Zu spät

Wie jede Nacht schrecke ich schweißgebadet aus dem Schlaf.
In gestochen scharfen Bilder durchlebe ich den schlimmsten Alptraum und wenn ich wach bin, muss ich mit dessen Folgen leben.
Oh, natürlich liegen in meinem Wohnzimmer, in irgendeiner Schublade, die ganzen Orden und Belobigungsschreiben. Möge dieser Plunder nicht nur verstauben, sondern verrotten.
Ich quäle mich aus dem Bett, nur um festzustellen, dass es wieder nur wenige Stunden Schlaf waren und ich die restliche Nacht vor dem Fernseher mit Zeichentrickfilmen für Kleinkinder verbringen werde. Mehr ertrage momentan ich nicht.
Mein Psychiater meint, es wird mit der Zeit. Mh, Zeit, ich habe gerade verdammt viel davon, während so viele keine mehr haben…

„Ach Eila, du bist es. Warum rufst du von Klaas Apparat aus an? … Ja, wir haben gestern die neuen Telefone installiert… Wie meinst du das, das Display ist schwarz?… Hast du schon versucht zu telefonieren?… Einfach den Hörer abnehmen, dann müsste sich das Display aktivieren… Nein, das ist nicht dumm… Woher sollst du das wissen?… So ein Quatsch, es ist mein Job, das zu wissen… Nein, kein Thema… Ich wünsche dir auch einen schönen Tag, Eila… Danke!“, ich legte den Hörer auf und schmunzelte in mich hinein, aber nicht, weil ich Eila auslachte, sondern weil ich bei meinem ersten Kontakt mit den neuen Telefonapparaten genauso reagiert hatte.
Die Displays der Telefone fielen in eine Art Schlafmodus und wurden komplett schwarz und Eila dachte, der Apparat wäre defekt…
Noch während ich in mich hineingrinste, schwang die Tür auf und mein Kollege und bester Freund Jonas kam auf Arbeit.
Während er beim „Guten Morgen“- wünschen mich kurz ansah, schweifte sein Blick bereits auf seinen Schreibtisch.
Sein sowieso immer gutgelauntes Gesicht begann noch mehr zu strahlen, denn die Thermoskanne Kaffee und die Kaffeesahne standen gut gefüllt auf seinem Tisch.
Der Tag lief ruhig an. Es kamen kaum Anrufe und man konnte länger Liegengebliebenes anfassen und erledigen.
„Hast du die vielen Kleinbusse gesehen?“ fragte ich irgendwann Jonas. „Das war richtig unheimlich.“
Mein bester Freund lachte kurz auf: „Wieso unheimlich?“.
„Naja, sie sahen wie strategisch verteilt aus, selbst auf unserem Parkplatz hatten sie den gleichen Abstand von mehreren Metern…“
„Und was würde die fantasievolle Verschwörungstheoretikerin sagen?“ forderte mich Jonas auf weiterzureden.
„Ähm, naja, ich habe auf den 300 Metern vom Parkplatz bis hierher 14 Kleinbusse mit einem Abstand von ca. 20 Metern gezählt. Alle hatten die unterschiedlichsten Typen und Farben, kamen sonst woher und es war nirgendwo ein Fahrer zu sehen. Allein diese Aufreihung zu einer Linie… Na und, in der Bachstraße, also die zum Bahnhof führt, waren auch noch jede Menge Transporter geparkt. Dort darf aber eigentlich keiner parken, da ist der Wartungsgleisbereich der Straßenbahn, weißt du, dort an der Wendeschlippe.“ Ich redete mich förmlich in Rage, bis das Telefon mal wieder klingelte.
Geometrische Formen waren neben Computern mein Ding. Ich liebte klare Strukturen und erkannte Schemata, die andere übersahen. Daher spielte ich auch gern Strategie- und Kriegsspiele, also nicht wegen der Kämpfe, sondern weil mich die Angriffsmuster faszinierten. Alles musste dort klar geplant und durchstrukturiert sein, um eine reelle Siegchance zu haben. Nun ja, vermutlich hatte Jonas recht, es war eine nur eine verdammte Fantasie…
„Hallo Chef,“, begrüßte ich den Anrufer. „Mh… Ja… Ernsthaft?… Da bin ich aber locker den halben Tag außer Haus… Kann ich wenigstens Jonas mitnehmen?… Ja, aber dann sind wir Mittag wieder da… Chef, Sie wissen doch, sie hört auf ihn und mich mag sie nicht… Echt?… Jupp, wir machen gleich los!… Jo, wir melden uns… Jo, tschüssi und danke Chef!“
