Lord Anthony war nicht mehr da.
Noch bevor Lady Sherly aus dem Schlaf erwachte, war sie sich dieser Tatsache bewusst. Sie weigerte sich, daran zu denken, dass er nie mehr zurückkommen würde, dass er tot…
Nein, alles, nur nicht dieses Wort.
Er war nicht mehr da.
Heute, vor genau drei Jahren, war Lady Sherly das letzte Mal aus einem wunderschönen Traum in seinen Armen erwacht.
Sie wusste noch jedes Detail aus diesem Traum und der erste Teil hatte sich genauso bewahrheitet. Die Augen ihres Gemahls leuchteten auf, sein Lächeln wurde unendlich liebevoll und sein Gesicht strahlte vor schier unbändiger Freude, als sie Lord Anthony ihre Schwangerschaft gestand.
Auch der zweite Teil, die Geburt ihrer Tochter, war genau wie in ihrem Traum. Nachdem sie ihrer wunderschönen Victoria Antonia das Leben geschenkt hatte, war es für einen Augenblick so leicht und warm um ihr Herz geworden, dass sie selbst den Verlust ihres geliebten Ehegatten nicht mehr spürte.
Was allerdings nicht in ihrem Traum zu sehen gewesen war, dass sie Tony, wie sie ihre kleine lausbubenhafte Tochter unterdessen nannte, zu Dr. Jakob zur Untersuchung gab und dafür von Sophia ihren Sohn Georg Sebastian wieder in die Arme gelegt bekam. Der ältere ihrer beiden Zwillinge hatte das ruhige Wesens seines Vaters und die Neugierde seiner Mutter geerbt. Während Tony wohl vollständig nach ihrer Mutter geraten war.
In den vielen folgenden schlaflosen Nächten hatte sie häufig über diesen Traum nachgedacht.
Heute wusste sie, was sie an dem zukünftigen Lord Anthony gestört hatte, welcher mit Toni auf ihrem Einführungsball in die Gesellschaft tanzte.
Alle waren gealtert, Tony, sie selbst, die ganze anwesende Gesellschaft, nur ihr Gemahl nicht. Auch wenn seine Statur massiver und gedrungener wirkte, sein Gesicht war fast völlig faltenlos gewesen. Ganz so, als wäre er nicht eine Sekunde gealtert. Heute wusste sie warum, Lord Anthony konnte nicht mehr altern und so würde sich dieser dritte Teil ihres Traumes niemals erfüllen.
Lady Sherly war nach der Beerdigung ihres Gemahls nach Wales auf ihr Landgut übergesiedelt, auch wenn Lord Miles und Lady Gretchen sie in London hatten halten wollen. Sie liebte die beiden Freunde sehr, doch sie ertrug das leere Stadthaus nicht mehr. Jack und Melissa waren in Wales und ihr geliebter Anthony lag für sie unerreichbar in der kalten Erde Londons.
So gelobte sie den beiden Freunden häufige Besuche im Stadthaus der Saundersburghs, welche sich auf gerade zwei Besuche in drei Jahren beschränkt hatten. Dafür kamen Lady Gretchen und Lord Miles oft zu ihrem walisischen Wohnsitz. Nicht zuletzt um Toni und Sebastian zu besuchen.
Lady Gretchen erlitt im Laufe der Jahre mehrere Fehlgeburten, so dass den Saundersburghs die Freuden der Elternschaft verwehrt blieb.
Dr. Jakob meinte jedoch nur vorerst. Er glaubte fest daran, das Lady Gretchen in den nächsten Jahren gesunde Kinder gebären würde. Er empfahl Lady Sherly die beiden zu einem längeren Aufenthalt in Wales zu überreden, damit die Beiden Ruhe fänden. Dr. Jakob meinte, es liege eine Blockade des Geistes vor und die könne man nur mit walisischer Ruhe und Gelassenheit durchbrechen.
Lady Sherly nannte Jakob daraufhin einen Quacksalber, würde jedoch die Saundersburghs bei ihrem nächsten Besuch genau darum bitten, nämlich länger hier zu verweilen.
In Wales konnte Lady Sherly auch Jacks Genesung miterleben. Trotz seiner Blindheit, erholte dieser sich rasch und dank des kleinen Anton, welchen Melissa einige Wochen nach Jacks Verletzung zur Welt brachte, schöpfte er auch wieder neuen Lebensmut.
