwei Stadtpfeiffer zum Opfer fielen. Weitere Details dazu finden sich auf der Internetseite des Thomanerchors, unter der Rubrik Erinnerungen & Geschichten.
Um im Mittelalter die Schuld eines Täters beweisen zu können, gab es nur drei Möglichkeiten:
a) ein Geständnis
b) sichtbare Beweise
c) mindestens zwei (ehrbare) Zeugen.
Da keine der drei Möglichkeiten existierte, konnte der Mord nicht geahndet werden, denn Marie galt als Dienstmagd als nicht ehrbar.