„Sag bitte nicht Frau Freienwald!“, stöhnte Jonas los, bevor ich ihm von dem Telefonat erzählen konnte.
Leider hatte genau die Kollegin, die gefühlt jeden Tag nachfragte, wo man ihren PC anschaltete, die Genehmigung zum Homeoffice mit Vollausstattung bekommen. Den Rechner aufstellen und den Drucker anschließen war für sie kein Problem, aber sie benötigte einen Zugang über WLAN und aus schmerzvoller Erfahrung wusste ich, die Frau machte nichts, was ich ihr sagte. Deswegen sollten wir zu ihr nach Hause fahren und das Ganze einrichten. Nun ja, der Chef wollte eigentlich, dass ich allein fahre, aber das würde in einer absoluten Katastrophe enden.
Ich konnte die Technik aufbauen und Jonas würde sich um Frau Freienwald kümmern und ihr dann den WLAN-Zugang erläutern.
„Okay, aber dafür schuldest du mir einen Burger von Fannys!“, maulte Jonas frech grinsend.
Ausgerechnet von Fannys! Ich war auf Diät! Das Ding hatte gefühlt 50 Millionen Kalorien und war so schweinelecker, dass man davon nicht einen Krümmel übrig ließ!
Nun grummelte ich rum. „Dann halt Mittagessen bei Fannys.“
Lachend ließ ich mir mit Jonas unser Mittagessen von Fannys schmecken, auch wenn es erst halb elf war.
Fannys war eine Art Straßengrill mit Überdachung, immer gut besucht und schon längst kein Geheimtipp mehr. Wir hatten Fannys entdeckt, als wir vor vielen Monaten mal auf einem anderen Auswärtstermin waren und kamen seitdem zu jeder passenden Gelegenheit her. Der nach der Chefin Fanny benannte Laden hatte einen gleichnamigen Burger und der war der absolute Renner.
„Ich verstehe nicht, warum sie explizit mich angefordert hat. Ihr Sohn hätte das doch auch alleine hinbekommen.“, kommentierte ich unseren Besuch bei Frau Freienwald, nachdem ich den ersten herzhaften Bissen meines Fanny Burger heruntergeschlungen hatte.
„Mh.“, brummte Jonas vor sich hin kauend.
Mein zweiter Biss war nicht minder herzhaft. „Vor allem hatte er schon alles aufgebaut und musste nur noch das WLAN einrichten…“
„Mh.“, mehr würde ich aus meinem besten Freund wohl während des Essens nicht herausbekommen. Also widmete ich mich meinem Big Spezial Fanny Burger und hörte jetzt schon meine Waage bei der nächsten Besteigung ächzen.
Als Jonas fertig mit essen war, meinte er nur flapsig: „Vielleicht wollte sie ihn mit dir verkuppeln.“
Na bravo, ein riesiger Bissen Big Spezial Fanny Burger kam mir in die falsche Kehle. Das hatte Frau nun davon, wenn sie beim Essen Konversation betreiben wollte!
Einen schweren Hustenanfall und ein großes Glas Wasser später, konnte ich Jonas antworten. „Die Freienwald, die mich sowas von nicht leiden kann, will mich mit ihrem Sohn verkuppeln! Sorry, aber du tickst doch nicht ganz sauber!“
Jonas lachte in sich hinein. „Nun ja, er hat dich auf alle Fälle abgecheckt.“
„Was hat er?“, ich war völlig perplex. Gib mir einen Computer, den verstehe ich, da ist Logik dahinter. Gib mir Formen, die erkenne ich, die haben sichtbare Strukturen. Gib mir einen Mann und ich habe keinen Plan! „Also, er war ja echt süß, um nicht zu sagen heiß und er ist groß genug für mich und ist klug, ist ja Arzt…“, nach einer kurzen Pause, fragte ich Jonas dann leise. „Hat er wirklich?“
Den Verzehr meines restlichen Burgers vergaß ich glatt, als Jonas mir seine Vermutung erklärte. Den restlichen Weg zurück zur Firma verbrachte ich grübelnd.
Vor der Einfahrt zu unserem Parkplatz wurde ich blass. „Halt an!“, rief ich entsetzt.
„Wir sind gleich da.“, antwortete Jonas überrascht.
„Halt an! Sofort!“, schrie ich völlig außer mir. Jonas erschrak, fuhr an die Straßenseite und aktivierte die Warnblinkanlage.