Nachdem die Wunden im Gesicht verheilt waren, hatte Lady Sherly Jack eine weiche Halbmaske schneidern lassen. Den unbefangenen Umgang Lady Sherlys und Melissas mit Jacks Verletzungen teilten die anderen Angestellten und Dorfeinwohner nicht. Die meisten reagierten äußerst abweisend auf die grässlichen Narben.
Anton Williams, der Sohn von Jack und Melissa, entwickelte sich zu einem prächtigen kleinen Burschen. Er tollte gern mit seiner Cousine Josi und deren jüngerem Bruder herum. Auch Tony und Sebastian spielten gern mit diesem aufgeweckten Kerlchen.
Nur Marie hielt sich vornehm zurück, ganz wie es einer jungen Dame von mittlerweile fast neun Lenzen geziemte.
Sicherlich würden ihre geliebten Zwillinge als bald in Lady Sherlys Schlafgemach einbrechen und sie versuchen zu wecken. Sie konnte die beiden schlecht bitten, am dritten Todestag… Nein, nicht dieses Wort…
Er hatte sie verlassen. Er hatte es getan, um sie und ihre beiden Kinder zu schützen und er hatte ihr keine Wahl gelassen…
Sie selbst hatte sich vor drei Jahren, nach ihrem Zusammenbruch in Lord Anthonys Arbeitszimmer, in das Gästezimmer zu Jack und Melissa führen lassen. Sie wollte nach dieser unsäglichen Drohung von Lady M. bei ihren Freunden sein.
Dr. Jakob hatte sie gebeten, sich neben Melissa zu legen und die Zofe zu trösten, welche selbst im Schlaf weinte. Später gestand er ihr, dass er dies aus Sorge um sie getan hatte, denn immerhin war sie selbst ja ebenfalls in anderen Umständen…
Lady Sherly kam dieser Bitte dankbar nach, war sie doch selbst zutiefst erschöpft. Binnen weniger Augenblicke, nachdem sie Melissa in die Arme genommen hatte, schlief sie ein.
Genau zu dieser Zeit begab sich Detektiv Hill in eine äußerst zwielichtige Londoner Gegend und überbrachte die Nachricht von Lord Gadwington.
Lord Anthony wiederum schrieb ihr selbst in der Zwischenzeit einen langen Abschiedsbrief, von dem er hoffte, dass sie ihn niemals lesen würde.
Den Rest der Nacht und die folgenden Tage kannte Lady Sherly nur aus den Erzählungen der anderen Beteiligten.
Ihr Bruder, Lord Holmes, verstand die Nachricht seines Schwagers sofort, welche ihm Detektiv Hill überbracht hatte, und wusste, dass Eile geboten ward. So trafen die beiden Männer sich, wie sie es vor kurzem vereinbart hatten.
Seine Lordschaft Sherlock Holmes hatte sich nach dem Mord an seinen Eltern in den Untergrund begeben, um von dort aus Lady M. zu finden. Trotz seines analytischen Verstandes und seiner fast berüchtigten Empathielosigkeit konnte er nicht umhin, diese Tat sühnen zu wollen. Auch wenn das Verhältnis zu seinen Eltern nicht als das Beste galt, so hatte niemand das Recht, sie ihm vorzeitig zu nehmen. Lord Sherlock schwor diesem Weibsstück Rache, auch wenn dies eine für ihn untypische Gefühlsaufwallung darstellte. Diese Lady M. hatte den Großteil seiner Familie ermordet und über kurz oder lang, würde auch noch er selbst und letztlich seine kleine Schwester in ihren Fokus geraten. Für sich selbst glaubte er kaum um Gefahr von dieser Geisteskranken, immerhin hatte er schon weit schlimmere Bedrohungen überlebt. Lord Sherlock würde es stets leugnen, selbst wenn es um sein Leben ginge, aber seine kleine Schwester Lady Sherly war seine Achillesferse. Aller Scharfsinn schwand, wenn er sie in Gefahr wähnte.
Vor wenigen Tagen kontaktierte Lord Sherlock seinen Schwager, denn sie wollten verschiedene Vorkehrungen treffen. Beide Männer wussten, dass Lady M. immer unberechenbarer wurde und ein Kind von Lady Sherly in größter Gefahr schweben würde. Lord Holmes vermutete bereits seit einigen Wochen eine Schwangerschaft bei seiner kleinen Schwester, auch wenn sein Schwager dies vehement verneinte.
