Stella

„Halt! Kommen Sie nicht näher oder ich springe sofort!“ rief das junge Mädchen am Rande des 16. Stockes des Bader-Hochhauses mir zu.
‚Gott, wieder so junges Ding!‘ schoss es mir durch den Kopf.
„Andrea? Du heißt doch Andrea?“ fragte ich, während ich stehen blieb.
„Ja, aber keiner nennt mich so, alle sagen Andy zu mir, aber so richtig auf die amerikanische Weise Äändii…“
‚Oh, gut, sie will reden…‘
„He, ich weiß was Sie versuchen. Das klappt bei mir nicht! Ich will springen und ich werde springen!“ rief Andrea hinterher.
„Äändii … Nee, nicht Äändii, das klingt grausam! Du bist aber auch keine Andrea. Dazu ist dein Style zu sportlich. Ich würde dich Ändria nennen. Also die englische Form von Andrea. Ja genau. Hübsches Mädchen, dass sportlich ist und cool, aber wenn es will auch ladylike. Halt eine Ändria. Genauso werde ich dich nennen…“
Ich plapperte immer am Anfang, was die wenigstens wussten, das tat ich vor Aufregung. Aber auch hier, bei diesem höchstens 18 Jahre alten Mädchen, zog genau diese Plapperei, die scheinbar teilnahmslos und völlig nebensächlich klang.
„Ändria, ich muss mich kurz setzen. Weißt du, ich bin gestern gestürzt und hab mir meine Hüfte geprellt und mein Knie aufgeschlagen. Nein, das zeig ich dir lieber nicht, das ist echt eklig. Oder willst du es sehen …“ Und weiter ging es, ohne Punkt und Komma. Nach ein paar Minuten Schwatzen saß ich zumindest schon mal 15 Meter von ihr entfernt. Ein Hoffnungsschimmer, aber wirklich nur ein ganz kleiner.
„Woher?“ unterbrach Andrea meinen Redefluss auf einmal.
„Was woher?“ fragte ich zurück.
„Woher wissen Sie meinen Namen?“
Interesse an etwas, ich glaube, das ist wieder ein Fünkchen mehr.
„Eine Frau steht unten und schreit völlig hysterisch diesen Namen und da dachte ich, das kannst nur du sein.“ erklärte ich. Tatsache war, dass niemand unten stand. Keiner wusste, was hier vor sich ging. Ich hatte mich auf das Dach des Hochhauses gesetzt, um in Ruhe etwas schreiben zu können und Andrea kannte ich aus der Nachbarschaft. Das ich mir ihren Namen gemerkt hatte, war reiner Zufall.
„Oh.“ war Andreas einzige Reaktion.
Just in diesem Moment rutschte mir meine Tasche herunter und mein Schreibblock wurde sichtbar. In Andreas Augen leuchtete kurzzeitig Neugier auf.
„Jetzt weiß ich, wer Sie sind! Sie sind diese Schriftstellerin!“ rief sie fast freudig auf. “Ich war letztens in Ihrer Lesung, dass war toll.“ Danach verfiel sie wieder in brütendes Schweigen.
„Ja,“ bestätigte ich. „ich bin Jillian Hoffmann. Und das ist der erste Entwurf zu meinem neuen Buch.“
Es war eine plötzliche Eingebung, der ich folgte. Ich nahm meinen Block aus der Tasche und blätterte in den angeblich beschriebenen Seiten. Natürlich achtete ich darauf, dass Andrea nicht sah, dass ich kein einziges Wort verfasst hatte.
Schreibblockade.
Immer noch.
„Aber diese Geschichte vorlesen, wäre in deiner Situation nicht so toll. Auch wenn du die Erste wärst, die sie hören würde …“
Mein Atem stockte unbewusst.
Würde ich sie ködern können?
Würde sie sich hinsetzen und mir zuhören?
Was wollte ich eigentlich vorlesen?
„Wieso? Worum geht es denn?“ fragte Andrea vorsichtig. „Wenn Sie sagen, um einen Selbstmörder, der gerettet wurde und dem es jetzt super Klasse geht, springe ich gleich!“ fügte sie noch fauchend hinzu und schob sich noch näher an den Rand des Daches.
Und da war sie, die Lösung. Meine Geschichte war da und ich musste sie nur noch in Worte fassen.
„He, ich weiß noch nicht mal, ob ich das Scheißding überhaupt rausbringe.“ fauchte ich zurück. Wütend sprang ich auf. „Hier geht es nämlich um meine Geschichte und nicht um irgendeine dämliche Fiktion!“
‚Herr im Himmel, hilf mir es richtig zu machen! Lass mich diesem zarten Geschöpf helfen! Dafür hast du mich doch auf dieses Dach geführt!‘ voll tiefster Inbrunst bettete ich, während meine „Vorstellung“ lief. Jeder angehende Psychologe würde mich vermutlich Narr schimpfen, aber ich konnte nicht anders.
