„Kannst du mir mal bitte sagen, wer dir das Gehirn weggefressen hat, so einen Krawall zu veranstalten?“, schon nach den ersten beiden Worten von Magnus ging der Rest seiner wohlformulierten und für ihn klar ausgesprochenen Worte im Gekreische der Bauarbeiter unter. „Ich bin extra in dieses Haus gezogen, weil Finanzbeamte so wundervoll leise sind und du gehst mir jetzt schon seit 3 Wochen mit deinem falschen Gesinge und Gehämmere auf den Sack!“
Magnus sprach einfach weiter und ließ sich auch nicht von den immer höher werdenden Stimmen und fallengelassenen Bierflaschen und Werkzeugen aus der Ruhe bringen.
Die Bauarbeiten an der Fassade des Finanzamtes hatten Magnus veranlasst, sein Zimmerfenster zu öffnen, auf dieses Gerüst zu klettern und mit diesen ungehobelten und lärmenden Bauarbeitern Tacheles zu reden. Natürlich hätte er auch lediglich aus seinem Zimmerfenster brüllen können, aber er war nun einmal ein Verfechter guter Manieren. Eine Aussprache gehörte sich von Mann zu Mann, Auge in Auge.
Nach 2, 3 weiteren Minuten Gekreische rannten circa die Hälfte der Bauarbeiter vom Gerüst, andere wiederum sprangen hinunter.
Nun ja, es war die zweite Etage, da gab es nur ein paar Verstauchungen oder Knochenbrüche.
Dieses lärmende Etwas, dass die Männer immer Radio nannten, warf Magnus noch hinterher.
Auch wenn dieses Ding einen der Bauarbeiter am Kopf traf, war es danach wenigstens ruhig.
„Tschuldigung!“, rief Magnus dem Getroffenen zu. Der hatte aber vermutlich mehr Schmerzen wegen seiner gebrochenen Beine. Wer sollte nur diese Blutflecke aus der Hose bekommen?
Es war ein amüsanter Anblick, wie der Angesprochene mit seinen offenen Beinbrüchen versuchte aufzustehen und wegzulaufen.
Nach so viel Anstrengung schleppte Magnus sich zu seinem Zimmerfenster zurück und versuchte, mühsam zurück in sein kleines Reich zu klettern.
Ein längst vergessener Raum, der aufgrund der geringen Größe nicht einmal mehr als Abstellraum genutzt wurde.
Magnus liebte sein kleines Reich. Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hatte er es sich gemütlich eingerichtet. Ein Bett aus gegerbten Tierfellen, eine kleine Nische um sein Essen zuzubereiten und eine Ecke voller Bücher, die er gefunden hatte.
Ein paar Stunden Schlaf wollte er sich noch gönnen, bevor er sich in den dritten Stock begeben würde, um mit den Hausgeistern Karten zu spielen. Bridge war dieser Tage sehr angesagt…
Während er so nachgrübelte, stolperte Magnus und fiel äußerst unsanft der Länge nach auf den Fußboden. Erbost wandte er sich um, um den Grund seines Sturzes auszumachen.
Er war über seinen Unterkieferknochen gestolpert, welcher ihm beim Rausklettern auf das Gerüst mal wieder herausgefallen sein musste. Deswegen hatten diese Kretins so gekreischt, sie hatten seine wohlfeil formulierte Ansprache einfach nicht verstehen können!
Seufzend fädelte Magnus den Knochen wieder ein und hängte ihn in sein Gelenk. Wenn er ein wenig geschlafen hatte, würde er die Kiefer mit Draht aneinander befestigen. Immerhin war das nun schon das dritte Mal diese Woche, dass der Unterkiefer herausgefallen war.
Er kannte da eine Geschichte von einem, der den Unterkiefer nicht wieder befestigt hatte. Das hatte kein schönes Ende genommen! Aber die Geschichte mit dem Gartenhäcksler würde er dann beim Kartenspiel zum Besten geben. So blutrünstige Geschichten lenkten die Hausgeister immer so schön ab, außer die halbseidene Dame…
Erneut seufzte Magnus, die halbseidene Dame…
Er betete die Wände an, durch welche sie hindurchschwebte…
Vorsichtig gähnend schüttelte Magnus seine Kissen auf und legte sich in sein kuschliges Bett.
„Also nein, wie können die nur so etwas festlegen!“, kreischte eine weibliche Stimme direkt vor der Zimmertür von Magnus auf. „Das geht doch nicht, die spinnen doch, die da oben!“
Die in ihrer Höhe an kreischende Eisenbahnbremsen erinnernde Stimme der unbekannten Frau überschlug sich fast in ihren Tiraden über die Typen in Chemnitz, Dresden und Berlin. Alles wäre so schrecklich und Nerv tötend und überhaupt hätten die Obrigen keine Ahnung von der Basis und davon wohl eine ganze Menge…
Magnus öffnete leicht genervt ein Augenlid, stopfte sich ein bisschen Fuchspelz in die Ohren, da er wusste, was als Nächstes folgte.
