Wakanda

‚Man fühlt sich so klein, so unbedeutend.‘
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Weder von dem weichen, grünen Gras, welches meine Beine sanft kitzelte, noch den farbigen Flecken, welche die verschiedensten Heidegräsern beherbergten.
Einen Meter vor mir brach die Klippe steil zum Meer herab. Einen Halbbogen beschreibend, endeten die Klippen scheinbar dreihundert Meter weiter, links von mir gesehen. In der Rundung wurde ein freistehender Felsen sichtbar.
Ein einhundertfünfzig Meter hoher, brauner, massiver Stein, der scheinbar jedweder Gewalt der Natur trotzte. Auf seinem Gipfel blühte Heidegras und bot, durchzogen von vielen kleinen Schluchten, Dutzenden von Möwen Zuflucht.
Wütend, über die Dreistigkeit des Felsens seiner Macht zu widerstehen, schlug das Meer meterhohe Wellen gegen dessen Fuß. Im Bruchteil einer Sekunde wurde aus den blauen Fluten weiße Gicht, welche in den Farben des Regenbogens zu feinsten Wassertröpfchen zerstob.
Hier wurde ich auf die richtige Größe zurückgestutzt. Der Krümel im Universum, der ich eigentlich bin. Meine Sterblichkeit, meine menschliche Zerbrechlichkeit wurden mir bewusst. Ich war nur ein klitzekleines Rädchen in dieser unfassbar großen Welt. Kein Gipfelstürmer, kein Mittelpunkt des Universums, kein unersetzlicher Mensch.
Als ich vor einer Stunde hierherkam, suchte ich nur Ruhe und Beschaulichkeit. Ich wollte über meine Probleme nachdenken, so hieß zumindest mein Alibi. Eigentlich war es das Alleinsein, was ich suchte. Keine gezwungene Unterhaltung, keine vorgeplanten Aktivitäten.
Dieser Urlaub gestaltete sich zu der Katastrophe, welche abzusehen gewesen war. Jeder wollte den Zeitplan einhalten, die seit Wochen ausgewählten Museen und Schlösser besichtigen, shoppen gehen usw..
Doch Zeit für Spontaneität oder gar Erholung war im Vorfeld nicht einkalkuliert worden, also auch nicht zu realisieren.
Ich kann nicht mehr sagen, welcher Eingebung ich folgte, als ich beschloss hierherzukommen, aber sie war gut gewesen.
Bis gerade eben schien es mir unmöglich zu sein, meinen Platz in dieser Welt komplett zu begreifen, den Sinn meiner Existenz zu erfassen, meine Größe zu sehen. Ich hätte auch nie geglaubt, eine Sekunde oder länger in völliger Gedankenleere leben zu können.
Warum war ich früher so blind gewesen? Oder habe ich einfach nicht sehen wollen?
Ein jeder Mensch fühlt, dass er zu etwas Großem geboren wurde, für eine Tat, die ihn unsterblich macht. Doch diese Tat ist so unendlich alltäglich und doch so außergewöhnlich, dass sie ein Wunder darstellt. Fortpflanzung. Dafür leben wir, damit werden wir unsterblich. Das Leben um die Schaffung neuen Lebens ist nur für uns selbst bedeutsam, doch die Geburt der nächsten Generation bleibt das Hauptziel. Simpel, effektiv, logisch.
‚Dafür fährt man tausende Kilometer von zu Hause weg …‘
Eine braungebrannte Hand legte sich sanft auf meine Schulter.
„Ich wusste, dass ich dich hier finde.“ Das lächelnde Gesicht eines gutaussehenden Fremden blickte mich an.
„Sie bringt alle dazu, zu ihr zu kommen und sie zu bewundern! Aber sie gibt auch Antworten auf unsere Fragen.“
„Sie?“ fragte ich verwundert.
„Na sie, Wakanda.“ und seiner Kopfbewegung folgend fiel mein Blick auf den Felsen zurück.
„Sie sagte, dass du heute hier sein würdest.“ fuhr er fort.
„Ich? Was habe ich mit dir zu tun?“
„Sie sagte, Du bist die Liebe meines Lebens.“
Ich begann herzhaft zu lachen und der gutaussehende Fremde stimmte mit ein.
Stunden saßen wir beiden, einander völlig unbekannten Menschen, und erzählten uns von unserem Leben, unserem Leid, unseren Lieben.
Es stellte sich heraus, dass Crowley, so hieß der Mann, gelogen hatte, um mich aufzuheitern. Es gab zwar eine Legende um den Felsen, doch hieß diese nicht, dass Wakanda die Liebe für einen fand.
Er hatte mich einfach schon geraume Zeit beobachtet und meine Traurigkeit hatte ihn gerührt.

In einem Märchen wäre vielleicht ein „und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“ geworden. Doch so war dies nur eine flüchtige Bekanntschaft, die zwei verlorenen Seelen neuen Lebensmut gab.

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