Durch meine Wut hatte Andrea unbewusst einen Schritt zurück aufs Dach gemacht.
„Entschuldige.“ Ich war wirklich zerknirscht. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist nur … Weißt du … Ach verdammt.“ Ich setzte mich zurück an die alte Stelle und nahm meinen Block wieder zur Hand.
„Weißt du, ich bin in einem anderen Staat aufgewachsen, der hieß DDR.“ Andrea nickte, sie hatte davon sicherlich in der Schule gehört. „Niemand kennt diese Geschichte von mir und ich weiß nicht, ob es so gut ist, sie zu erzählen. Ich war damals in dieser Jugendorganisation FDJ und mir schien das alles richtig zu sein. Als ich 16 Jahre alt war, kam die friedliche Revolution, also so nannten sie es damals. Tja, und meine Welt zerbrach. Ich rede hier nicht davon, dass die DDR so toll oder so schlecht war, nein. 16 Jahre lang kannte ich nur die Werte, die dieser Staat und die Menschen darin mir beigebracht hatten und plötzlich kam jemand daher und sagte, das ist alles eine große Scheiße, das sind alles Betrüger und Diktatoren und dir ging es ja eh nur schlecht. Woher wollte der Blödmann das wissen? Der hatte in einem anderen System gelebt! Er war nie auch nur einen Schritt in meinen Schuhen gelaufen!“
Andrea trat andächtig lauschend ein paar Schritte zurück und setzte sich ebenfalls, so wie ich, auf das Dach.
„Also was erlaubte er sich. Aber mit ihm kamen noch andere, die das Gleiche erzählten. Und auf einmal war schwarz weiß und weiß schwarz. Nach und nach verlor ich alle meine Freunde. ‚Du bist doch eh nur eine von gestern, eine rote Socke!‘ sagten sie zu mir. Mir konnte keiner einen Fehler an dem System der DDR zeigen. Alle hatten eine bezahlbare Wohnung, zu Essen, einen Job. Klar konnte ich nicht überall in die Welt reisen, aber mir schien tägliches Essen und die Sicherheit zu wissen, was morgen ist wichtiger zu sein. In meiner Lehrzeit wurde es immer schlimmer. Das Fach Staatsbürgerkunde hieß auf einmal Politische Bildung und war genau das Gleiche, nur halt über dieses neue System. Ich wusste von früher, was der Lehrer hören wollte, so erzählte ich dasselbe wieder, nur mit anderen Namen. Keiner sah, wie einsam und verloren ich mich fühlte. War auch nicht weiter verwunderlich, ich lächelte immer. Ja, immer. Nichts schien meine gute Laune zerstören zu können. Ich hatte immer ein aufmunterndes Wort oder einen witzigen Spruch auf den Lippen. Gott, war ich deswegen beliebt.“ Bitterkeit umspülte mich und ließ mich auflachen. „Doch keiner sah mich. Keiner hörte das Weinen, keiner sah die Tränen, die Einsamkeit, den zerstörten Glauben, die Sinnlosigkeit meiner Existenz. All mein bisheriges Wissen war falsch, so sagte man es mir. All meine Gefühle zu den Menschen in meinem bisherigen Leben, die jetzt auf der Straße an mir vorbeiliefen, ja gar die Straßenseite wechselten, waren verschwendet. Treue gab es nicht mehr. Niemand wollte wissen, was ich empfand. Ich trieb Tag für Tag durch eine neue Welt, die mich immer mehr ängstigte. Nichts gab mir mehr Halt. Ich verschwand immer mehr und wurde zu dieser Fratze, die ich den anderen vorspielte. Und irgendwann war ich hohl, vollständig leer. Nichts machte mehr Freude, nichts war von Interesse. Blei war in meinen Gliedern und in meinem Kopf. Es gab nur noch eine Frage zu klären. Wie wollte ich sterben? Dass ich das tun wollte, wusste ich. Was hielt mich denn noch auf dieser Welt? Diese verlogenen, falschen Menschen, denen ich so völlig egal war? Mich liebte niemand. Jeder Atemzug, den ich tat, schmerzte. Jede Umgebung war ein schwarzes Loch, ohne Ende, ohne Ausweg.“
Ich merkte erst, dass mir Tränen über das Gesicht liefen, als Andrea mir ein Taschentuch reichte und sich neben mich setzte.
„Was wollten Sie tun?“ fragte sie schüchtern.
