Xara

„Warst du dabei?“ mit wütender, ja gar donnernder Stimme weckte ihr Vater sie, Xara.
Erschrocken blickte sie auf.
Ihr sonst so liebevoller Vater stand mit verschränkten Armen und gespreizten Beinen am Fuße der Partybank, auf welcher sie irgendwann gestern Nacht eingeschlafen war.
Sein Gesicht war so voller Wut, dass sie fast Furcht empfand. Seine sonst so grünblaubraunen Augen erinnerten sie an tosende Meereswellen im tiefsten Sturm, die sie letztens erst im Fernsehen bei einer Reportage gesehen hatte. Das hellbraune Haar mit den durchzogenen grauen Strähnen sah zerfurcht aus, als hätte er sich stundenlang die Haare gerauft.
„Ich … fragte, … warst … du … dabei … ?“ jedes Wort betonte er nun laut brüllend.
‚Wow, davon hatte Mum also immer gesprochen, wenn sie meinte, er könnte richtig sauer werden…‘
Dean trommelte wütend mit den Fingern auf seine Unterarme.
Er hatte Mühe sich zu beherrschen, denn er hatte ihr geschworen ihr Baby zu beschützen! Er hatte es Conny auf dem Sterbebett geschworen und nun schien er auf voller Linie versagt zu haben.
Erst der Unfall und die schwere Verletzung am Knie und nun das!
Sie hatten eine Spur der Verwüstung hinterlassen und Menschen geschädigt. Sie hatten auf sie eingeschlagen wie auf einen Boxsack und die hilflosen, verletzten Menschen liegen lassen wie Abfall.
‚Nein, jeder, aber nicht mein Baby! Nicht unser Baby!‘ Dean betete darum, dass seine 17jährige, völlig verschreckte Tochter Nein sagen würde!

„Dean, Xara hat nicht gelogen! Die Videoaufnahmen beweisen es!“ Jared versuchte seinen Partner zu beruhigen. Sie waren nun seit 1 Woche dabei die Beteiligten an den Überfällen zu ermitteln. Durch die Videoaufnahmen, welche die Beteiligten gemacht hatten, konnte ermittelt werden, dass Xara zwar in der Diskothek war, aber dort auf der Partybank eingeschlafen war.
Sämtliche weitere Videoaufnahmen von Überwachungskameras von Banken, der Verkehrsüberwachung und aller umliegender Gebäude waren nun ausgewertet und Xara war nicht auf einer einzigen zu sehen.
‚Sie bekommt lebenslangen Hausarrest, Conny!‘ Dean war es, als würde er seine Frau bei diesem Gedanken kichern hören.
„Okay, lass uns die Fakten noch mal durchgehen.“ Jared hatte sich in die Ermittlungen verbissen, genauso wie Dean. Immerhin war Xara seine Patentochter und er liebte die kleine Rotzgöre fast wie sein eigenes Kind. „Also, dieser Laden öffnete um 22.30 Uhr. Echt zeitig, für die heutige Zeit, findest du nicht?“ Jared stand an der Tafel, welche er gern Fallbrett nannte. „Also wir sind früher nicht vor 24 Uhr irgendwo eingefallen…“
Dean grinste in sich hinein. Ja, auf seinen Partner war Verlass. Seit 22 Jahren waren sie jetzt Partner und hielten sich gegenseitig den Rücken frei.
Jared Carl war wie ein kleiner Bruder, den er nie hatte. Und als Conny krank wurde und schließlich starb, übernahm er die Lebensführung der Familie Walther und sorgte die ersten Wochen für Dean und Xara.
„Jupp, aber unsere Partys hatten eher eine kleine Rangelei auf dem Rücksitz unserer Autos als Ende und nicht das…“ warf Dean ein und trat ebenfalls an das Ermittlungsbrett.