Eine Sekunde, nachdem er den Sitz seiner Ohrstöpsel überprüft hatte, begann seine Eingangstür zu vereisen und ein leises Geheul erhob sich.
Die weiter zeternde Frau war aber noch derart in ihrem Redefluss versunken, dass sie dies alles nicht bemerkte.
Das Geheul im Gang vor Magnus Zimmer wurde lauter. Es klang selbst ihm fast unheimlich und er kannte diese Prozedur nun bereits weit mehr als hundert Jahre.
Die kreischenden Eisenbahnbremsen verstummten und ebenso das Geheul, jedoch vereisten nun auch die Wände, welche zum Gang führten.
Ein dumpfes „Buh“ grollte durch die Tür und ein markerschütternder Schrei hallte durch die umliegenden Räume. Dann folgten weiteres Geschrei und trampelnde Füße, die sich eilig entfernten.
Das Kichern von Graf Obenher erklang im Gang.
Magnus lachte schallend auf. Sicherlich hatte der Graf seinen Kopf durch die Wand gesteckt, „Buh“ gerufen und damit diese Frau vertrieben.
Dankbar für die Beseitigung seiner Ruhestörung kuschelte sich Magnus wieder in sein Bett.
Er würde Graf Obenher heute beim Kartenspiel ein, zwei kleine Betrügereien durchgehen lassen. Der Vater seiner halbseidenen Dame glaubte fest, dass Magnus die Schummeleien nicht bemerkte.
Wenn der Graf wüsste…
Als die zwei Wachhunde des Gebäudes, äußerst geschmeidige Dobermänner, begannen erbost zu Bellen, wusste Magnus, es war Zeit zu Erwachen. Binnen weniger Sekunden wurde aus dem wütenden Bellen der Hunde ein furchtsames, markerschütterndes Jaulen. Entgegen der allgemeinen Annahme begann die Geisterstunde an Halloween nicht erst Mitternacht, sondern währte vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Anbruch des nächsten Morgens.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster bestätigte Magnus die abendliche Stunde, denn leichter Nebel zog über den dunklen Innenhof. Die Nacht sollte sternenklar bei zunehmendem Mond werden, ideal für den Übergang vom Diesseits ins Jenseits und umgekehrt…
Die Hausgeister und Magnus hatten sich darauf geeinigt, ihre Kartenspiele im größten Raum der dritten Etage abzuhalten, welcher auch über einen großen Rundtisch verfügte und genügend Stühle für alle Teilnehmer. Der Vorteil war, dass Magnus, welcher nicht so gut zu Fuß war, den Fahrstuhl nehmen konnte, sofern dieser funktionierte. Danach war es nur noch ein kurzer Gang von wenigen Metern, den Magnus entlangschlurfen musste.
Der originäre Inhaber des Zimmers verschloss seinen Raum zwar immer äußerst korrekt, aber Magnus hatte sich vor vielen Jahren einen Schlüssel besorgen können, welcher alle Türen öffnete.
Natürlich war Magnus auch ein kleiner Schelm. So verdrehte er gern diese komischen viereckigen Dinger auf dem Schreibtisch, versteckte diese schmalen dünnen Sachen, die Stifte genannt wurden oder zog Stecker aus diesen langen weißen Leisten. Die halbseidene Dame ließ auch ab und an mal eine dieser Grünpflanzen eingehen, welche diesen riesigen Raum zierten. Sie ging einfach hindurch, so vereisten diese und gingen letztlich ein.
Am allerliebsten verstellte Magnus aber den Bürostuhl. Er träumte dann immer, wie alle Befragten sagten, keiner von ihnen wäre in diesem Raum gewesen und der Besitzer dieses Zimmers dies dann natürlich nicht glaubte…
„Clothilde!“, rief der Graf Obenher äußert erregt.
Die Wände und Türen des Zimmers waren nicht mehr vereist, also waren Graf Obenher und seine Tochter, die halbseidene Dame Clothilde, schon eine Weile im Raum.
„Mein Herr Vater, Ihr wisst, ich mag Magnus sehr, aber eine Liaison mit ihm eingehen ist aufgrund unserer unterschiedlichen Situation nun einmal unmöglich!“, antwortete die Grafentochter nicht minder erregt.