So schrecklich der Anschlag auf Jack wohl war, Lord Sherlock hatte dadurch das Versteck von Lady M. herausfinden können. Er hatte Jack und Thomas verfolgt und beobachtet. Aus Sicherheitsgründen musste er aber diese Überwachung abbrechen. Zwei finstere Gesellen, welche zu Lady M. gehörten, waren auf den Bettler, als der er verkleidet war, aufmerksam geworden. Lord Holmes entkam sozusagen in letzter Sekunde. Nachdem er die Bekleidung gewechselt hatte, er hatte sich nun als eine übergewichtige, alte Hafenhure verkleidet, war es zu spät. Jack war bereits verletzt und Thomas tot.
Er folgte Lady M. und fand heraus, dass dieses dreiste Weibsstück eine kleine Villa in einer äußerst respektablen Gegend bewohnte. Sie versteckte sich sozusagen vor aller Augen.
Da seine Verkleidung in dieser vornehmen Gegend wieder auffiel, kam Lord Sherlock nicht umhin, sich erneut umzukleiden. Während er dies tat, gab er einem seiner kleinen Spatzen, wie er die Straßenjungen von London gern nannte, eine Nachricht für Lord Anthony. Die kleinen Gauner hatten sich für ein paar Pence und ein regelmäßiges Abendessen als äußerst zuverlässige Gehilfen herausgestellt.
Lord Sherlock kam gerade zurück zur Villa von Lady M., als er seinen Schwager in das Gebäude eindringen sah. Detektiv Hill war im Außenbereich noch mit einem der Wächter beschäftigt und rang diesen gerade nieder.
Als Lord Holmes und Detektiv Hill Lord Gadwington ins Gebäude folgten, sahen sie diesen am anderen Ende der großen Eingangshalle einen Angreifer niederstrecken. Lord Anthony schien allerdings das Messer, welches der Mann ihn bei ihrem Zweikampf in den Bauch rammte, nicht zu bemerken. Im Gegenteil, er rannte wie ein Berserker auf Lady M. zu und legte dieser ein Messer an die Kehle.
Lady M. schrie wirres Zeug von Rache an Lady Sherly und ihrer Sippschaft. Die wüsten Drohungen währten jedoch nur wenige Augenblicke.
Mit der tödlichen Präzision eines gut ausgebildeten Soldaten schnitt Lord Anthony dieser wütenden Furie die Kehle durch. „Mein ist die Rache.“, erklärte er der Sterbenden ruhig, wohlwissend, dass sie diese Worte nicht mehr hören würde.
Als Detektiv Hill und Lord Sherlock Holmes wenige Augenblicke später Lord Gadwington erreichten, brach dieser aufgrund seiner Bauchverletzung zusammen.
Während Detektiv Hill sich um die Sicherung des Tatortes und das Herbeirufens weiterer Beamter bemühte, brachte Lord Holmes seinen Schwager in dessen Haus zu Dr. Jakob.
Als hätte Lady Sherly den Zustand ihres Gemahls geahnt, erwachte sie in dem Moment, als ihr Bruder ihren Ehegatten ins Haus brachte. Dr. Jakob kam sofort hinzu, und gemeinsam brachten sie den Verletzten in das eheliche Schlafgemach.
Lady Sherly wusste nur noch, dass sie ihren blutüberströmten Gemahl in die Augen geschaut hatte und er ihr zugeflüstert hatte, dass es ihm leidtat. Danach wurde es um sie herum schwarz.
Bei ihrem Sturz verletzte ihre Ladyschaft sich am Kopf und war deshalb mehr als eine Woche bewusstlos.
Dr. Jakob versuchte alles, was in seiner Macht stand, doch Lord Anthony Gadwington verließ Lady Sherly Gadwington noch in dieser Nacht.
Lord Holmes kümmerte sich um die Beerdigung seines Schwagers. Hatte er sich bisher um die Klärung der Erbangelegenheiten seiner Eltern auch drücken können, so blieb ihm aufgrund des Gesundheitszustandes seiner kleinen Schwester nun keine Wahl. Lord Sherlock Holmes musste die Verwaltung der elterlichen Güter übernehmen.