„Okay, Xara meinte sie und ihre Freunde hätten die Karten kurz vor der Party von einem privaten Kurierdienst geliefert bekommen und wären dann mit einem Bus abgeholt wurden.“
Dean ging zum Stadtplan und begann mit farbigen Nadeln den Weg des Busses zu markieren.
Eine halbe Stunde später waren die Nadeln mit Stricken verbunden, aber es ergab sich jedoch keinerlei sichtbares Muster.
„Naja,“ brummte Jared. „Versuch war´s wert.“
„Weiter im Text!“ knurrte Dean zurück. „Weder die Eintrittskarten noch die Umschläge wiesen irgendwelche Spuren von Drogen auf?“
„Nein, wir haben alle 24 Karten und Umschläge untersuchen lassen. Dieser Drogencocktail, wie im Blut der Kids, war nicht zu finden oder vielleicht auch nicht mehr.“ Jared fuhr mit dem Finger etwas weiter über die Zeitschiene des Ermittlungsbrettes. „22.17 Uhr wurde Xara als Letzte bei euch zu Hause abgeholt und pünktlich 22.28 Uhr erreichten sie den Club. Der Einlass dauerte exakt 2 Minuten. Die 24 gaben ihre Karten ab, bekamen ihren Stempel und ihren Gratis-Drink zum Empfang.“
„Stopp, der Drink!“ warf Dean ein. „Was ist mit dem Drink?“
„Keine Chance, außer Xara haben noch 7 andere das Zeug stehen lassen. Moment, dass musst du dir reinziehen!“ Jared sprang an seinen Schreibtisch und zog nach kurzem Suchen einen zusammengetackerten Stapel Papiere aus dem scheinbaren Aktenchaos. „Libby, Cara, Eliza und Alexander, der 5., haben ihn nicht getrunken, weil sie gerade eine Rotphase haben. Sie nehmen nur rote Lebensmittel und Drinks zu sich. John war das Glas, in welchem der Drink serviert wurde, zu billig und Anatoly glaubte keinen Alkohol zu riechen und ließ ihn deswegen weg.“ Jared warf die Akte lachend zurück auf seinen Schreibtisch.
„Und Xara?“ fragte Dean leise.
Jared sah Dean staunend an, dann begriff er die Frage.
„Alter, du weißt, dass sie wegen ihrer Tabletten keinen Alkohol trinkt!“ versuchte er seinen Partner zu beruhigen.
„Ja Mann, aber sie schlief wie ein Baby, als wir sie fanden!“ Dean hieb wütend mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. „Und verdammt noch mal, sie hatte dasselbe Zeug in ihren Adern, wie alle anderen!“ brüllte er weiter, während er seine Akten vom Schreibtisch fegte.
Jared ließ ihn mit stoischer Miene austoben.
„Fühlst du dich jetzt besser?“ Deans knurrender Laut gab Jared die benötigte Zustimmung, er ging zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. „Alter, ich würde auch lieber jemanden zusammenschlagen oder notfalls abknallen, aber dafür müssen wir erst mal den Mistkerl finden, der dafür verantwortlich ist!“
Es dauerte maximal 10 Sekunden, bevor Dean tief durchatmete und knapp nickte.
„Nenn mich noch mal Alter…“ drohte er Jared leise, was ihm ein kurzes Lachen seines Partners einbrachte.
„Okay, weiter im Text!“ Jared ging zurück zum Brett. „Also, die Kids waren kurz vor 23 Uhr verstreut in der Disco. Einige tanzten, einige tranken, andere aßen etwas. Xara war die einzige, die sich hingesetzt hatte, wegen ihres Knies. Libby machte diese Tonnen an Selfies und knutsche dann mit diesem schwulen Typen. Gott, wo steht bloß der Name von dem Typen…“
„Mark Gareth.“ brummte Dean. Er kannte den Jungen, er kannte alle diese Jugendlichen, die nach ihrem Discobesuch randalierend durch die Straßen gelaufen waren, um alles zu zerstören, was ihnen im Weg stand. Straßenschilder, Autos, Menschen.