„Da hast du schon mal einen ehrenwerten Galan, keinen der nur Unzucht mit dir treiben möchte, und dann lehnst du ihn ab?“, Graf Obenher war fassungslos. „Der letzte deiner Bewunderer hat uns schließlich das hier eingebrockt, dieser Wüstling!“
Ein jeder der Hausgeister und ebenfalls Magnus kannte die Geschichte um den Tod der beiden Adligen.
Die Grafentochter Clothilde war der Männerwelt nicht ganz abgeneigt, was an sich ein Affront gewesen wäre, wenn sie nicht trotz allem eine gewisse Grenze, einen Grad an Schicklichkeit eingehalten hätte. Sie ließ ihre Bewunderer nur ein klein wenig zudringlich werden, um etwas Würze in ihr eintöniges Leben zu bringen.
Als wunderschöne Tochter eines reichen Grafen war sie allerdings auch ein gefundenes Opferlamm für Mitgiftjäger und halbseidene Galane, was ihr auch ihren Beinamen als halbseidene Dame einbrachte.
Eines Abends, es war ein prunkvoller Maskenball, war wieder so ein Wüstling hinter den Röcken der Grafentochter her. Er war regelrecht berüchtigt dafür, junge gesellschaftsfähige Damen in den Ruin getrieben zu haben. Clothilde glaubte zwar mit ihrer Schönheit und ihrem Reichtum diesen Kretin bekehren zu können, doch das Schicksal wollte es anders.
Ein Blutvollmond zierte den verdüsterten Himmel. Eine Wolke aus Kohlenqualm und Nebel durchzog die gaslichtbeleuchteten Straßen. Die Straßenkatzen liefen fauchend, fast knurrend, mit gesträubten Fell, durch die Dunkelheit. Hunde bellten hektisch oder jaulten angsterfüllt. Abgebrannter Weihrauch und allerlei andere Kräuterdüfte schwebten zwischen den Häusern entlang, um das Böse und dessen Untertanen fernzuhalten.
Dieser eine, besonders zügellose, Verehrer drängte Clothilde nach einem Tanz aus dem Ballsaal und begann zudringlich zu werden, weit über die Schicklichkeitsgrenzen hinaus. Die junge Dame, welche die Gefahr erkannte, versuchte sich loszureißen und zu fliehen. Sie blieb jedoch in den Säumen ihrer Röcke hängen und stürzte die Treppe hinab, an deren Absatz die zwei gestanden hatten.
Graf Obenher, welcher vom anderen Ende des Ballsaales das Entschwinden der beiden bemerkte, kam zu spät um den Sturz der Tochter zu verhindern. Als er den leblosen Körper seines geliebten Kindes in der Lache ihres eigenen Blutes sah und bemerkte, dass der Übeltäter versuchte zu entschwinden, verfolgte er diesen blind vor Wut und Jähzorn.
Allerdings bewies wenige Straßen weiter die Wissenschaft dem Grafen, das der Körper eines durchtrainierten, jungen Mannes auch sehr zerbrechlich sein konnte, vor allem wenn er direkt auf ein Pferdefuhrwerk in voller Fahrt traf…
Gebeugt vor Scham und Trauer zog der Graf sich in sein Stadthaus zurück und verstarb wenige Wochen nach seiner Tochter, wohl an gebrochenem Herzen.
Magnus war von der ersten Sekunde, als er Clothilde sah, ihr zutiefst zugetan. Es dauerte ihn, dass er damals, vor 150 Jahren auf den Tag genau, zu langsam war, um die stürzende Maid aufzufangen. Nun ja, aber so war sie in ihrem wundervollen jugendlichen Körper als Geist gefangen…
Da Magnus nicht viel von Dingen wie Lauschen hielt, öffnete er die Tür zum Kartenzimmer, hinter welcher er die Stimmen des Grafens und seiner Tochter vernommen hatte.
„Meine Antwort kann auch mein lieber Magnus hören!“, hob Clothilde an. „Natürlich bin ich euch zugetan, mein Lieber!“
Der Angesprochene blieb stehen und schaute den wunderschönen Geist an, welchem seit vielen Jahrzehnten sein erkaltetes Herz gehörte.
„Und wenn es einen Weg gäbe, wäre ich sofort die Eure. Doch Herr Vater, wir sind Geister und Magnus ist und bleibt nun mal ein Zombie!“, aufschluchzend schwebte die Holde durch die Wand und entschwand in der Weite des Leihhauses.
Vorgaben:
- Schwarzhumoriger Gruselgeschichte, passend zu Halloween
- Handlungsort: Finanzamt
- In einem bisher für leerstehend gehaltenen Zimmer des FA lebt seit Jahren ein Zombie, der nun das erste Mal vor die Tür tritt….
Ein Gedanke zu „Von Tagschlaf und Nachtschatten“
👍😊👍