Lady Sherly erwachte erst zwei Tage nach der Beisetzung ihres Gemahls. Darüber erboste sie sich so sehr, dass Dr. Jakob gezwungen war, ihr ein leichtes Tonikum zu geben, um sie zu beruhigen.
Eine weitere Woche Bettruhe später konnte sie dann endlich Abschied von ihrem geliebten Ehemann nehmen.
Ein wunderschöner Erinnerungsstein zierte einen ansonsten kargen und schmucklosen Platz in der Familiengruft der Gadwingtons.
„Mein Lieb`, verlassen hab` ich dich, doch sterben werd` ich erst, wenn du einst gehst“
Nach einigen Wochen weiterer Genesungszeit siedelte Lady Sherly mit Jack, Melissa, Sophia und Dr. Jakob nach Wales über.
Hier waren schon einmal tiefe Wunden der Seele geheilt, vielleicht konnte dieser Ort dieses Wunder wieder wirken.
Lord Sherlock Holmes kümmerte sich um einige fähige Verwalter für den ehemaligen Besitz seiner Eltern, welchen er vollständig geerbt hatte. In der Zwischenzeit beendet er seine Geheimtätigkeit für Ihre Majestät, die Queen. Diese war natürlich äußerst betrübt darüber, aber aufgrund der vielen tragischen Geschehnisse in der Familie Holmes hatte sie für diesen Schritt vollstes Verständnis. Nach einigen Monaten übernahm Lord Sherlock wieder einige pikante Ermittlungsfälle der besseren Gesellschaft und wurde somit eine feste Größe in der Riege der Privatermittler in London.
Detektiv Hill wurde für seinen Einsatz im Kampf gegen Lady M. belobigt und befördert. In seinem Bericht stand, dass Lady M. Lord Gadwington schwer verletzte und er diese letztlich in Gegenwehr tödlich verwundete. Wie man eine fachmännisch durchgetrennte Halsschlagader als Verletzung in einem Zweikampf ansehen konnte, blieb dabei ungeklärt. Aufgrund der begangenen Gräueltaten der getöteten Verbrecherin hielt sich jedoch niemand weiter bei diesem Aspekt ihres Todes auf. Im Laufe der folgenden Monate und Jahre wurde der Bericht öfter überarbeitet und letztlich ward in den Akten nur noch von einer tödlichen Verletzung die Rede, welche Lord Gadwington Lady M. im Rahmen einer Notwehrhandlung zugefügt hatte.
Für Lady Sherly hingegen begann am 24. Dezember des Jahre 1897 ein neues großes Abenteuer, die Mutterschaft. Im Gegensatz zu Melissa, welche bei Anton eine sehr schwere Geburt überstehen musste, war die Zwillingsgeburt regelrecht leicht. Nach zwei Stunden Wehen hatte es seine Lordschaft Georg Sebastian äußerst eilig das Licht der Welt zu erblicken und vier Minuten später folgte bereits seine Schwester Lady Victoria Antonia.
Die letzten zweieinhalb Jahre waren für Lady Sherly voller bittersüßer Augenblicke gewesen. Ihre wunderschönen Kinder waren so bezaubernd, und ihr geliebter Gemahl konnte keinen dieser Momente miterleben. Weder das erste Lächeln noch das erste Wort. Weder die erste Umarmung noch den ersten Schritt.
Vielleicht war Rache nicht das richtige Wort, doch oftmals wiederholte Lady Sherly die Worte ihres Gattens in Gedanken. Sie schrie förmlich nach dem Geist von Lady M.: „Mein ist die Rache!“.
Ihre eigene Rache war es, jeden Tag und jeden Augenblick dieses wundervollen neuen Abenteuers auszukosten. Sie genoss die Zeit mit ihren Zwillingen und die Zeit mit ihren Freunden.
Nur in ihren Träumen war sie einsam und rief nach dem verlorenen Geliebten, ganz so als würde er dadurch zurückkehren können.
Was Lady Sherly jedoch nicht wusste, war, das Leben hielt einen Neuanfang für sie bereit. Und dieser war nicht weit entfernt. Eigentlich war er schon fast da. Denn ihr Bruder Lord Sherlock war gerade im Begriff an ihre Eingangstür zu klopfen…