Panisch suchte ich mein Handy in meiner Handtasche und wählte den Notrufnummer der Polizei.
„Hallo… ja… ähm, bitte hören Sie mich bis zu Ende an, egal wie verrückt Ihnen mein Anruf erscheint! Sie müssen den Bahnhof und die umliegenden Straßen absperren und evakuieren… Nein… bitte, hören Sie mir zu… Hallo… hallo… Ja?… Ich wurde zu Ihnen durchgestellt, bitte hören Sie mir zu!… Ich glaube, es ist ein Anschlag auf den Bahnhof und die umliegenden Straßen geplant!… Was? Nein, ich scherze nicht, bitte, Sie müssen mir zuhören… Nein, nicht verbinden…“, ich versuchte die verschiedenen Polizisten am anderen Ende der Leitung von meinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu erzählen, doch diese verbanden mich von einer Dienststelle zur nächsten. Untätige Sekunden verstrichen.
Jonas sah mich entgeistert an. Ich hatte keine Zeit ihm alles zu erklären, so blieb ihm nur, mein Telefonat mitzuhören.
Zwischenzeitlich erklang die Stimme einer Polizistin am anderen Ende, welche mich wenigstens bis zum Schluss anhörte. In ihrer Stimme lagen viele Zweifel, als sie mir Fragen stellte und alles noch einmal abfragte. Doch irgendetwas an meinen Vermutungen ließ sie letztlich einen Streifenwagen ausschicken, um sich der Sache anzunehmen.
Schlag zwölf Uhr mittags endete meine heile Welt der Computer und Formen.
Den ganzen Vormittag waren mir die Kleinbusse und ihre Anordnung nicht aus dem Kopf gegangen und als wir zu Frau Freienwald gefahren waren, hatte ich weitere Transporter auf der anderen Seite des Bahnhofs gesehen. Ebenfalls kerzengerade hintereinander, mit ca. jeweils 20 Meter Abstand, standen sie strategisch gesehen hervorragend positioniert.
Das dies niemand anderem aufgefallen war, blieb mir rätselhaft.
Kurz bevor Jonas nun in den Parkplatz einfahren wollte, konnte ich diesen gut überblicken. Auf diesem Platz herrschte ein ständiger Wechsel bei den parkenden Autos. Von heute Morgen befand sich kein Pkw mehr vor Ort, dafür standen schätzungsweise 10 andere Wagen da. Doch die Kleinbusse standen noch an derselben Stelle. Nicht einer war verschwunden.
„Jonas, fahr bitte zum Parkplatz am Chopinplatz.“, bat ich nun meinen besten Freund. Die Polizistin hatte den Streifenwagen losgeschickt und wir sollten am Chopinplatz auf sie warten.
‚Ich würde echt lieber wegen groben Unfugs verknackt werden, als recht zu haben.‘, schoss mir durch den Kopf.
„Du sag mal, es ist gleich zwölf. Meinst du nicht, dass die Polizisten erstmal Mittag essen?“, versuchte Jonas ein Gespräch in Gang zu bringen, während wir warteten.
Ich schaute auf meine Uhr. Sie tickte dezent vor sich hin und der Sekundenzeiger war nur noch 10 Einheiten vor der zwölf, als eine schwere Explosion unser Auto erschütterte.

Jonas und ich waren aus dem Auto gesprungen und losgerannt. Ein Inferno erwartete uns und trotz allem halfen wir, wo wir konnten.
Jede einzelne Sekunde brannte sich in unsere Erinnerung. Die schreienden Verletzten, die brennende Umgebung, die schwarzen Umrisse ehemaliger Gebäude.
Wir hatten keine Zeit für Entsetzen.
Wir hatten keine Zeit zum Denken.
Sie meinten später, wir hätten Leib und Leben riskiert, um zu helfen. Das mochte für Jonas zutreffen.
Ich rettete nicht die Zahl der Verwundeten, die auf diesem verdammten Belobigungsschreiben stand. Ich hatte die Zahl der Toten zu verantworten. Ich hatte zu spät gehandelt.

2 Gedanken zu „Zu spät

  1. Irgendwann mittendrin dachte ich, das wird doch nicht etwa so ein Liebesdingsbums – alles wird gut – und sie leben glücklich … Dann diese vollkommen unerwartete Wendung. Solche Geschichten liebe ich. Das Ende nicht.

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