
Bereits im Mutterleib spürte ich, dass ich niemals allein sein würde.
Stets hörte ich gedämpfte Stimmen, welche zu oder mit mir sprachen.
Die lieblichste Stimme war die meiner Mutter. Sie sang und bettete. Bettete zur Göttin, dass ich ein Mädchen werden sollte, damit sie mich nicht, wie ihre vier Söhne zuvor, an die Dämonen verlieren würde.
Die tiefe, dunkle Stimme meines Vaters befahl mir meist harsch der fünfte Junge zu werden, damit er sein Werk als Dämon beenden konnte.
Die teils hellen Stimmen meiner Brüder erzählten, dass sie gern mit mir über die Insel laufen und Wellen reiten wollten, aber natürlich nur, wenn ich kräftig genug wäre und ein Junge.
Die knarzig klingende Stimme meiner Großmutter, die mich bat, ihre Tochter bei meiner Ankunft auf der Welt nicht zu sehr zu peinigen. Die Göttin höchstselbst hatte ihr den Schicksalstraum geschickt, dass meine Mutter bei meiner Geburt qualvoll sterben würde.
Später erzählte man sich, dass der Tag meiner Geburt in Sturm und peitschendem Regen versank. Und mein Vater meinte einst, das Wetter gestaltete sich am Tag meiner Geburt, wie das am Tag meiner Empfängnis.
Stunden um Stunden lag meine Mutter in den Wehen, doch Hilfe erreichte sie nicht, dies verhinderte das schwere Unwetter.
Und so sah ich sie nur ein einziges Mal, als ich in ihre Arme gelegt wurde. Der zarte Kuss, welchen sie mir auf die Stirn hauchte, wurde mein Mal. Ein Feuermal, welches niemals verblasste, in Form ihrer Lippen, gezeugt von ihrer Liebe und Hingabe.
So stürmisch und brachial meine Geburt, so ruhig und gleichtönig verlief mein Leben danach.
Ich und Großmutter besänftigten tagtäglich das Meer, um uns alle mit dem gefangenen Fisch zu stärken und die häuslichen Arbeiten verrichten zu können. Dabei sangen wir alte Weisen und baten die Göttin um ihre Gunst. Und die Göttin gewährte sie uns mit üppigen Fängen und sanften Winden.
Mein Vater und meine Brüder zogen als Dämonen über die Insel und straften einen jeden, der Unrecht tat, entsprechend seinem Vergehen. Ein jeder Mann und eine jede Frau fürchteten und verehrten die Fünf. Sie waren der Garant für Ehrlichkeit und Tugend. Wer aufrecht und ehrbar seiner Wege ging, wusste um ihren Schutz, denn das kleinste Verbrechen ahndeten sie nach strengem Strafregister. Doch auch sie standen nicht über Recht und Gesetz. Auch sie mussten im Laufe der Jahre ihre Missetaten büßen. Nur ward ihre Strafe in meinen Augen größer und härter als das Vergehen. Jede Züchtigung, jede Bestrafung forderte ein Stück ihrer Seele, so dass sie langsam, aber sicher ihrer Menschlichkeit beraubt wurden. So verlernte Vater sein Lachen und sein Lächeln erreichte nicht mehr seine Augen. Sie begannen sich brennend in die Seele des Gegenübers zu bohren und funkelten wild, wenn die Fünf von ihren Vergeltungszügen zurückkehrten.
Deswegen hatte Vater sich einen fünften Jungen gewünscht, um einen Teil seiner Seele zu erretten.
Das Band zwischen uns Geschwistern war jedoch tief und innig. Ein jeder bewahrte den anderen vor Leid und würde sein Leben geben, wenn es notwendig wäre.
Manchmal kamen meine Brüder verletzt von ihren Missionen, dann pflegte ich sie gesund. Selbst Vater schwor auf meine heilenden Hände.
Meine Fähigkeiten waren nicht erlernt, ich hatte einfach das Wissen, was ich tun musste.
Großmutter nahm mich oftmals mit in eines der Dörfer, damit ich dort meine Wunder geschehen lassen konnte, wie sie sagte. Ich wäre ein Geschenk der Göttin und nur meine Milde könnte den Untergang verhindern. Oftmals fragte ich meine Großmutter, was genau dies bedeutet, doch die alte Frau weigerte sich mir zu antworten.