Marie Andrews hatte verdammtes Glück gehabt, dass sie so schnell gefunden wurde, sonst wäre sie ihren Verletzungen sogar erlegen.
Wie Furien waren die Täter über Passanten hergefallen. Selbst blutige Hände, die sie sich beim Einschlagen von Scheiben zugezogen hatte, hielten sie in ihrem Wahn nicht auf.
Mindestens 3 Polizisten wurden pro Jugendlichem benötigt, um sie in Gewahrsam zu nehmen und selbst dann schlugen und traten sie noch weiter um sich.
Mark Gareth, Sohn des Oberstaatsanwaltes, hatte sich bei der Festnahme das Bein gebrochen und selbst damit hatte er weiter um sich getreten.
Libby Veerheeven, Tochter des Polizeichefs, hatte aufgeschnittenen Unterarme und jede Menge Blut verloren. Trotz allem kämpfte sie wie ein Berserker weiter.
Dean sah auf die Bilder der Jungen und Mädchen, welche jetzt alle wieder so normal schienen und sich an nichts erinnern konnten.
Die Eltern dieser Kids waren das Who’s Who der Stadt. Alle Eltern, außer ihm selbst.
„Dann gibt es noch den Videofilm von Charlie Mendez. Zuerst tanzen sie, naja, ich würde mal sagen, gemütlich und dann fangen sie an sich gegenseitig die Mandeln mit ihren Zungen abzutasten…“ Jared ging zu seinem Laptop und startete das Video. „Was wirklich erstaunlich ist, hier schau mal. Da siehst du im Hintergrund…“
Dean starte auf den Monitor. „Meinst du das Gefummel? Was ist daran erstaunlich?“
„Nein, nicht das die Typen scheinbar blitzartig von Polka in Lapdance übergehen! Hier schau mal. Ca. nach 6 Minuten, folge dem Licht der Diskokugel. Siehst du?“ Jareds Finger folgte dem langsamen Lichtkegel. Er traf Xara, die gerade einen Schluck aus ihrem noch vollen Wasserglas nehmen wollte. Zuerst traf der Lichtstrahl das Glas und keine halbe Sekunde später kippte sie, wie im Tiefschlaf, auf ihre Partybank.
Das Video blieb noch weitere 4 Sekunden, bevor der Filmer die Richtung wechselte und Xaras Position aus dem Bild verschwand. Deans Tochter rührte sich allerdings in den 4 Sekunden nicht, obwohl sie, inklusive Glas, umgekippt war und dessen Inhalt sich über sie verschüttete.
„Nach Auswertung der Zeitdaten des Videos und der Handyfotos, wurde dieses Bild von Libby knapp 30 Minuten später aufgenommen. Da, achte auf Xara!“
Dean atmete tief ein. Seine Tochter hatte sich nicht einen Millimeter bewegt.
„Und hier Fotos von unseren Kollegen, bevor du in den Club kamst.“
Xara lag in identischer Form da, fast als wäre sie eine Statue.
„Ich hab John darangesetzt. Er meinte, selbst wenn sie sich ihre Liegeposition gemerkt hätte, so exakt kann sich kein Mensch legen! Das bedeutet, sie hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Vandalismus und den Körperverletzungen zu tun!“
Es dauerte ganze 10 Sekunden bevor Dean sich bewegte. Er ries Jared in seine Arme und dankte ihm aus tiefstem Herzen, dass er das für ihr kleines Mädchen getan hatte.
Jared befreite sich aus der Umarmung und grinste frech.
„So Alter und jetzt bekommen wir heraus, warum vor allem unsere Xara so absolut immun gegen dieses Scheißzeug ist!“
„Und alle meine Freunde so durchgedreht sind und wer, verdammte Scheiße noch eins, dahintersteckt!“ knurrte die gerade Genannte auf ihre Krücken gestützt, von der offenen Bürotür.

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