„LKW.“ antwortete ich und trocknete meine Tränen. Ich kann heute nicht mehr sagen warum, aber ich spürte, ich musste noch eine andere Geschichte erzählen. Andrea war noch nicht sicher, noch nicht gerettet.
„Eine Schnellstraße war in der Nähe meines Internates, in welchem ich lernte. Und dort fuhren viele LKWs.“ Ich schwieg kurzzeitig, da ich nicht wusste, wie ich zu Stella kommen sollte.
„Und wie wurden Sie gerettet?“ flüsterte Andrea.
„Oh, ja, das war wirklich eine Rettung! Ein Klassenkamerad, in den ich später sogar ein bisschen verknallt war, sah mich auf der Bank sitzen, als ich mir gerade überlegt hatte, dass jetzt die richtige Zeit ist. Er kam zu mir und fragte mich, wie es mir geht. Ich sah ihn völlig verständnislos an und wollte wissen, was er meinte, es ginge mir gut. Er lachte auf und meinte, niemand könne immer nur lächeln und wiederholte seine Frage.“ wieder schwieg ich, aber diesmal nicht aus taktischen Gründen, sondern weil es mir schwer fiel über alte Wunden zu sprechen, auch wenn sie vernarbt waren.
„Und das hat Sie gerettet? Eine einzige Frage?“ wiederholte Andrea ungläubig.
Ich sah das Mädchen lange an, bevor ich antwortete, denn jetzt würde es sich entscheiden. Wenn ich jetzt einen Fehler machte … Ich schob die Gedanken beiseite und erzählte einfach weiter.
„Ja und nein. Für diesen Moment half es, denn ich begann diese Frage zu beantworten und sobald dieser Damm einmal gebrochen war, konnte nichts mehr meinen Redefluss aufhalten. Doch es half nur bedingt. Die Gedanken kamen wieder. Jedes Mal, wenn etwas schief lief … bei jeder Enttäuschung … Gott, ist das schwer! Es ist so schwer zu beschreiben. Klar gibt es diese Phrasen, alles wird gut, die Zeit heilt alle Wunden und so weiter. Und sie stimmen ja auch, aber in solchen Augenblicken sind es nur Worte. In diesen Momenten trieb mich nur Zerstörungswillen, ich wollte mich zerstören. Mein Leben beenden. Ich dachte an keine Konsequenzen. Nicht an die Menschen, die mit tausend offenen Fragen zurückbleiben würden, mit Trauer, die nicht enden würde. Die anderen waren mir, gelinde gesagt, scheiß egal. Hier ging es um meine Qual, die mein Leben mir bereitete. Hier ging es darum, dass ich mich unsichtbar glaubte, ungewollt, ungebraucht. Ein Nichts. Das ging noch viele Jahre so und dann lernte ich meinen Mann kennen. Manuel.“
‚Gott, mach das mein bester Freund mir vergibt, dass ich seine Geschichte benutze und ihn auch noch als meinen Mann ausgebe!‘ betete ich. Aber mein bester Freund hätte zu banal geklungen und die Nachbarschaft wusste nichts über mein Privatleben. Es lebe das Penthouse.
„Seine kleine Schwester heißt Stella. Sie hat 3 Selbstmordversuche hinter sich. Und das öffnete mir die Augen. Ich sah, wie Manuel litt. Es zerriss ihm das Herz, ihr nicht helfen zu können. Nichts drang zu ihr durch. Sie war genauso gefangen in ihren Endgedanken wie ich. Nur hatte ich das Glück nun die Liebe und Zuneigung zu erfahren, die ich benötigte, um gesund zu werden. Ich ging zu einer Selbsthilfegruppe und begann zu schreiben. Und auf einmal sah ich die Welt. Ja, ja, es klingt total abgedroschen, aber ich sah, dass die Sonne strahlt, dass der Himmel selbst bei Regen wunderschön ist. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, dass seine Umgebung erkundet und alles neu kennenlernt.“
Vorsichtig legte ich meinen Arm um Andrea, und sie ließ es zu.
„Ändria, darf ich dich was fragen?“
„Ja?“
„Wie geht es dir?“

Wir redeten Stunde um Stunde und ich erfuhr von ihrer Welt und hörte ihre Geschichte. Irgendwann gingen wir zu mir ins Penthouse, tranken heißen Tee, kuschelten uns ins Sofa und sprachen weiter.
Andrea kam am nächsten Nachmittag mit zu meiner Selbsthilfegruppe und heute sind wir richtige Freundinnen, trotz des 25 jährigen Altersunterschieds.

Heute hatte ich kurz zum Kaffeetrinken bei ihr Halt gemacht, denn ich hatte noch eine Verabredung.
„Wo willst du dann eigentlich hin?“ fragte Andrea.
„Auf den Südfriedhof. Stella besuchen.“

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