So vergingen die Jahre, plätschernd im Einklang mit den Wundern und Flüchen meiner Familie.
Die Göttin hatte uns huldvoll einen wunderschönen Sonnentag geschenkt und ich tobte mit meinen zwei jüngeren Brüdern durch die seichten Wellen. Als ich meinen Vater erblickte, blieb ich erschrocken stehen.
Seine Kleidung und sein Körper waren voller Blut und selbst von seinem Kinn tropfte der Lebenssaft.
Als Großmutter ihn sah, brach sie bleich zusammen. „Du weißt, du hast uns damit für ewig verdammt?“ schluchzte sie auf. „Die Göttin hat dich gewarnt!“
Mein Vater kam näher: „Dann sei es so!“.
In dieser Nacht erfuhr ich von meinem ältesten Bruder, dass sie einen Bauern bestraft hatten. Er hatte seine Leibeigenen misshandelt, genauso wie seine Frau und seine Kinder. Er peitschte sie nur zum Spaß aus und ließ sie dann, in ihrem Blut liegend, qualvoll sterben. Seinen eigenen Sohn hatte ich einst nicht retten können. Aber eine Strafe sollte er nur erhalten, weil er einen anderen Bauern bestohlen hatte. Mein Vater hatte ihm lediglich die Finger zu brechen, doch auch er kannte den Bauern und dessen Grausamkeiten. Er bestrafte ihn angemessen, indem er ihm das Blut aus dem Leib saugte.
Auch wenn ich die Taten meines Vaters und meiner Brüder niemals verurteilte, dieses Mal wusste ich nicht zu sagen, wer das größere Ungeheuer war.
Mein Vater überlebte diese Nacht nicht, egal was ich versuchte, um ihm zu helfen.
Seine letzten Worte an mich und meine Brüder waren: „Flieht, soweit ihr könnt. Weg von dieser Insel. Es ist nicht mehr viel Zeit!“.
Als wir tränenüberströmt unser Haus verließen, auf der Suche nach unserer Großmutter, spürten wir eine schwere Erschütterung an unseren Füßen.
Großmutter hatte während unserer Totenwache bereits zwei Boote beladen und wartete am Strand auf uns. „Eilt euch Kinder, es ist nicht mehr viel Zeit!“, rief sie uns zu. Wir fünf Kinder nahmen das erste Boot und Großmutter das zweite. Sie sagte, so müsse es sein und wehrte jeden Einspruch ab.
Wir ruderten, so schnell wir konnten. Die Erschütterungen waren auch noch auf dem Meer spürbar und ängstigten uns.
Meine Brüder und ich schworen das Band unserer Seelen mit jedem Atemzug zu verteidigen, auf das es nichts jemals auflösen könne, bis in alle Ewigkeit.
Und als die Welt hinter uns zusammenbrach, sahen wir, einander in den Armen liegend, wie unsere Großmutter sich der Göttin opferte. Ihr Boot, viele Wellen hinter uns, wurde von einer Wolke aus grau-schwarzem Dunst verschlungen. Dieser eigenartige Nebel endete genau dort am Boot und war so heiß, dass es unsere Gesichter versengte und das Meer kochen ließ.
Tage später erreichten wir eine andere Insel. Verfolgt vom Fluch der Taten des Vaters und vielleicht erlöst durch das Opfer der Großmutter strandeten die vier Söhne des Dämonen und eine Tochter der Göttin in einem fernen Land.
Doch unser Schwur blieb beständig. Egal was mit uns in der Ferne geschah, unsere Seelen blieben auf immer verwoben.
Konnte das Atlantis gewesen sein? Naja, es war sicherlich nicht die einzige Insel, die im bekannten Lauf der Menschengeschichte versunken war. Die olivfarbene Haut und das schwarze Haar sowie die Bekleidung sprachen für die Mittelmeerregion.
Doch egal Wann und Wo, das Warum machte dieses Lebens um so vieles fantastischer.
Dieses Leben war der Grund für alle folgenden. Dieses Leben schloss den Seelenpakt, welcher uns fünf noch heute verband.
Doc Nathan nahm mich lächelnd in die Arme.