Verity

„Ihr seid daran schuld, ihr habt ihn getötet!“ Sandra rannte aufgeregt im Raum hin und her. Vor ihr saßen drei Männer und eine Frau, gefesselt und verängstigt, auf dem Boden. Eine Handfeuerwaffe lag gefährlich locker in den Händen der scheinbar verwirrten Frau.
„Betriebsbedingte Kündigung?“ wütend stieß sie die Pistole unter die Nase eines der Männer. Jörgs Kopf federte zurück. Das Entsetzen in seinen Augen wurde von einem erstickten Laut aus dem geknebelten Mund begleitet.
„Jahrelang hat er für euch geschuftet, für dich und Frank!“ die Waffe schwenkte zu Jörgs Nachbarn.
„Jede noch so schlimme Drecksarbeit hat er mit Freuden erledigt! Und wie habt ihr es ihm gedankt? Ihr habt ihn gefeuert! Aber nein, so schlimm ist das ja nicht, er ist ja noch jung und findet auch noch einen neuen Job und andere haben ja auch noch Kinder durchzufüttern, nicht wahr?“ Nun zielte die Mündung auf die Frau.
„Erst verloren wir unser Haus, aber halt ich hatte ja auch einen Job! Das ein Gehalt für die Hypotheken nicht langt, ist ja egal. Andere haben ja Kinder und sind die besten und ältesten Freunde vom Chef, nicht wahr Karlo?“ Die Waffe schwenkt zum dritten anwesenden Mann.
„Aber Verity, nein, es ist alles in Ordnung, Mami hat alles unter Kontrolle!“ scheinbar der Welt entrückt strich Sandra sanft über ihren Bauch, der allerdings völlig flach war. „Ja Verity, Mami hat alles unter Kontrolle!“
Binnen dem Bruchteil einer Sekunde veränderte sich das Verhalten der jungen Frau wieder vollständig.
„Ach ja, andere haben ja Kinder zu ernähren, deswegen dürfen sie in der Firma bleiben! Ihr wusstet es alle! Es war sein größter Wunsch. Der einzige Traum, den wir uns erfüllen wollten! Ihr wusstet alle, dass wir Kinder wollten! Aber da wir ja keine hatten, war das völlig egal! Aber damit habt ihr Verity genauso getötet wie ihren Vater, nicht wahr, mein Kind?“ wieder strich sie sich über den Bauch. „Denn ich konnte ja keine Kinder bekommen, einfach so, auf natürlichem Wege. Und nachdem er arbeitslos war und wir das Haus verloren hatten und Tausende von Schulden, konnten wir kein Kind bekommen. Konnten es nicht bezahlen. Er hat geweint, wusstet ihr das? In meinen Armen geweint und mich um Verzeihung gebeten, weil er nicht Manns genug war … Dabei war ich doch diejenige …“
Sandra ließ sich gegenüber ihren Gefangenen an die Wand sinken. Ihre Arme umschlangen ihren Körper und sie bewegte sich mit einem Singsang vor und zurück.
Keiner wusste mehr wie viel Zeit vergangen war, als Sandra plötzlich aufsprang.
„Und dann stieg er ins Auto und fuhr mit zweihundert Sachen ungebremst gegen die Mauer. Der böse Daddy hat uns allein gelassen, Verity. Und wir müssen es beenden, wir müssen ihn rächen, unseren Daddy. Wieso soll Rache falsch sein, Verity? Sie haben es verdient. Sie sind schuldig, so wie sie hier sitzen. Nur eine kleine Rache, Verity. Versprochen. Immerhin waren sie ja mal Freunde von Daddy und mir. Aber dann haben sie ihn umgebracht. Nein, er hat das nicht gewollt. Sie haben ihm seinen Lebenswillen genommen und er sich dann das Leben. Deswegen sind sie schuldig. Vertrau Mami, Verity.“
Nach einem letzten beruhigenden Streicheln über ihren Bauch ging Sandra zu der Frau.
„Steh auf!“ befahl sie ihr. „Jetzt höre mir genau zu. Sag der Polizei, ich habe nur eine Bedingung und wenn sie die nicht erfüllen, werde ich die Männer in einer Stunde töten. Ist das klar?“ Ein leichtes Nicken bestätigte Sandra. „Gut, ich will meinen Mann zurück, lebend. Und jetzt geh!“ Mit diesen Worten stieß sie die junge Frau zur Tür. Das protestierende Keuchen über die unerfüllbare Bedingung verhallte, als sich die hastig geöffnete Tür wieder schloss.
„Verity, hör auf. Ich habe dir gesagt, du kannst mir vertrauen. Glaub deiner Mami, meine Süße!“
Die Stunde verstrich mit dem beruhigenden Gemurmel Sandras zu ihrem Bauch.
„Steh auf, Jörg. Die Stunde ist vorbei! Ja, Verity, jetzt kommt der letzte Teil der Abrechnung! Stell dich dort ans Fenster, Jörg. Nein, noch etwas weiter rechts, ja mehr zum Stuhl! Noch weiter, ja, so ist es gut. Oder Verity? So, es ist soweit. Der finale Fangschuss! Nein, Jörg, bleib bitte dort stehen, sonst werden dich die Scherben verletzen, wir wollten euch doch nur erschrecken …“ In derselben Sekunde war Sandra an das Fenster getreten, mit der Waffe auf Jörg zielend und zog die Gardinen und Übergardinen beiseite.
„Jetzt werden wir Papa treffen, Ver…“ In diesem Augenblick hallte der Schuss und Sandra sank tödlich getroffen zu Boden.

„Herr Kommissar, dass Sie zu der Beerdigung kommen!“ Jörg stand mit den anderen drei ehemaligen Geiseln vor Sandras Urnengrab, in welchem bereits drei Monate vorher ihr Mann die letzte Ruhe gefunden hatte.
„Ja, ich muss Ihnen nämlich noch etwas mitteilen. Nun ja, eigentlich dürfte ich es nicht, aber …“ ein Schulterzucken schien als Begründung zu reichen. „Wissen Sie, so etwas ist immer traurig. Sie sagten ja, dass Sandra immer von einer Verity erzählte. Nun ja, wie sage ich es am besten. Sie war tatsächlich schwanger, im vierten Monat und es war ein Mädchen.“

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