Tua

Die Straßenbahn fuhr langsam unter der Bahnunterführung durch, denn kurz nach der Brücke befand sich eine Haltestelle.

Sie saß in der letzten Reihe am Fenster und das nicht ohne Grund. Seit 4 Wochen fieberte sie jeden Morgen diesem Moment entgegen.
Bevor sie ihn sah, spürte sie seine Anwesenheit. Ihre Blicke würden sich gleich ineinander verflechten…

Arthur sprang wild zwischen seinen Beinen umher, eine erstaunliche Leistung, wenn man bedachte, dass Arthur eine Dackel-Straßen-Promenaden-Mischung war. Der Hund konnte die Erregung seines Menschens spüren. Sie gingen jeden Morgen um dieselbe Zeit Gassi, doch seit vier Wochen nahmen sie den längeren Weg unter der Eisenbahnbrücke entlang. Das war Arthur eigentlich egal, auch wenn es seine Beinchen sehr anstrengte, doch so er konnte mehr Zeit mit ihm verbringen. Und wenn dieses Riesen-Lautmachding weg war, kümmerte er sich ganz liebevoll um ihn, graulte und herzte ihn…

Die Straßenbahn fuhr in die Haltestelle ein. Sie wandte den Kopf und ihre Augen fanden sofort die seinigen. Augenblicklich versanken sie in der Seele des anderen. Starr sahen sie einander an. Ein Meer an Gefühlen überschwemmte sie und machte sie bewegungsunfähig. Kein Lächeln, kein Winken, kein scheinbares Zeichen des Widererkennens konnten sie geben. Klar und rein lag die Seele des anderen vor ihnen, gab ihnen Halt und Leben für einen Tag. Diese Sekunde gestohlenen Glücks, dafür schlugen ihre Herzen im Gleichklang. Unverwundbar und doch vollständig zerbrechlich offenbarten sie einander. Sie fielen tief in die Traumwelt dieses Augenblickes und ließen einander sehen, was sie anderen verwehrten. Ein weiches, warmes Licht schien sie einzuhüllen. Sie glitten in einer Wolkenwelt aufeinander zu und in der Sekunde, in welcher ihre Körper einander zu berühren schienen, fuhr die Straßenbahn an. Die Verbindung zerbrach und das Herz versteinerte augenblicklich bis zum nächsten Tag, bis zum nächsten Treffen.

Arthurs Schritte wurden langsamer, musste er doch zu der schrulligen, alten Dame zurück, bei der er den ganzen Tag verbrachte, bis er ihn abholte. Nun ja, sein Frauchen verwöhnte ihn mit Leckereien, überschüttete ihn mit Streicheleinheiten und Spielsachen, aber an ihn hatte er sein Hundeherz gehängt. Aber wie jeden Tag, würde er, Arthur, brav bei der Frau bleiben und alles über sich ergehen lassen und morgen früh, da gehörte er wieder ihm.
„Oh, da ist ja mein Arthurchen!“ kam die alte Dame langsam auf den jungen Mann und den Hund zu. „Na, du Schelm, war es schön?“ sie fuhr zart durch das wüste Fell und begann leicht den Lieblingspunkt des Hundes hinter dem Ohr zu massieren. „Du willst mal wieder nicht zurück, nicht wahr. Ich versteh dich ja, aber wir beide sind zu alt für diesen Knaben…“ flüsterte sie Arthur zu und zwinkerte ihn verschwörerisch an.
„Ich danke Ihnen, wie wohl jeden Tag.“ wandte sie sich nun mehr an den jungen Mann vor ihr. „Wie wäre es heute mit einem Tee?“ fragte sie nach, obwohl sie wusste, dass er ablehnen würde. Ihm steckte immer noch das letzte Mal in den Knochen, wo sie ihn mit der neuen, jungen Nachbarin verkuppeln wollte. Sie gab im Stillen ja zu, dass es zu plump war, wie sie es versucht hatte. Aber die kleine Brünette war nett und sie beide würden so gut zueinander passen…

Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Den Hund der Nachbarin auszuführen, nur um ihn zu treffen?!
Na ja, so war es nun mal, die eingebrockte Suppe musste sie auslöffeln. Langsam und vorsichtig ging sie auf die Bahnunterführung zu. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Noch konnte sie ihn nicht sehen. In ihre Gedanken vertieft nahm sie die einfahrende Straßenbahn erst wahr, als sie neben ihr mit quietschenden Bremsen hielt. Erschrocken blickte sie auf, genau in seine Augen. Und wie jeden Tag versank die Welt um sie herum.
Das Blau ihrer Iris weitete sich im Erkennen, als die Straßenbahn weiterfuhr.

Eigentlich kam es ihm sehr zupass, dass die Nachbarin der alten Dame unbedingt Arthur ausführen wollte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. So etwas Dummes, was er hier tat. Aber er war schier verzweifelt, er wollte es, nein er musste es tun. Es war keine Einbildung, dafür ging das Ganze schon zu lang. Immer noch besser, als mit der „Nachbarin“ verkuppelt zu werden…
Doch wo war sie?
Seine Augen suchten sie, bis ein bekanntes Prickeln ihn durchlief. Er spürte sie in tiefster Seele. Nun suchte er umso hektischer.
Da war Arthur! Da war…

„Er sitzt auf meinem Platz!“ Arthur schüttelte über die scheinbar durchgedrehte Nachbarin seines Frauchens nur kurz den Kopf und trauerte weiter, dass er heute nicht mit ihm Gassi ging.
Tua begann lauthals ihre Freude in den strahlend blauen Himmel zu lachen.
Der Fremde saß auf ihrem Platz! In der Straßenbahn, auf ihrem Platz!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert