„Diese Frau wird sterben.“
Jaja, jeder von uns muss mal sterben. Aber diese Frau wird es innerhalb der nächsten Minuten tun, das weiß ich.
Das hat weder mit Vorahnung noch Empathie oder so zu tun. Es ist eher eine Gabe, wenn nicht sogar ein Fluch.
Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als ich diese Fähigkeit bekam.
Es war ein völlig verregneter Tag und ich war kaum zwölf Jahre alt.
Ein kleines Mädchen, höchstens fünf Jahre alt, spielte Himmel und Hölle auf dem glitschigen Fußsteig der Straßenbahnhaltestelle.
Sie schien zu keinem der anwesenden Erwachsenen zu gehören und es kümmerte auch keinen dieser Idioten, als sie ausrutschte und im Gleisbett landete. Weinend hockte sie auf den kalten Schienen. Obwohl ich am anderen Ende der Haltestelle stand, rannte ich auf sie zu, um ihr zu helfen. Ich war maximal noch einen Meter von ihr entfernt, als sie zu mir aufsah und versuchte meinen ausgestreckten Armen zu entkommen.
„Nicht!“ flüsterte sie, als ich sie aus dem Gleisbett hob.
„Es tut mir so leid!“ begann sie zu schluchzen. „Jetzt wirst du für deine gute Tat mit einer Last belohnt, die niemals die deinige sein sollte!“
Klar verwunderte mich diese vornehme und erwachsene Ansprache, aber es mich interessierte in diesem Moment mehr ihre aufgeschlagenen Knie halbwegs sauber zu bekommen. Gleichzeitig wollte ich sie trösten und strich ihr über ihr blondes, halblanges Haar.
„Wie heißt du?“ fragte ich sie, um sie etwas abzulenken.
Mitten in ihrem Redefluss unterbrochen antwortete sie: „Jacqueline.“ und redete dann einfach weiter. „Nicht ein einziges Mal wirst du es verhindern können, selbst nicht bei Menschen, die du liebst. Es tut mir so leid! So entsetzlich leid!“
„Schh, Jacqueline, schh. Ganz ruhig. Es wird alles wieder gut. Wirklich!“ flüsterte ich beruhigend in ihren Monolog.
Und Tatsache, der kleine angespannte Körper wurde weich, richtig biegsam.
So verpasste ich auch die Straßenbahn, die einfuhr und in die all diese ignoranten Erwachsenen stiegen.
„Dies ist mein Geschenk an dich. Für deine Hilfe und auch ein kleinwenig als Wiedergutmachung.“ sagte Jacqueline keine zwei Minuten später, nachdem meine Bahn losgefahren war, und war auf einmal weg. Ja, einfach weg, verschwunden. Sie hatte sich in Luft aufgelöst.
Später hörte ich dann, dass diese Straßenbahn verunglückt war und nur ein Mädchen von allen Passagieren überlebt hatte. Sie war eine Station nach meiner eingestiegen, hieß Mercedes und war meine beste Freundin. Und sie überlebte nur, weil sie auf dem Platz gesessen hatte, auf welchem ich normalerweise saß.
Ach Mercedes! Das war ein liebes Ding. Und treu wie Gold, selbst nach so vielen verrückten Jahren!
Ich schweife ab, nicht wahr?
Eine meiner herausragendsten Eigenschaften, pflegte mein Mann immer zu sagen. Gott hat er es gehasst, wenn ich nicht auf den Punkt kam! Und wenn ich mich dann mal kurz fasste, dann fehlte ihm die entscheidende Information.
Jedenfalls meine Fähigkeit. Von diesem Tag an, konnte ich jedem Menschen, der kurz darauf sterben würde, genau das ansehen.
Tatsache traf es mich am härtesten, dass ich den Tod so vieler geliebter Menschen vorhersah. Und nicht einen konnte ich verhindern! Nicht einmal den meines Mannes.
Hab ich ihn geliebt. Alles würde ich dafür geben nur noch einmal seine fröhlich funkelnden Augen zu sehen. Dieses eine spezielle Lächeln, das er nur mir schenkte!
Ach ja, genau, meine Gabe.
Auffällig war, dass immer bevor jemand, na wie sag ich’s mal … na du weißt schon … na den Löffel abgibt, genau so nannte man das zu meiner Zeit, jedenfalls genau davor passierte irgendetwas anderes. Meist ein kleineres Unglück. Mal wurde ein Kind geschlagen und keiner half, mal ertrank der Hund eines Kindes und so was halt eben. Und jeder, der nicht half, der starb kurz darauf.
Da siehst du sie?
Die Frau von vorhin?
Genau, die ist gerade in das Auto gelaufen. Und jetzt ist sie tot.
Na egal.
Hab ich mich dir eigentlich schon vorgestellt?
Mein Name ist Nouvelle. Nouvelle de la mort.“